18.12.2011

Der Griff nach der Notbremse

Die europäische Linke muss jetzt handeln. Was kann sie tun, um Demokratie und Wohlfahrtsstaat zu verteidigen?

Alban Werner

1. So viel Krise war nie!

Wenn es jemals eine Zeit gab, in der die radikaldemokratischen Alarmglocken der politischen Linken links von Sozialdemokratie und Grünen (»la gauche de gauche«, wie man in Frankreich sagt) zu recht laut geschlagen haben, jetzt ist sie da. Wie Albrecht von Lucke schmittianisch zum Ausdruck gebracht hat, sind nicht mehr die BürgerInnen der Souverän, von dem doch eigentlich die Staatsgewalt ausgehen sollte. Nein, Souverän sind die Finanzmärkte, denn sie entscheiden über den Ausnahmezustand. Und der Ausnahmezustand ist heute auch nicht mehr zu erkennen an Panzern, die proletarische Barrikaden blutig einreißen oder an Bombardements des Präsidentenpalastes. »Counter-Revolution used to come with tanks. Today, it comes with banks« (Darko Suvin). Wenn die Rating-Agenturen den Daumen nach unten senken, dann wird schon mal so eben ein Regierungschef beiseite geschafft, dem alle Generalstreiks, Strafprozesse, internationale öffentliche Empörung und selbst ekelerregende Sex-Skandale nichts anhaben konnten. Dem Kapital ist nicht egal, wer unter ihm regiert.

2. Postdemokratie 2.0

Gerade erst konnten viele Menschen in den Politik zugeneigten sozialen Schichten die Konstellation der vergangenen zwei Jahrzehnte auf einen Begriff bringen – den der Postdemokratie. Damit bezeichnet der britische Wirtschaftssoziologe Colin Crouch eine Situation, in der die Demokratie zwar formal intakt bleibt oder sogar gestärkt wird, allerdings inhaltlich ausgehöhlt wird. Denn die Masse der Menschen hat im Grunde keine Wahl mehr – es macht keinen Unterschied, ob Konservative oder SozialdemokratInnen regieren, weil sie alle ohnehin nur reale oder vermeintliche Sachzwänge des kapitalistischen Weltmarktes als dessen treue Magd in praktische Politik umsetzen. Der neoliberal-kapitalistische Einheitsbrei regiert die Welt mit seinem Rezept einer Deregulierung der Wirtschaft, von Privatisierung öffentlicher Güter und von Sozialversicherungen, Umbau des Sozialstaates zu einem »Wettbewerbsstaat«, der sich zunehmend repressiv und stigmatisierend gegen Unterstützungsbedürftige wendet. So weit, so schlecht. Doch wie uns die Gegenwart aufzeigt, geht es immer noch schlechter. Wir sind, um es mit der Sprache unserer Zeit auszudrücken, in der Postdemokratie 2.0 angekommen.

3. Wo Recht das Kapital beschränkt, wird Unrecht zur Pflicht

Inzwischen wird auch vor Recht und Gesetz kein Halt mehr gemacht. Selbst die formale Struktur der Demokratie – von manchen linksradikalen KritikerInnen schon immer als bloße Fassade kapitalistischer Klassenherrschaft entlarvt – muss und darf jetzt beiseitegeschoben werden, wenn es daran geht, die Souveränität der Finanzmärkte durchzusetzen. Wie schrieb schon Marx im »Kapital«: Wo Recht gegen Recht steht, entscheidet die Gewalt. Sie entscheidet sich jetzt dazu, lächerlich gewordene, aber zumindest mit einem Mandat ihrer Wählerschaft ausgestattete Regierungen auszuwechseln gegen die Marionetten von Merkozy, um das Drehbuch des radikalen Staats- und Demokratieumbaus Satz für Satz durchzusetzen. Und das Drehbuch sagt: »Deregulierung der Wirtschaft, Privatisierung von öffentlichen Gütern und Sozialversicherungen, Umbau des Sozialstaates zu einem ‚Wettbewerbsstaat‘, der sich zunehmend repressiv und stigmatisierend gegen Unterstützungsbedürftige wendet«. Kommt uns das nicht bekannt vor?

4. Wo bleibt die europäische Linke?

Doch was tut die europäische Linke? Wo ist sie? Man sieht sie nicht, man hört sie nicht. Dabei wäre nichts dringender, als dass man sie sieht und hört. Niemals war eine starke, anti-neoliberale Allianz dringender als jetzt. Niemals wurde mit mehr Recht behauptet, dass ein »ein Weiter so« die Katastrophe ist – die soziale Katastrophe für Millionen von Menschen, die jetzt schon begonnen hat. Von den Hoffnungsschimmern der Bewegungen wie »Occupy« oder den »Empörten« alleine darf sich die partei- und gewerkschaftspolitisch organisierte Linke nicht zu viel erhoffen. Es ist gut, dass es »Occupy« gibt – aber sie haben bei weitem nicht die politische Durchschlagskraft entwickelt wie ihr reaktionäres Gegenstück, die Tea Party. Und außerhalb der USA werden sie es auch nicht schaffen, weil ihnen überall sonst die Voraussetzungen des amerikanischen Parteiensystems fehlen, in dem auch ein Halbverrückter wie Ron Paul es zum anerkannten Berufspolitiker mit einer organisierten Basis bringen kann. Nein, in Europa muss das organisatorische Gerüst eines anti-neoliberalen Widerstandes von der partei- und gewerkschaftspolitisch formierten Linken kommen. Die Gegen-Hegemonie entsteht in der Fabrik, in den Büros und Betrieben, nicht auf den Zeltplätzen.

5. Brüning reloaded - europaweit

Mit den Beschlüssen des EU-Rates in der zweiten Dezemberwoche soll der Neoliberalismus in allen Mitgliedstaaten Verfassungsrang erhalten. Wenn Merkel und Sarkozy sich damit durchsetzen, drohen dunkle Jahrzehnte. Das dumme Gewäsch um Haushaltskonsolidierung haben wir lange durchschaut – Schuldenbremsen dienen in Wahrheit zur Kastration der Wirtschaftspolitik. Sie unterbinden die Möglichkeit, Vollbeschäftigung durch gute Arbeit für alle durchzusetzen, selbst wenn es dem Kapital nicht schmeckt. Übrig bleibt allein der Brühning’sche Weg des Kürzens, bis es überall quietscht und kracht. Es ist kein neuer Faschismus, der uns dann droht – jede marxistische Analyse verbietet eine solche Analogie. Aber der innere Zerfall der Gesellschaften mit massiver Ghettoisierung, dauerhaftem Ausschluss ganzer Bevölkerungsteile, deutlich zunehmender Kriminalität und einer Polarisierung von arm und reich, wie wir sie bislang nur von Bananenrepubliken kennen – all das ist kein hysterisches Schreckensszenario mehr, sondern steht schon in Umrissen vor der Tür.

6. Die Rezepte haben wir, was uns fehlt, ist das Volk

Noch nie so richtig war die von Linken oft gerne benutzte Vokabel des Scheidewegs. Heute heißt sie: Keynesianismus oder Barbarei. Die Linke links von Sozialdemokratie und Grünen ist jetzt tatsächlich die einzige Kraft, die über ein politisches Programm verfügt, das die absehbare Spirale von autoritärer Austerität, sinkendem Wachstum, mehr Armut, noch höheren Schulden, noch mehr Austerität, noch mehr Armut, noch weniger Wachstum usw. stoppen kann. Sie hat bislang das große Problem: sie kommt oft nicht vor. Die bundesdeutschen Medien üben sich in einer phänomenal konsequenten, geradezu kriminellen Ignoranz und Dummheit gegenüber den politischen Vorschlägen, die nicht in ihr freiwillig neoliberal gleichgeschaltetes Weltbild passen. Dabei ist das einzige, was jetzt helfen kann, ein öko-sozialer Keynesianismus 2.0, und zwar nicht zu knapp. Ökologisch muss das Programm der Linken sein, weil in den »grünen« Sektoren noch erhebliche Wachstumspotentiale stecken. Sozial muss er sein, weil es an vielen Dienstleistungen für die Menschen fehlt, die für PrivatanbieterInnen nicht profitabel sind und für Geringverdienende nicht bezahlbar sind; weil es massive Sofortprogramme zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit bei jungen älteren Menschen braucht; und: sozial muss er auch sein, weil die Postdemokratie nur noch dann zu überwinden ist, wenn die überall fiskalisch notwendigen Investitionsprogramme sich bei den sozial Benachteiligten positiv niederschlagen, die bislang faktisch von der Politik aufgegeben und gedemütigt worden sind.

7. The Revolution will not tweeted – jetzt nach der Notbremse greifen!

Die Grünen haben nicht den Rückhalt und die Sozialdemokratie weder das Rückgrat, noch das intellektuelle Rüstzeug, um die Rettung, nein, die Rückholung der Demokratie anzustoßen. Sigmar Gabriel und Cem Özdemir streben keine wirkliche Alternative zu Angela Merkel an, sondern nur eine Austerität[1] »mit menschlichem Antlitz«. Diesen Soundtrack kennen wir schon zu genüge. Der wichtigste Hinweis kommt vom »gefährlichsten Mann Europas«, Oskar Lafontaine, und von Jean-Luc Mélénchon, dem Präsidentschaftskandidaten der französischen Linksfront. Sie fordern eine Volksabstimmung zu den EU-Verträgen, deren schlechte wirtschaftspolitische Ordnungsbestimmungen dank Merkozy auf dem Weg zwischenstaatlicher Verträge weiter verschlechtert werden sollen – natürlich ohne Befragung des Pöbels, versteht sich.

Die beiden haben völlig recht: Die Menschen in Europa sind zusammengebunden, ob sie wollen oder nicht. Sie sollten gemeinsam die Wahl haben – nicht nur bei der Wahl des ohnehin viel zu schwachen Europäischen Parlaments. Doch Merkozy wollte noch nicht einmal die griechische Bevölkerung zwischen Pest und Cholera abstimmen lassen. Erst recht werden sie keine Abstimmung über wirkliche Alternativen dulden.

Deswegen hilft nur eins: die europäische anti-neoliberale Linke muss das Recht an sich reißen, die BürgerInnen Europas wieder zum Souverän zu machen, und sei es nur symbolisch. Alle anti-neoliberalen Gewerkschaften und Parteien könnten ein »wildes Referendum« ausrufen, wie der Linksblock vor zwei Jahren in Frankreich gegen Privatisierungspläne zur staatlichen Post. Die BürgerInnen der EU würden alle für den gleichen Tag zur Abstimmung aufgerufen, alle zur gleichen, wirklich politischen Entscheidungsfrage: Wollt Ihr weiter das Austeritätsregime von Sarkozy und Merkel? Oder wollt Ihr die Alternative der Linken, namentlich einen öko-sozialen Keynesianismus plus (Re)Demokratisierung?

Wenn alle linken Formationen von Portugal bis Griechenland mit diesem Angebot an die Menschen gehen, können ihre Inhalte nicht mehr einfach ignoriert werden. Die sterile Forderungslosigkeit der »Occupy-Bewegung« würde ebenso überwunden wie das deprimierende Sprechmonopol des Neoliberalismus und seiner weichgespülten Scheinalternativen. Wenn linke Formationen mit einem Programm um die Köpfe und Herzen der Menschen kämpfen, um sie zu mobilisieren, haben sie wenig Zeit, sich um Nichtigkeiten zu streiten oder zu spalten. Plakate müssen (legal oder klandestin) aufgehängt, Flugblätter verteilt, Infostände besetzt, Wahllokale eingerichtet und alle BürgerInnen benachrichtigt wählen. Gegen die zu erwartenden Diffamierungen der bürgerlichen Presse muss sich gemeinsam zur Wehr gesetzt werden. Unnötig zu sagen, dass eine Linke, die ihren Namen verdient, auch alle hier lebenden MigrantInnen mit abstimmen lässt.

Dass ein »wildes Referendum« nicht verbindlich ist, ist kein Argument – denn dass selbstz Generalstreiks in den einzelnen Ländern es alleine nicht bringen, hat sich schon gezeigt.

Mein Vorschlag ist bestimmt nicht der Bestmögliche dafür, was die Linke tun könnte. Aber zumindest bringt er sie europaweit an einen Tisch. Wenn die europäische Linke es nicht schafft, sich auf ein Programm zu einigen und die Rettung der Demokratie in Gang zu bringen, kann sie sich für die nächsten Jahrzehnte gleich im dunklen Loch verkriechen. Besser wäre es, sie versucht, das Ruder herumzureißen.

Walter Benjamin schrieb in einem seiner letzten Manuskripte:

»Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Geschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechtes nach der Notbremse«.

In Europa wird es Zeit, die Bremse zu ziehen.

Links:

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Austerit%C3%A4t