jenseits von geschlossenheit

Die neue alte Linke in Frankreich

Susanne Götze

Im französischen Seine Saint-Denis sieht es immer noch so aus wie im Hoyerswerda der DDR-Zeit. Während in der DDR-Vorzeigearbeiterstadt mittlerweile der einstige Stolz der sozialistischen Architektur abgerissen wird, platzt die Pariser Banlieue aus allen Nähten. Sie ist eine der letzten kommunistischen Hochburgen in Frankreich: Durch die stur-grauen Fassaden der Plattenbauten gähnen heute die Langeweile und Wut, wo früher Aufbruch und Hoffnung war. Von letzterem erzählen noch der Lenin-Boulevard, die Rousseau-Avenue und Louis Aragon-Straße. Und eine Ausstellung im „Archiv Departemental“, das die gesammelten Dokumente der Kommunistischen Partei liebevoll entstaubt. Kräftige Arbeiter werden gezeigt, die die ersten Sozialwohnungen bauen und ihre ersten bezahlten Urlaube machen, mit dem Fahrrad im Grünen, die lachenden Kinder auf dem Gepäckträger. Ein Hauch von DDR weht einem dort entgegen. Das sehnsuchtsvolle Gedenken an die ideologische Aufbruchsstimmung hat derzeit Konjunktur in Frankreich – aber eben auch nur das Gedenken. Auch im Pariser Rathaus schwelgt man derzeit in historischem Ambiente und erinnert an 140 Jahre Pariser Kommune. Die Bilder zeigen Arbeiter voller Mut, Entschlossenheit und Solidarität. Für eine soziale Idee in den Tod gehen – was waren das noch für Zeiten! Vielleicht wird derzeit auch soviel erinnert, weil sich 21 Jahre nach dem erklärten Tod der kommunistischen Idee, trotz Sarkozy und Finanzkrise immer noch keine Renaissance jener links-revolutionären Geschlossenheit abzeichnet.

Appell an die Werte der „Résistance“

Umso bezeichnender, dass gerade zwei Männer in Frankreich aus dieser Lethargie ausbrechen, die zwar nicht mehr die Kommune erlebt aber ein gutes Dreiviertel 20. Jahrhundert auf ihren Schultern tragen: Der Autor von „Empört euch“ Stephan Hessel und sein Freund und eingefleischter Linksintellektureller Edgar Morin. Beide haben mit Medienauftritten und aufrüttelnden Büchern mehr Aufsehen erregt, als die französische Linke in den letzten vier Jahren unter Sarkozy. Die greisen „Aufrührer“ haben schon in der Résistance gekämpft und sich seit dem Zweiten Weltkrieg – Hessel als Diplomat und Morin als Soziologe und Philosoph – für ein humanistisches, friedliches und soziales Europa engagiert. Nun, mit 93 und 89 Jahren, müssen sie sich jedoch eingestehen, dass genau diese Werte in höchster Gefahr sind. Hessels Mission ist die Wiederbelebung der „Werte der Résistance“: In seinem 15-Seiten Bestseller zieht er gegen Despotismus und politische Unterdrückung zu Felde und feiert den Moment der Auflehnung im Namen demokratischer Grundwerte.

Morins Buch „La Voie: pour l`avenir de l' humanité“ („Der Weg: für eine Zukunft der Humanität“) ist hingegen eine Analyse der Welt nach Ende des Kalten Krieges und der „totalitären Krake“, die nun von der Gier der Finanzmärkte und religiösen Fundamentalismen abgelöst werde. Morin kommt zu demselben Schluss wie Hessel: Die Menschheit stehe vor einer Zeitenwende, in der es leicht „zu einer Kettenreaktion von Katastrophen“ kommen könnte. Die jetzige Zeit sei eine Chance für eine grundsätzliche demokratische Erneuerung. Die richtigen Ideen und Konzepte dies zu verhindern, seien schon da – es brauche allein eine politische Kraft, diese umzusetzen. Anfang des Jahres verfolgten tausende Leute im Netz und im ausverkauften Saal des „Théâtre national de la Colline“, wie Hessel und Morin die arabischen Revolutionen bejubelten und mit ägyptischen und tunesischen Widerstandskämpfern in flammenden Reden mehr Engagement einforderten. Diese ungeteilte Aufmerksamkeit hat derzeit wohl kaum jemand der traditionellen Linken in Frankreich.

Neuer Versuch einer Linksfront

Doch wo ist sie, die große französische Linke? Ähnlich wie in allen konservativ regierten Ländern könnte die Ausgangslage für eine „Renaissance der Linken“ in Frankreich kaum besser sein. Doch wie in vielen anderen Staaten ist auch die französische Linke in Grabenkämpfen und einem fundamentalen Selbstfindungsprozess gefangen. Jeder Versuch, eine Wiederbelebung oder gar Einheitlichkeit der Linken herzustellen, ist in den letzten Jahren kaum vorangekommen. Bezeichnend dafür ist die „neue alte“ Uneinigkeit im sozialistisch-antikapitalistischen Lager: Links von der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste), gibt es eine Reihe von kleinen Splitterparteien, unter denen sich wiederum einige zur „Front de Gauche“ (Linksfront) zusammengeschlossen haben. Diese Linksfront ist ein Griff in die Mottenkiste der Geschichte und erinnert an den langen Kampf, eine zweite „Front Populaire“ (gemeinsames Programm von Sozialisten und Kommunisten) wie in den dreißiger Jahren auf die Beine zu stellen. Auch in den 1960er Jahren versuchten alternative Kräfte, oppositionelle Sozialisten und abtrünnige Kommunisten jenseits der etablierten Parteien eine neue linke Kraft zu formieren – allerdings scheiterte auch dieser Versuch an ideologischer Zerfaserung. Nun wird diese Tradition wiederbelebt: Nach der geglückten Kampagne gegen den EU-Verfassungsvertrag 2005, fanden sich Globalisierungskritiker_innen, ehemalige Sozialist_innen und die mittlerweile marginalisierten Kommunist_innen zusammen, um für die Europawahlen 2009 ein gemeinsames Wahlbündnis zu gründen – die Front de Gauche. Allerdings konnte unter diesem Dach nur die „Parti de Gauche“, die Kommunisten (PCF) und kleine Akteure versammelt werden. Wichtige neue Akteure wie die NPA (neue antikapitalistische Partei) verweigerten ihre Teilnahme. Nach den letzten relativ erfolgreichen Kantonalwahlen, soll nun der Präsidentschaftskandidat – mit aller Wahrscheinlichkeit der ehemalige Sozialist (PS) und Vorsitzender der „Parti de Gauche“ (Linkspatei) Jean-Luc Mélenchon – gekürt werden. Aber auch das geschieht nicht ohne Federlesen bei den Kommunist_innen.

Auffällig ist, dass die Dinosaurier des Humanismus, Hessel und Morin, keinerlei Ambitionen zeigen, die derzeitige Linke jenseits der Sozialisten zu unterstützen. Hessel gilt als enger Vertrauter der Parteivorsitzenden der Parti Socialiste, Martine Aubry. Diese betrachtet den Aufruf Hessels als willkommene Wahlkampfunterstützung – sicherlich zu recht, lässt sich Hessel doch des Öfteren bei Parteiveranstaltungen blicken. Morin hingegen hat sich seit seinem Engagement für eine „dritte linke Kraft“ jenseits von Stalinist_innen und Sozialist_innen in den 1960er Jahren nicht mehr an eine Partei gebunden. Aber auch andere kritische Akteure wie der Gründer des investigativen Medienportals „Mediapart“, Edwy Plenel, arbeiten jenseits der Parteienlandschaft auf ihre Weise am Sturz der „Ära Sarkozy“ und für eine demokratische VI. Republik. Die französische Linke ist also keineswegs verschwunden, sondern zur Unkenntlichkeit fragmentiert. Und auch das ist sicherlich eine ihrer großen „Traditionen“.

Susanne Götze berichtete für prager frühling u.a. schon über die Frauenbewegung in der Türkei und die Klimabewegung in den USA. Gegenwärtig lebt sie als Journalistin in Paris und schreibt an ihrer Promotion in Neuerer Geschichte zur französischen „Nouvelle Gauche“ zwischen 1960 und 1968.