die frohe botschaft der autonomie der migration

Annäherung an einen umstrittenen Begriff

Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos
Serhat Karakayali

Der Begriff der Migration gehört zu den umstrittensten unserer Gegenwart. „Humanitäre Migration“, „Zwangs- und Kriegsmigration“, „Arbeitsmigration“ und nicht zuletzt „zirkuläre Migration“ sind keineswegs neutrale Bezeichnungen für räumliche und kulturelle Mobilität von Menschen, weil sie zugleich mit herrschenden Vorstellungen von Kontrolle oder Immobilität einhergehen. Wann, wo und wie eine Migrantin „humanitär“ auswandert, zwischen „Herkunftsland“ und „Ankunftsland“ arbeitssuchend „zirkuliert“, ist weniger selbstverständlich, als mancheR glaubt. Während in linken Debatten bis in die 1980er Jahre die funktionalistische These der „Reservearme“ dominierte, diskutieren wir heute die fatalen Effekte ihrer linken Renaissance.

Das Glück der Flucht und die Geschwindigkeit des Fließbands

Vassilis Tsianos

Der von Yann Mulier Boutang geprägte Ansatz der „Autonomie der Migration“ bricht mit dem „methodologischen Funktionalismus“, in dem Migration immer entweder für etwas Anderes steht oder als abhängige Variabel von der Funktion dieses Anderen abgeleitet wird. Im Gegenteil, die frohe Botschaft der „Autonomie der Migration“ will den Blick dafür schärfen, in der Migration primär die Projekte der Migration zu sehen und in ihnen gesellschaftliche grenzüberschreitende Mobilität und ihre Kämpfe, also die Kämpfe der Mobilität wahrzunehmen. Es geht darum, so Serhat Karakayali, die generische Kraft der Migration als einer sozialen Bewegung in den Blick zu nehmen. Das war auch einer der Gründe für den Bezug auf das Konzept der Autonomia, das in den 1970er Jahren in Italien entwickelt wurde. Das Konzept der Arbeiteruntersuchung, der „Conriserca“, beruht auf der Idee, dass Ansatzpunkte für eine subalterne Politik in der Alltags-Praxis der MassenarbeiterInnen bzw. der gesellschaftlichen ArbeiterInnen zu suchen sind. Es komme nicht so sehr auf die Geschwindigkeit des Fließbands an, sondern darauf, wie die ArbeiterInnen damit umgingen. Die Analogie ließe sich noch weiter treiben. Folgt man den TheoretikerInnen des Operaismus und Postoperaismus, dann sind alle Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise in den letzten vierzig Jahren in den nördlichen Industriestaaten mehr oder weniger direkt auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, welche die kollektive Arbeitskraft den Unternehmen beschert hat. Autonomie der Migration ist angewandter Postoperaismus auf dem Gebiet der Grenze. Der Einsatz der „Autonomie der Migration“ versucht Mobilität als politische Praxis zu artikulieren, in der soziale AkteurInnen ihren normalisierten Repräsentationen entfliehen, sich im Akt dieser Flucht neu begründen und dabei die Bedingungen ihrer materiellen Existenz verändern. Das Begehren von der Flucht aus der Plantage oder aus dem Regime der Fabrikdisziplinierung bis hin zur Flucht aus der Zwangsheteronormativität erstreckt sich über die gesamte Geschichte des Kapitalismus.

Transversale Kämpfe statt Ausbeutungsromantik

Diese Überlegungen sind in den letzten Jahren unter dem Namen „Autonomie der Migration“ weiter entwickelt und kontrovers diskutiert worden: Dem Konzept wurde etwa der Vorwurf gemacht, es romantisiere Ausbeutung und Unterdrückung, stelle konkurrenzielle Strategien des individuellen Fortkommens an die Stelle politischer Kämpfe, interpretiere die durch die Logik der Kapitalakkumulation induzierte Arbeitskraftmobilität fälschlich als autonome Praxis oder ignoriere die männlich-patriarchale Struktur des Autonomiebegriffs, der die sozialen Kontexte, die Handeln ermöglichen, ausblende. Diese linken KritikerInnen der Autonomie der Migration insistieren auf den folgenden Aspekt: Die Abwesenheit staatlicher Restriktionen zeuge nicht von Autonomie, sondern der Macht des Marktes oder des Kapitals. Die proklamierte „Selbständigkeit der Migrationen“ gegenüber den politischen Maßnahmen, so Tobias Pieper, liege „nicht in den sozialen und subjektiven Dimensionen der Migration […], sondern in den Bewegungsgesetzen der Kapitalakkumulation selbst, welche die Ware Arbeitskraft in Richtung der Fabriken in Bewegung setzt“. Die Kontrolle scheitere nicht an der Autonomie der Migration, sondern an den „systemimmanenten Aneignungsgesetzen des Kapitals“, weshalb Migration im Kapitalismus grundsätzlich nicht kontrollierbar sei. Pieper konzediert, dass es subjektive Motive für Migration gebe und MigrantInnen „nicht immer“ so handelten, wie „das Kapital“ es will, „letztlich“ aber sei auch die Hoffnung auf ein besseres Leben als Triebfeder für Migrationen „durch die Aneignungsgesetze des Kapitals vermittelt“. Solche Ansätze spiegeln jeweils essentialistische Verständnisse von Staat und Ökonomie. Tobias Pieper kann vermeintlich die Mobilität der MigrantInnen – bei ihm vor allem Träger der Ware Arbeitskraft – auf die des Kapitals zurückführen. In einer Welt, die bis auf nebensächliche Störungen vollständig dem Diktat „des Kapitals“ unterworfen ist, bleibt aber erklärungsbedürftig, warum überhaupt Restriktionen für Mobilität existieren. Der Staat und die Ökonomie erscheinen in solchen Ansätzen als systemische Schablonen, ausgestattet mit „ehernen“ Gesetzen, denen die Akteure unterworfen sind – wenn auch manchmal nur „in letzter Instanz“. Dagegen haben wir gezeigt, dass das, was man als Moment der Autonomie in der Migration bezeichnen könnte, weniger in der Tatsache zu suchen ist, dass es z.B. schon immer illegale Migrationen gibt, die ohne staatliche Regulation organisiert werden. Dieses Moment ist vielmehr in der Erzeugung eines spezifischen – und damit in Bezug auf den Staat oder die „soziale Frage“ autonomen – Konfliktfeldes zu suchen, bei dem Migrationen nicht der Wirkungsmacht von Staat oder Ökonomie entgehen, sondern sich transversal zu ihnen bewegen und dabei das staatliche Migrationsregime verändern. Wie aber verhält es sich mit den „Marktgesetzen“, denen die MigrantInnen Gehorsam zu leisten scheinen?

Die einsame Stunde der letzten Instanz

„Letztlich“, so argumentierte Pieper, seien die individuellen Motive durch die Gesetze der Kapitalakkumulation vermittelt. In seiner Kritik an der monokausalen, mechanistischen Rationalität des zeitgenössischen Marxismus prägte der marxistische Philosoph Louis Althusser den Begriff der strukturellen Kausalität, in der „die einsame Stunde der ‚letzten Instanz‛“ nie schlägt, „weder im ersten noch im letzten Augenblick“. Althusser spricht damit das Problem der Vermittlung und Determination verschiedener gesellschaftlicher Ebenen an, das auch hier vorliegt. Ausgangspunkt seiner Überlegung war die Abgrenzung von der im Marxismus verbreiteten Basis-Überbau-Topologie, nach der alle nicht-ökonomischen Instanzen als bloße Verlängerungen der ökonomischen Verhältnisse betrachtet werden. Diese laufe, so seine Kritik, auf eine idealistische Vorstellung hinaus, wonach ein Zentrum existiert, das aus sich heraus alle anderen gesellschaftlichen Widersprüche und Verhältnisse generieren könnte, deren Komplexität bloß die entwickelte Erscheinung jenes einfachen Widerspruchs wäre. Im Fall der Migration sind aus einer solchen idealistischen Perspektive alle Migrationen Effekte einer einzigen Logik, nämlich der der Arbeitskraftallokation durch kapitalistische Marktgesetze. Wenn aber, wie wir mit Althusser argumentieren, die Stunde der letzten Instanz (der Ökonomie) niemals schlägt, können die Beweggründe, die Motive und die Projekte der Migration auch etwas anderes sein als bloße Reproduktionsmechanismen für die prädeterminierten objektiven Strukturen. Aber schon das einfache Reproduzieren kann nicht bruchlos gelingen. Weil die MigrantInnen nicht angetreten sind, Strukturen zu reproduzieren, sondern ihr Leben zu verbessern, weil sie Teil verschiedener Umstände sind und weil jedes Migrationsprojekt anders aussieht. Die Umstände der Migration verändern sich durch die Projekte, mit denen die MigrantInnen, als gesellschaftliche Subjekte, diese Umstände stets aufs Neue reproduzieren und in diesem Prozess verändern. In der ideologiekritischen Tradition ist es zum Common Sensegeworden, den „doppelten Charakter“ von Mobilität zu einer Seite hin aufzulösen. Das heißt, Mobilität als in Wirklichkeit funktional für die kapitalistische Produktionsweise zu entlarven. Wir nehmen demgegenüber eine Perspektive ein, in der wir Strukturen, Apparate, Institutionen als unterschiedliche Aggregatzustände von Handeln verstehen. Wenn, wie Pieper meint, der Kapitalismus ohne Migrationen nicht existieren kann, dann wirft dies die Frage auf, ob die Fabriken die Auslöser von Mobilität sind und buchstäblich die Menschen zur Wanderung mobilisieren. Unsere historischen Ausführungen zur Genealogie der Mobilität legen ein anderes Szenario nahe: Demnach existierte lange vor der kapitalistischen Industrialisierung ein mobiles Europa, in dem Landflucht und Vagabundage als negative und unproduktive Bewegungen bekämpft wurden. Was muss aber passieren, damit diese Mobilität verwertbar wird und die Vagabunden in „freie ArbeiterInnen“ verwandelt werden? Zur Beantwortung dieser Frage reicht es nicht aus, Migration und Mobilität als funktionale Mechanismen der Arbeitskraftallokation zu fassen. Damit wird allenfalls eine Perspektive a posteriori eingenommen, die die Prozesse der Vereinnahmung und Rekuperation von Handlungen nicht zu berücksichtigen imstande ist. Denn auch wenn Strukturen nichts anderes sind als Aggregatzustände von Handeln, so sind doch bestimmte Handlungen in der Lage andere zu vereinnahmen und sich dabei institutionell zu verdichten oder zu einem Aggregatwechsel beizutragen. Zu untersuchen wären die Bedingungen, unter denen solche Verdichtungen stattfinden; welche Formen von Hegemonie sie ermöglichen und welche anderen sie tendenziell verhindern. Warum es, anders gesagt, unmöglich erscheint, Migration anders als zu passivierende, integrierende und bestenfalls zu kontrollierende Anomalie zu denken. Warum, zugespitzt formuliert, jede Migration tendenziell illegale Migration ist.

Vassilis Tsianos ist Mitglied von Kanak Attak. Derzeit arbeitet er an der Universität Hamburg am Fachbereich Sozialwissenschaften und als Projektkoordinator des Bereichs „Border crossings“ im EU-Projekt MIG@NET.

Serhat Karakayali ist ebenfalls Mitglied von Kanak Attak und arbeitet derzeit an der Martin-Luther-Universität Halle.