raus aus den sackgassen

Vorschläge der Redaktion für europapolitische Handlungsfähigkeit

Die institutionelle Linke in der Europäischen Union steht gegenwärtig ratlos da. Die Sozialdemokratie erlebt eine historische Krise. Die linkssozialistischen Parteien spielen praktisch keine Rolle. Im Gegenzug siegt der Rechtspopulismus in vielen Mitgliedstaaten. Offensichtlich sind die bisherigen europapolitischen Ansätze der europäischen Linken erfolglos: Selbst nach der Krise sitzt der neoliberale Stabilitäts- und Wachstumspakt fest im Sattel. Die EU-Verfassung ist als Verfassungsprojekt gestartet und schließlich nach abschlägigen Volksabstimmungen als Vertrag gelandet. Linke Kritiker_innen der EU-Verfassung und ihre Befürworter_innen sind kläglich gescheitert. Die Sozialdemokratie und die Grünen versprachen sich viel vom Verfas- sungsvertrag, ohne zu berücksichtigen, dass eine Ausrichtung auf „offene Marktwirtschaft“ gegenwärtig in der eigenen Klientel nicht mehrheitsfähig ist. Statt für Veränderungen zu kämpfen (bspw. für die Einführung einer Sozialklausel), beschränkte man sich auf Mauscheleien in der Berufspolitik. Aber auch die Kritiker_innen sind gescheitert. Sie konnten keine progressiven Veränderungen im Vertragswerk bewirken. Noch immer ist die europäische Linke in diesen strategischen Sackgassen gefangen: Die einen reden sich die Realität der europäischen Institutionen schön. Die anderen bewegen sich in einem politischen Kontinuum, das sich von der abstrusen Idee einer Neugründung der EU bis zu Re-Natio- nalisierungsphantasien erstreckt. Entrückt auch die Gewerkschaftslandschaft: Der europäische Gewerkschaftsbund demonstriert für mehr Wachstum statt die neoliberale Ausrichtung der EU-Politik zu attackieren. Diese offensichtliche Handlungsunfähigkeit ist angesichts der zentralen Herausforderungen der europäischen Politik fatal. Erstens ist der neoliberale Euro-Kapitalismus nicht geschwächt, sondern gestärkt aus der Wirtschaftskrise hervorgegangen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist verschärft worden. Geldwertstabilität und das Mantra der Haushaltsdisziplin halten die Europäische Union gegenwärtig zusammen. Die Kehrseite ist die soziale Krise: Sozialabbau, Lohnkürzungen und Prekarisierung. Zweitens erodiert der liberale Konsens. Der Rechtspopulismus pfeift auf menschenrechtliche Standards. Nicolas Sarkozy schiebt die Roma ab. Und die Europäische Union selbst begegnet den Flüchtlingen aus Nordafrika mit paramilitärischen Einheiten. In dieser Situation ist es keine Perspektive sich zum Anhängsel neoliberaler Wettbewerbspolitik zu machen, welche die soziale Krise verschärft. Umgekehrt ist eine Neugründung der EU, wie sie etwa Teile der LINKEN verfechten, strategischer

Wahnsinn: Das Resultat wäre eine Institutionenordnung, die nur noch auf Neoliberalismus und einer gestärkten politischen Rechten beruht, denn das ist das gegenwärtige Kräfteverhältnis in Europa. Es stellt sich also die Frage, wie eine Handlungsstrategie aussehen könnte, die radikal und realistisch ist. Eine Handlungsstrategie, welche eine radi kale Kritik an der neoliberalen Ausrichtung der Binnenmarktintegration popularisiert und gleichzeitig politische Handlungsfähigkeit herstellt. Dazu einige Vorschläge:

1. Stabilitäts- und Wachstumspakt durch einen sozialen Stabilitätspakt ersetzen!

Es ist eine zentrale Aufgabe der europäischen Linken, den Stabilitäts- und Wachstumspakt durch einen sozialen Stabilitätspakt zu ersetzen, der Kriterien des sozialen Ausgleichs in den Mittelpunkt stellt (siehe auch Beitrag von Björn Hacker). Hier kann die Kritik an der neoliberalen Ausrichtung der Binnenmarktintegration direkt mit der Forderung nach einer politischen Alternative verbunden werden.

2. Für eine europäische Verfassungspolitik!

Der Lissaboner Reformvertrag ist eine Realität in der Europäischen Union. Statt sich auf eine nihilistische Strategie zu beschränken, die ähnlich der Grundgesetz-Politik der KPD in den 1950er Jahren wiederholt, dass der Vertrag keine Grundlage ist und Karthago im Übrigen zerstört werden muss, gilt es um eine progressive Nutzung der politischen Spielräume zu ringen. Es geht um Kämpfe um die Anwendung und Interpretation des europäischen Rechts.

3. Europäische Bürgerinitiative: für eine Sozialklausel!

Das neue Vertragswerk der EU sieht die Einführung einer europäischen Bürgerinitiative vor. Sie ist freilich schwach ausgestaltet und muss hohe Hürden nehmen. Trotzdem gilt es, sie von linken Kräften zu besetzen und für gemeinsame Kampagnen zu nutzen. Eine Möglichkeit wäre, sofort eine europäische Kampagne für die Einführung einer Sozialklausel in den Verträgen in die Wege zu leiten und zivilgesellschaftliche Bewegung für solch ein Projekt zu initiieren.

4. Mit dem europäischen recht gegen rassismus und rechtspopulismus!

Die Linke wird sich in den nächsten Jahren darauf einstellen müssen, mit dem europäischen Recht im Rücken gegen die Mitgliedstaaten Politik zu machen. Denn jenseits der Kritik am neoliberalen Konstitutionalismus muss sie den um sich greifenden Rassismus und Rechtspopulismus mit den europäischen Grund- und Menschenrechten konfrontieren. Zugestanden: Eine Strategie gegen Rechts muss natürlich breiter aufgestellt sein. Nicht zuletzt ist die feste Verankerung von rassistischen Ressentiments auch ein Ausdruck der sozialen Krisenphänomene. Trotzdem sollte die Linke in den politischen Institutionen mit dem europäischen Recht Politik machen. Dazu gehört z.B. der Einsatz für Individualklagerechte gegen Mitgliedstaaten, öffentliche Institutionen und private Akteure, welche Grund- und Menschenrechte mit Füßen treten oder dies dulden.