gelebter widerspruch

Anmerkungen zur Geschichte der Dissidenz

Holger Schmidt

Dissidenz ist ein Chamäleon. Kaum ein gesellschaftliches Phänomen ist so schillernd und unbestimmt, so schwer fassbar, wie das der Dissidenz. Ihre Gestalt wandelt sich nicht nur je nach dem gesellschaftlichen und historischen Kontext, in dem sie in Erscheinung tritt, sondern sie vereinigt so heterogene Haltungen und Praktiken, dass sie sich einer Beschreibung oder gar Definition hartnäckig zu verweigern scheint. Das stellt einen vor die schlechte Alternative, entweder den Begriff der Dissidenz so weit zu fassen, dass er die Trennschärfe zu verwandten Phänomen verliert, wie etwa dem der Opposition, des Protests oder des zivilen Ungehorsams, oder aber, ihn willkürlich in eine starre Definition zu pressen, mit der nicht viel geholfen wäre, weil sich mit Definitionen schlecht Politik machen lässt. Weiter führt möglicherweise der Rückblick auf die Geschichte der Dissidenz und deren Problematisierung. Von hier aus lassen sich einige Momente hervorheben, die für eine aktuelle Praxis der Dissidenz von Bedeutung sein könnten. Die ersten als solche bezeichneten Dissidenten waren die Ketzer oder Häretiker, die Irrgläubigen, die sich von der Orthodoxie der katholischen Großkirche abwendeten. Bereits im Spätmittelalter wurde der Vorwurf der Ketzerei auch auf außer-kirchliche „Verbrechen“ oder Abweichungen ausgedehnt: Ketzerei war eine staatsfeindliche Handlung. Als Ketzer oder Dissidenten wurden jene verfolgt, die sich nicht der Autorität von Kirche oder Staat unterwarfen, die den absoluten Gehorsam zurückwiesen, z.B. indem sie das Leisten von Eiden verweigerten. Oder auch jene, die im Widerspruch zu der göttlichen oder staatlichen Ordnung des Mittelalters standen, wie z.B. Homosexuelle oder der Hexerei beschuldigte Frauen. Exkommunikation, Entzug des Eigentums und aller Rechte – so wurden Dissidenten aus der mittelalterlichen Rechtsordnung ausgeschlossen und im eigentlichen Sinne überhaupt erst Dissidenten, nämlich aus der Gesellschaft Ausgestoßene. Dissidenten waren die „Vogelfreien“, jene, die keine weltliche oder religiöse Schutzmacht im Rücken hatten, die von niemanden anerkannt wurden: zum Abschuss freigegeben. Dissidenz markierte die Überschreitung einer politischen, religiösen oder kulturellen Grenzziehung. Die Gründe für dissidentes Verhalten mögen dabei ganz unterschiedlich gewesen sein: Die Unerträglichkeit gesellschaftlicher Zustände, die Empörung über politisches Unrecht, die Weigerung, den von der Gesellschaft vorgezeichneten Weg mitzugehen oder eine Lebenspraxis, die nicht geduldet wurde – in jedem Fall demonstrierte Dissidenz die Unversöhntheit der gesellschaftlichen Widersprüche. An Phänomenen der Dissidenz lassen sich nicht nur die Normen und Ordnungssysteme einer Epoche ablesen, oftmals war es überhaupt erst das Agieren von dissidenten Gruppen, das die verschleierten oder abgeblendeten Widersprüche einer Gesellschaft sichtbar werden ließ.

Wurzel linker Politik und Praxis

In Gesellschaften, in denen dissidente Praktiken erfolgreich unterdrückt oder totgeschwiegen werden konnten, erwachte auch kein politisches Bewusstsein. Im Kern ist Dissidenz immer schon politisch, aber sie radikalisiert sich, sobald erkannt wird, dass die Verfasstheit der Gesellschaft, das ihre Grundstrukturen den eigenen, von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Lebensentwurf blockieren. Insofern ist das Problem der Dissidenz mit dem der Erkenntnis verflochten. Der unmittelbare Anlass für dissidentes Verhalten ist meistens spontan, die Empörung über soziales Unrecht oder ein zunächst diffuses Unbehagen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Ohne dieses spontane Moment ist Dissidenz gar nicht vorstellbar, aber sie bleibt ohnmächtig und instrumentalisierbar, wenn sie sich nicht zu einem politischen Bewusstsein ausweitet. So lassen sich auch unterschiedliche Strategien dissidenter Bewegungen erkennen. In ihrer eigenen Frühphase entwickeln sie häufig ein radikales politisches Bewusstsein, weil sie sich mit keiner gesellschaftlichen Macht verbünden oder identifizieren können. Die abweichende Lebenspraxis wird zum Anlass genommen, die kulturellen und gesellschaftlichen Normen grundsätzlich in Frage zu stellen. Sie zielen darauf ab, diese zu transformieren und andere Formen der Vergesellschaftung praktisch zu erproben – zum Beispiel, indem gesellschaftliche Rollenmodelle als vermachtet kritisiert oder gesellschaftliche Vorstellungen über Sexualität, Subjektivität oder Körperlichkeit problematisiert werden. Dissidenz wird hier zum Maßstab der Kritik an den bestehenden Formen der Vergesellschaftung. Davon lässt sich eine zweite Strategie unterscheiden, die stärker auf gesellschaftliche oder staatliche Anerkennung abhebt, indem sie etwa gegen Diskriminierungen agiert und gleiche Rechte einfordert. Diese Strategie läuft eher darauf hinaus, dass die Dissidenz aufgehoben wird, indem dissidente Lebensweisen als gleichberechtigt anerkannt werden. So berechtigt diese Forderung auch ist, führt sie meistens zu der Zähmung des kritischen Impulses, der gesellschaftliche Strukturen grundsätzlich in Frage stellt und alternative Möglichkeiten der Vergesellschaftung sichtbar macht. Bis ins 20. Jahrhundert zeigte sich die Spaltung der Gesellschaft daran, dass Dissidenten am Rande oder außerhalb der Gesellschaft standen. Die gesellschaftlichen Widersprüche produzierten ständig neue Dissidenzen und damit potentiellen Widerstand. Der Ausschluss dissidenter Gruppen oder Klassen war ein mächtiges Herrschaftsinstrument. Es war die Macht des Souveräns, der Innen und Außen der Gesellschaft, der geduldetes und abweichendes Verhalten definierte. Spätestens im 20. Jahrhundert ist der Kapitalismus viel flexibler und integrationsfähiger geworden. Dissidente Gruppen werden integriert, ihre politische Kraft gezähmt und kanalisiert. Die von dissidenten Bewegungen artikulierten Bedürfnisse werden bereitwillig aufgenommen und kulturindustriell in Regie genommen. In Frage steht aber, ob damit auch die der Dissidenz zugrunde liegenden Widersprüche aufgehoben sind oder ob diese nicht einfach virtuell unsichtbar werden. Die Stabilität und die reibungslose Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse hängt wesentlich davon ab, in welchem Maße es dem Kapitalismus gelingt, weite Bereiche des kulturellen und alltäglichen Lebens als unhinterfragte und unveränderliche Normalität erscheinen zu lassen. Praktische Dissidenz ist daher heute vor allem eine Frage des Wie: Mit welchen Mitteln und Techniken gelingt es, dissidenten Bewegungen diese Normalität in eine kritische Perspektive zu rücken? Wenn Dissidenz mehr als ein leerer Gestus sein will, dann bedarf das der Reflexion auf die eigene Funktion im gesellschaftlichen Betrieb, einer Immunisierung gegen die mächtigen Tendenzen, Dissidenz als modische Subkultur auszuschlachten und zu entpolitisieren. An der Politisierung der Dissidenz führt daher kein Weg vorbei.