17.03.2011

Kollaps ohne Scham

Der Deutsche Bundestag als Fukushima der Politik

Uwe Schaarschmidt
Konzert von Kraftwerk auf der Tour 2009

Am Vormittag des 17. März 2011 kam es im Verdauungssystem der Viszla-Hündin Eddi zum GAU, dem Größten Anzunehmenden Unwohlsein. Während am Bildschirm die FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger ihrer geistigen Unbedarftheit in Sachen Kernenergie freien Lauf ließ, kotzte das Hundchen mir sein Frühstück vor den Sessel. Eklig, aber der Situation zauberhaft gerecht.

Schließlich geht es ja beim Thema Kernspaltung um nicht mehr und nicht weniger als darum, was die Welt im innersten zusammen hält. Der Wichtigkeit dieser Frage geschuldet, müsste die Diskussion also gleichwohl auf ethischer, wie auch auf naturwissenschaftlicher Ebene geführt werden. Dass im Deutschen Bundestag jedoch Juristen und Pädagogen – professionelle Rechtsverdreher und Rechthaber also – fraktionsübergreifend die Mehrheit stellen, ist nicht die beste Voraussetzung für eine wirklich fruchtbringende Diskussion. Partei- und Fraktionsräson, Lobbyismus sowie der Abgeordneten so eigene wie verständliche Instinkt für ihre Karriere in der Politik und danach, tun ein Übriges, um eine Verständigung in dieser überlebenswichtigen Sache im Prinzip unmöglich zu machen. Dabei ist es ganz einfach.

Ich bin von Beruf Kraftwerksmaschinist. Nein, kein Kernkraftwerksmaschinist, Wärmekraftwerksmaschinist. Allerdings ist ein Kernkraftwerk ein 100%iges Wärmekraftwerk und ein Kohle- Öl- oder Gaskraftwerk ist anlagentechnisch einem Kernkraftwerk zu 90% verwandt. Durch mein geschultes energetisches Grundverständnis, gepaart mit einem schnellen Internetzugang, fällt es mir also nicht sonderlich schwer, ansatzweise zu verstehen, was in Japan gerade passiert. Allerdings wäre es nun unpassend, hoch gebildeten Nuklearspezialisten aus 9000 km Entfernung gute Ratschläge erteilen zu wollen. Einer These jedoch ist entschieden entgegenzutreten: Es war NICHT das Erdbeben und es war NICHT der Tsunami, der hier zu einer unkontrollierbaren Situation geführt hat – es war der Mensch, indem er ein Kernkraftwerk an dieser Stelle gebaut hat. Dies war der Fehler. Ein Fehler, der nicht im Betrieb eines Kraftwerkes auftrat, der Fehler war der Bau des Kraftwerkes an sich.

Wenn aber der Mensch dazu neigt, im Vorfeld einen solchen Generalfehler zu machen, wie soll man dann ausschließen, dass er nicht auch während des Betriebes eines Kraftwerkes Fehler macht?

Ich muss gestehen: ich habe in meinem Berufsleben als Kraftwerker nicht einfach nur Fehler gemacht, sondern ich habe bewusst getrickst – und nicht nur einmal. Jeder, der mit komplexen technischen Systemen arbeitet und behauptet, er habe nie getrickst, schwindelt. Gerade sicherheitsrelevante Bereiche fordern Tricksereien regelrecht heraus. Die Gründe für dieses Handeln sind vielfältig. Sie reichen von schlechter Ausbildung, Bequemlichkeit, Schlamperei, Überheblichkeit, falschem Stolz bis hin zu Egoismus und gar äußerem Druck durch Vorgesetzte. Und nun mag sich jeder fragen, ob er selbst gegen derartige Handlungsantriebe gefeit wäre. Es ist dabei übrigens völlig unerheblich, ob man es mit einem technischen System zu tun hat.

Aber bleiben wir beim technischen System. Ich habe in vier konzeptionell, aufgabenmäßig und technisch sehr unterschiedlichen Kraftwerken gearbeitet. Und ich stand zu Beginn IMMER staunend und voller Respekt vor für mich bislang unbekanntem Equipment. Es dauerte jedoch NIE allzu lange, bevor Respekt und Staunen der Gewöhnlichkeit wichen. Man duzte die Technik irgendwann, verkumpelte mit ihr, begann – wie das unter Kumpels üblich ist – über Unzulänglichkeiten hinwegzuschauen. Da so etwas ja unter Kumpels auf Gegenseitigkeit beruht, erwatet man dies dann fataler Weise und wider jeglicher Vernunft auch vom technischen System. Und so ein technisches System – besonders wenn es von Eisen ist – verzeiht in der Tat eine Menge, was wiederum letztendlich zu Überheblichkeit und Egoismus führt – dem Ende jeder Freundschaft. Und kündigt ein technisches System dann folgerichtig die Freundschaft, ist jede Verlässlichkeit dahin. Man erinnere sich an die geistige Konfusion frisch verlassener Ehepartner, welche nur sehr selten und wenn, dann rein zufällig noch rationale Dinge tun. Beim komplexen technischen System ist es ähnlich: einmal außer Rand und Band reagiert es im Gegensatz zum Menschen in sich völlig logisch, folgerichtig und rein naturwissenschaftlich begründet. Chemie und Physik kennen kein richtig und falsch, kein gut und böse, chemische Reaktionen, thermische und mechanische Vorgänge sind in ständiger, auch in ihrer Geschwindigkeit für den Menschen nicht mehr zu erfassender Wechselwirkung. Handlungen, die vor einer Sekunde noch richtig, ja zwingend notwendig waren, sind in der nächsten Sekunde schon furchtbare Fehler. Teilsysteme, welche speziell zur Minimierung oder Ausschaltung von Störgrößen ins System integriert wurden, erweisen sich plötzlich selbst als Störgrößen und führen den Glauben an mehr Sicherheit durch mehr Komplexität ad absurdum: Das System kollabiert und hätte es eine Seele, kollabierte es in großer Zufriedenheit – Scham ist von ihm nicht zu erwarten.

Nein, das ist keine Spekulation – ich habe dies selbst mehr als einmal erlebt. Und die Frage ist – nicht erst jetzt: Darf man Systeme betreiben, deren Kollaps dazu führen kann, dass die Frage, was die Welt im inneren Zusammenhält mit einer ganz kurzen Gegenfrage zu beantworten ist: Welche Welt?

Nein, solche Systeme darf man nicht betreiben. Was jedoch völlig klar ist: man darf die Entscheidung darüber nicht allein der in dieser Hinsicht gegenwärtig mit Abstand inkompetentesten, kurzsichtigsten und beeinflussbarsten Menschengruppe überlassen, die es gibt: Politikern. Wie viel Mehrwertsteuer ich bezahle, wann ich in Rente gehen darf, ob ich für die Benutzung der Autobahn Gebühren zahlen muss – darüber sollen sie gern streiten und abstimmen dürfen. Die Entscheidung, ob in Zukunft menschliches Leben auf der Erde möglich ist oder nicht – diese Entscheidung steht ihnen, bei allem Respekt vor ihrem Mandat, nicht zu. Diese Frage müssen die Menschen selbst richtig beantworten. Wie sie dies anstellen, ist ihrer Kreativität überlassen, bei Strafe ihres Untergangs, denn auch von Angela Merkel ist Scham nicht zu erwarten, schon gar nicht VOR dem Kollaps.