20.07.2011

Überlegungen zur demokratischen Organisierung in postdemokratischen Verhältnissen

Thomas Lohmeier/Jörg Schindler

“Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar ein apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten. Genau wie das maximalistische Ideal ist auch dieses Modell eine Übertreibung. (...) Ich bin davon überzeugt, daß wir uns dem postdemokratischen Pool immer weiter annähern.”

Colin Crouch, in: Postdemokratie (2008)

Postdemokratische Regime zeichnen sich vielmehr durch ein komplexes und widersprüchliches Nebeneinander von demokratischen und expertogratischen, von staatlichen und privaten, von nationalen und globalen Formen des Regierens aus.
Dirk Jörke, in: Warum “Postdemokratie”?” (2006)
Gesellschaften sind demnach Postdemokratisch, wenn sie so agieren, als ob es das Volk geben könne, als ob die Mehrheit oder jene Wenigen, die sich in der Öffentlichkeit sicht- und hörbar machen, den einheitlichen Willen des Volkes repräsentieren könnten, und als ob es möglich wäre, die Handlungsmacht aller Akteure zu steigern. So kann der demokratische Anspruch, dem Volk die souveräne Herrschaft zu geben, direkt in die postdemokratische Verkehrung führen, wenn er die problematischen Annahmen der Volksherrschaft perpetuiert, ohne ihre Grenzen und Paradoxien zu thematisieren und einer demokratischen Aushandlung zugänglich zu halten. Unter dieser Perspektive wird deutlich, dass es irreführend ist, Postdemokratie nur als Anti-Demokratie oder Demokratie-Defizit zu verstehen. Dieser Begriff kann auch einen Demokratieüberschüss bezeichnen, wenn unter Demokratie die souveräne Machtausübung des Volkes ohne institutionell gesicherte Instanzen der Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle verstanden wird.

Katrin Meyer, in: Kritik der Postdemokratie (2011)

Spricht das alles für eine pragmatische, handwerklich gut gemachte Umsetzung von Organizing, bleibt aus demokratietheoretischer Perspektive doch ein ungeklärter Rest. Bei allem Pragmatismus ist zu klären, aus welchen Gründen sich Beschäftigte überahaupt in Gewerkschaften organisieren und engagieren sollen. Diese zentrale Motivationsfrage lässt ein allzu enges Organizing-Verständnis unbeantwortet.

Klaus Dörre, in: Postdemokratie und Gewerkschaften (2008)


I. Das Gemeinwohl ist kein Freund der Demokratie

Das Ideal der Demokratie, die Volksherrschaft, verweist bereits auf ein Problem: Das Volk wird als ein homogenes gedacht. Auf dieses Homogene, das Gemeine, hat sich Politik zu beziehen. Sie hat sich am “Gemeinwohl” zu orientieren. Hiergegen setzen wir ein Verständnis von Demokratie, das Differenz, Interessengegensätze und Pluralität voraussetzt. Demokratie muss zudem als stetiger Prozess begriffen, jede Entscheidung auch wieder als veränderbar gedacht werden. Der Bezug auf das “Gemeinwohl” oder auch die “Interessen des Volkes” - was nur ein anderer Ausdruck hierfür ist - steht im Widerspruch zu diesem Demokratieverständnis.

These: Die Anrufung des Gemeinwohls und der Interessen des Volkes kann nicht unsere Sache sein.

II. Auch keine Freunde der Demokratie: Versachlichung, Verrechtlichung und Professionalisierung

Real erleben wir gegenwärtig eine Tendenz zur Expertokratie, zur Versachlichung und zur Verrechtlichung politischer Entscheidungen. Entscheidungen werden an so genannte fachliche und juristische Experten delegiert. Auch linke Parteien als staatsnahe Organisationsformen sind dieser doppelten Tendenz der Versachlichung massiv ausgesetzt. Der parlamentarische Regelbetrieb erfordert von ihnen geradezu sowohl die Expertise bei “Sachentscheidungen” als auch die praktische (!) Akzeptanz der Begrenzung der demokratischen Entscheidungsgewalt unter kapitalistischen Bedingungen.

These: Linke Politik setzt dem scheinbaren Zwang zur Expertokratie das normative Argument entgegen, weil es in der politischen Auseinandersetzung kein “richtig” und “falsch”, weil es letztlich nur Argumente gibt, die auf Interessen oder normativen Überzeugungen beruhen. Ihnen den scheinbaren Zwang der Sachlichkeit zu nehmen, das ist Aufgabe linker Aufklärung.

III. Gestern und im Hier und Jetzt: Der Kapitalismus begrenzt die Demokratie

Jenseits der Tendenzen zur Versachlichung und Verrechtlichung wird Demokratie unter den Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie auch durch die Gesetze des Marktes begrenzt. Die bürgerliche Demokratie ist eine Herrschaftsordnung, die durch systematische Privatisierung der Produktionsverhältnisse und durch Naturalisierung ökonomischer Prozesse gekennzeichnet ist. Dies führt dazu, dass sich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten hinter dem Rücken der Menschen vollziehen und sich der bewussten demokratischen Steuerung entziehen. Sie führen zudem zu ungleichem Einfluss: Interessen können nicht mehr gleichberechtigt vertreten werden, wenn sie mit unterschiedlicher ökonomischer Potenz wahrgenommen werden. Diese Tendenz ist übrigens nicht neu.

These: Linke Politik ist sich der Grenzen bewusst, die die kapitalistische Ökonomie ihr setzt. Sie sucht deshalb nach Projekten, die sowohl an soziale Kämpfe anknüpft und die über diese Grenzen hinausweisen.


IV. Demokratie: Mittel und Zweck

Linke Politik hat die Emanzipation von Macht und Herrschaft zum Ziel. Sie ist deshalb auf die Beteiligung der Vielen angewiesen, weil sie mangels Geld und ökonomischer Potenz, die einzige Machtressource der Linken ist. Ohne die Kraft der Vielen ist sie chancenlos, ihre gegen herrschende Interessen gerichtete Politik durchzusetzen. Das Ziel emanzipatorischer Politik ist daher die Übereignung ihrer Anliegen an die Vielen – ein Prozess, der nur partizipativ denkbar ist. Linke Politik muss daher nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in ihrer Form anders sein. Die notwendig andere (neue) Form der Partizipation ist auch der innere Grund für das notwendige Scheitern einer sich als “Avantgarde” o.ä. verstehenden Organisationsform - und zwar unabhängig davon, ob - kurzfristig - damit Erfolge (gesellschaftlich oder auch nur gegen innerorganisatorische Widerstände) erzielt werden. Eine Linke muss sich daher immer auch die Frage stellen, wie ihre Politik unter partizipatorischen Gesichtspunkten organisiert werden kann. Daraus ergibt sich, dass linke Organisationen mehr als bürgerliche Parteien o.ä. darauf angewiesen sind, als demokratische und partizipative Massenorganisation organisiert und strukturiert zu sein. Für eine linke Partei ist ihre demokratische Verfasstheit daher essentiell. Dieses Problem muss “überpersonal”, also strukturell bearbeitet werden.

These: Linke Politik begreift Demokratie als stetigen Prozess und Auseinandersetzung, in den die Vielen, die Menge, die Masse, involviert wird. Daraus erwächst ihre Gegenmacht zur Befreiung, ohne Gefahr zu laufen, sich Autoritär zu transformieren. Die innere Demokratie von Partei und Bewegung ist für Linke daher sowohl Mittel zum Zweck, als auch Selbstzweck.

V. Die Partei demokratisieren ...

Innerparteiliche und innerverbandliche Demokratie ist die Voraussetzung der politischen Demokratie (Abendroth). Insbesondere der Prozess der “Professionalisierung” grenzt aber gerade die eigene Anhängerschaft aus, weil sie nicht über hinreichend Möglichkeiten verfügen, daran teilzunehmen oder die Entscheidungs- und Diskussionsprozesse nachzuvollziehen. Dieses bedingt nämlich geradezu eine professionelle Beschäftigung und hohe politische Bildung. Schließlich spiegelt sich die Erosion der Demokratie in der Erosion der Mitgliederpartei, in deren Folge das Parteileben durch „straffe professionelle Führung“ ersetzt wird. Jedoch kann es im Umkehrschluss nicht um das bloße Einfordern von Basisdemokratie gehen, die häufig nur autoritäre durch eine informelle Herrschaft ersetzt.
Die Partei DIE LINKE muss auf die komplexen Anforderungen reagieren, die aus dem Zwang als staatsnahe Organisation professionell im politischen System zu agieren und aus der Notwendigkeit, sich selbst demokratisch und partizipativ zu verfassen, entsteht. Dazu gehört, dass wichtige Entscheidungen, wie z. B. die Kriterien einer Regierungsbeteiligung (“Haltelinien”) breit diskutiert und beschlossen werden.
Konkrete Vorschläge:
A) Eine demokratische Vitalisierung der Partei erfordert eine politische Vitalisierung der Parteitage: Mandatsträger und Berufspolitiker dürfen keine Parteitagsdelegierten werden.
B) Die Parteitagsdebatte wird in Arbeitsgruppen geführt.
C) Sachfragen werden per Mitglieder-Entscheid oder Web-Abstimmung abgestimmt oder vorbereitet.
D) Personalentscheidungen werden auch in Urabstimmungen oder Vorwahlen getroffen.
E) Verhandlungsbasierte Willensbildungsprozesse werden in den gewählten Gremien intensiviert. Statt auf knappe 51:49-Entscheidungen, wird auf qualifizierte Mehrheiten (80%+x) gesetzt.
F) Zentrale Entscheidungen (Partei- und Wahlprogramme, Kriterien für Koalitionen, etc.) werden breit diskutiert und beschlossen.

VI. … und ein, zwei, drei Partizipationsräume schaffen.

Allerdings sollte die LINKE als Partei als auch Organisationen wie die Gewerkschaften verstärkt zum Zweck der Organisation von Kampagnen oder politischen Aktivitäten parallele, offene, zur Mitarbeit einladende Strukturen einrichten. Zur deren Durchführung könnten finanziell und organisatorisch ausreichend ausgestattete, zugangsoffene Partizipationsräume geschaffen werden, in denen interessierte Mitglieder oder Aktivisten an den verschiedenen Phasen einer
Kampagne oder politischen Aktivität mitwirken können. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um mehr Teilhabe zu ermöglichen. Voraussetzung hierfür ist, dass professionelle ÖffentlichkeitsarbeiterInnen, Funktionäre und PolitikerInnen sich auf eine unterstützende und beratende Rolle zurückziehen. Organisationen können dabei übrigens auf vielfältige Erfahrungen zurückgreifen: Sowohl in den sozialen Bewegungen als auch in den Organizing-Modellen der Gewerkschaften wurden Partizipationsmethoden entwickelt, die Menschen in die Lage versetzen, selbständig aktiv zu werden. Mittels dieser Methoden die Strukturen für partizipative Aktivitäten nutzbar zu machen, wäre ein wichtiger Schritt, um die Partizipation des Einzelnen wenigstens projektbezogen zu ermöglichen.
Konkrete Forderung: Es gilt in linken und fortschrittlichen Organisationen Partizipationsräume zu schaffen, die materiell gut ausgestattet sind und organisatorisch von machtpolitischen Einfluss der jeweiligen Funktionäre unabhängig sind.

Literaturempfehlungen:

Brumlik, Micha; Neoleninismus in der Postdemokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 105-116

Crouch, Colina; Postdemokratie, Frankfurt am Main, 2008

Dörre, Klaus; Postdemokratie und Gewerkschaften, in: Widerspruch 55/08, S. 95-109

Meyer, Kartin; Kritik der Postdemokratie; in: Leviathan 1/2011, S. 21-38

Jörke, Dirk; Warum `Postdemokratie`?`, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/2006, S. 38-46

Lohmeier, Thomas; Inhalt braucht Form; in: Reihe Standpunkt 1/2009 der Rosa-Luxemburg-Stiftung; Veröffentlicht im Web: http://www.rosalux.de/publication/28222/inhalt-braucht-form.html[1] [Aufruf 15.7.2011]

Möller, Kolja / Schindler Jörg; Fünf Vorschläge für eine demokratische Partei, Veröffentlicht im Web: https://www.prager-fruehling-magazin.de/article/427.[2] [Aufruf 15.7.2011]

Links:

  1. http://www.rosalux.de/publication/28222/inhalt-braucht-form.html
  2. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/427.fuenf-vorschlaege-fuer-eine-demokratische-partei.html