26.05.2011

Fremdwörterbuch bereithalten: Poststrukturalismus reloaded

Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hrsg.): Inventionen 1. Gemeinsam. Prekär. Potentia. Dis-/Konjunktion. Ereignis. Transversalität. Queere Assemblagen; Diaphanes Verlag, Zürich 2011, 280 Seiten, 26,90 EUR

Bernd Hüttner

Irgendwann in den 1990er Jahren verlor die Regulationstheorie ihren Platz als wichtige Befreiungstheorie der undogmatischen Linken an die verschiedenen Lesarten des Neo-Marxismus und den Poststrukturalismus. Der letzte wird vor allem mit Namen wie Foucault, Deleuze, Derrida, Guattari und vielleicht auch mit Judith Butler verbunden. Er dient in den Werken des Postoperaismus von Negri, Hardt und anderen als wichtige Quelle des politischen und philosophischen Denkens. Poststrukturalismus war ein wichtiger Teil der akademischen Debatten der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Er sorgte in der Literaturtheorie, der Geschlechterforschung, in Soziologie, Geschichte und Psychoanalyse für neue Sichtweisen. Er etablierte den Begriff „Diskurs“ als soziologischen Grundbegriff, verfolgte die Dezentrierung des Subjekts, und warf ein Auge auf Mikropolitik und Begehren. Durch den Postoperaismus werden dann neue Begriffe wie affektive Arbeit, Biopolitik und Biomacht eingeführt.

Zentral ist die These, dass der Übergang von einer Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft stattgefundne habe. Basierte die Disziplinargesellschaft noch auf Repression und direkter Unterdrückung, seien die Verhältnisse in den zeitgenössischen modernen Gesellschaften eher als Kontrolle zu beschreiben. In Kontrollgesellschaften „unterdrücken“ und disziplinierten sich die Individuen selbst, eine äußere Instanz sei dafür nicht mehr zwingend nötig.

Die drei im Feld der deutschsprachigen Poststrukturalismus-Diskussion ausgewiesenen HerausgeberInnen der „Inventionen“ wollen nun mit ihrem Buch „der Neuerfindung“ des Poststrukturalismus als „politischer und ästhetischer Theorie“ Raum geben und ihn sogar weiterentwickeln. Sie gehen davon aus, dass der Poststrukturalismus drohe, zerrieben oder akademisch vereinnahmt zu werden. Bislang sei er vor allem an den Rändern subkultureller Milieus und für einige wenige Sektoren der sozialen Bewegungen wichtig gewesen.

Die Herausgeber_innen haben 14 Beiträge zusammengetragen, von denen immer zwei mit einer Einleitung zu einem Mini-Kapitel zusammengefasst werden. Die meisten Texte sind Übersetzungen. Dass einige der üblichen Verdächtigen – wie etwa Antke Engel, Katja Diefenbach, Maurizio Lazzarato, Antonio Negri oder Thomas Seibert – vorkommen, darf nicht weiter verwundern.

Der mit weitem Abstand beste Beitrag stammt von der australischen Forscherin Angela Mitropoulos. Sie beschreibt in ihrem Artikel „Von der Prekarität zum Risikomanagement und darüber hinaus“ wie das klassische Normalarbeitsverhältnis im historischen Verlauf des Kapitalismus eher eine Ausnahme als die Regel darstellt. Die fordistische Unterscheidung zwischen Fabrik- und Freizeit wurde durch die unbezahlte Hausarbeit ermöglicht, der Wohlfahrtsstaat des globalen Nordens vor allem durch den Kolonialismus. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sei seit den späten 50er Jahren durch die Flucht aus der Fabrik, dann durch die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen in den 1970ern und drittens durch die Migrationsbewegungen gekennzeichnet. Die Prekarisierung der Verhältnisse erfolgte von „oben“ und „unten“ gleichzeitig, so Mitropoulos. Von oben durch den Neoliberalismus, der Kontrolle und Zwang wiederherstellen wollte. Von unten durch die Flucht der Subjekte. Die Gegenstrategie gegen die Prekarisierung aller Lebensverhältnisse könne nun nicht in einer Re-Orientierung an fordistischen Mustern liegen, da diese sowohl von oben aufgekündigt,als auch von vielen von unten nicht mehr gewünscht seien.

Viele der anderen Beiträge sind sehr schwer zu verstehen, beinhalten im Übermaß den poststrukturalistischen Jargon. Sätze wie der jetzt willkürlich herausgegriffene „An die soziale Unterwerfung, die den Individuen Rollen, Funktionen und Identitäten zuordnet, koppelt sich die maschinistische Indienstnahme, die sich über die präindivduelle und zugleich über die transindividuelle Dimension der Affekte, Perzeptionen und Wünsche vollzieht“ (Lazzarato, S. 163) kommen sehr oft vor. Die Mehrzahl der Texte sind eine wolkige und nebulös bleibende Exegese und kreisen dann - etwas zugespitzt formuliert - darum, wie der Philosoph Spinoza diesen oder einen anderen Begriff denn nun genau gemeint habe.

Das Buch nützt für das sympathische Vorhaben „Judith Butler goes Ibbenbüren“, wie es kürzlich im Sonderheft zu Geschlecht und Sexualität des prager frühling und der BAG queer der LINKEN vorgeschlagen wurde, nicht wirklich etwas. Im Gegenteil. Es trägt wenig dazu bei, die Verhältnisse im Sinne einer Duchqueerung oder nur einer analytischen Durchdringung im Sinne einer old school-Aufklärung begreifbarer zu machen. Schade. Für Theorie-Junkies ist das Buch vermutlich ein must-have.

Hinweise:

Das dreckige Dutzend - Literaturliste Befreiungstheorien,
http://www.rosalux.de/news/1159/2361/befreiungstheorien-literaturliste.html[1], basierend auf dem Artikel Befreiungstheorien im Elchtest (http://www.linksnet.de/artikel.php?id=319[2]) von Hüttner/Spehr 1998, Update der Literaturliste durch Hüttner 2005

Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html[3]

Eine unsichtbare Geschichte der Arbeit. Interview mit Sergio Bologna, in springerin Heft 1/2007

http://www.springerin.at/dyn/heft.php?id=50&pos=1&textid=1904&lang=de[4]

Stichwort Poststrukturalismus bei wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Poststrukturalismus[5]

Links:

  1. http://www.rosalux.de/news/1159/2361/befreiungstheorien-literaturliste.html
  2. http://www.linksnet.de/artikel.php?id=319
  3. http://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html
  4. http://www.springerin.at/dyn/heft.php?id=50&pos=1&textid=1904&lang=de
  5. http://de.wikipedia.org/wiki/Poststrukturalismus