22.02.2012

Das Gegenteil vom Zurück

Wie sollte sich DIE LINKE zu Gauck verhalten?

Tobias Schulze

Gauck inszeniert geschickt regressive Gefühlslagen des kleinbürgerlichen Mainstreams. Wenn DIE LINKE sich als zukunftsfähige Alternative präsentieren will, muss sie um seine Anhängerschaft werben und aufklären.

Keine 99%

50 bis 70 Prozent der Deutschen würden nach Umfragen Joachim Gauck gern als Bundespräsidenten sehen. Was die restlichen 30 bis 50 Prozent über ihn denken, kann nur vermutet werden. Nur zum kleinen Teil werden sie ihn aus politischen Gründen nicht wollen, zum anderen Teil, weil er aus dem Osten kommt, zum Teil, weil er kein Katholik ist, zum Teil, weil sie seinen Pathos nicht ertragen oder, weil sie Wulff besser fanden. Auch bei den LINKEN-Anhängern lehnen nur zwischen 50 und 60 Prozent Gauck ab.

Bei vielen Menschen scheint die Art der Nominierung Gaucks gegen DIE LINKE auf Kritik zu stoßen. Das ändert aber nichts an ihrer Zustimmung zum Kandidaten, der offenbar nicht zum Feindbild taugt. Bei vielen linken politischen Aktivisten, bei uns Linken und auch den Piraten sowie einigen linken Grünen stieß die Nominierung dennoch sofort auf scharfen Widerstand. Während DIE LINKE und linksradikale Kreise auch 2010 Gauck einhellig abgelehnt hatten, ist die Kritik der übrigen Gruppen eher neu. Er ist nicht mehr der unabhängige Kandidat gegen den Parteisoldaten, sondern der Kandidat des Establishments.

Dilemma: Wie knacken wir die mediale Front?

Nicht nur die LINKE, sondern auch die Piraten stehen sowohl vor einem strategischen wie auch vor einem inhaltlichen Dilemma. Wie kann man die mediale Front aus ARD, ZDF, Springer, Spiegel und fünf etablierten Parteien knacken? Wie kann aufgeklärt werden über Gaucks Motive und Positionen? Und: welche sind das überhaupt? Hilft eine eigene Kandidatur- und wenn ja, welche überzeugende Persönlichkeit ist dazu bereit, sich einem kaum zu gewinnenden Medienkrieg auszusetzen?

Gauck: abwägend dem Stammtisch nach dem Mund geredet

Die ersten drei Tage nach Gaucks Nominierung haben eins gezeigt: die Kritik an seiner Haltung reicht weiter als 2010 – sowohl im Netz als auch in Tageszeitungen. Allerdings: die verbreitete Zustimmung in der Bevölkerung zu Gauck dürfte das kaum ankratzen, möglicherweise verstärkt eine verkürzte Kritik an Gauck diese Zustimmung sogar. Das hat viel mit Gaucks rhetorischer Methode zu tun. Er vermeidet eigene Positionierungen weitgehend, sondern redet intellektuell verbrämt und im Für und Wider abwägend der bürgerlichen, deutschstämmigen Mittelschicht nach dem Munde. Er spricht aus, was an Stammtischen und vor Fernsehern gedacht wird, wie Parteien, wie MigrantInnen, wie Linke wahrgenommen werden. Er artikuliert Klischees, Ressentiments und Aggressionen derjenigen, die sich zu den Leistungsträgern der Gesellschaft zählen, während sie „die anderen“ als Meckerer, Miesmacher und schlimmstenfalls als Schmarotzer sehen. Auch der Parteienbetrieb wird aus dieser Sicht als unnütz für das Fortkommen des Landes gesehen. Der Streit zwischen politischen Positionen ist aus dieser Sicht kein Vorzug der Demokratie, sondern nervige Attitüde eines saturierten Systems. Er ist damit gar kein „volksnaher“ Kritiker des politischen Establishments, sondern im Gegenteil ein Unterstützer und Verkäufer der Regierungspolitik. Und zwar der kompletten Regierungspolitik der letzten 20 Jahre. Kohl, Schröder und Merkel haben, so in etwa Gauck, alles richtig gemacht, denn angesichts der Vergangenheit leben wir heute in der besten aller Welten. Dieser Tunnelblick passt zu Merkels Krisenpolitik, die zugunsten von deutschen Interessen Europa kaputtsparen lässt. Es gibt kein kritisches Wort Gaucks über die Regierenden - es sei denn, sie beugen sich dem „Druck der Straße“ wie etwa beim Atomausstieg.

Kein Widerständler

Auch zu DDR-Zeiten war Gauck bis 1989 kein Widerständler. Die durch die Medien vermittelte Wahrnehmung ist jedoch eine andere. Gauck transportiert das antikommunistische Ressentiment im Westen und die trotz allem verbreitete Zustimmung zu Mauerfall, Wende und Widervereinigung im Osten. Die Gleichsetzung von NS-Zeit und Staatsozialismus ist jenseits von politischen Profis für viele Menschen kein Aufreger, dafür ist beides inzwischen zeitlich einfach zu weit entfernt und Geschichtspolitik zu weit weg von ihrem Lebensalltag. Dies verweist auf das strategische und inhaltliche Dilemma der Gauck-Kritiker:

Erstens: die politischen Maßstäbe, die Tabus und Konsense im linken und linksbürgerlichen Milieu sind bei vielen Menschen nicht ähnlich präsent. Zum Teil aus Unkenntnis oder Unlust, sich ausgiebig in politische Diskurse zu begeben, zum Teil aus festsitzenden Ressentiments heraus. Wenn Gauck als Tabubrecher dargestellt werden soll, müssen viele der Tabus erstmal argumentiert werden.
Die Mehrheit der SPD und Grüne sind dabei wohl keine Partner. Die SPD, die einen Sarrazin in ihren Reihen duldet, und die Grünen, die eine Politik der internationalen Kampfeinsätze der Bundeswehr befürworten, haben ihren Teil zum Aufweichen dieser Konsense beigetragen. Das erschwert die Kritik an Gauck aber eher.

Zweitens: Gauck verpackt seine Tabubrüche klug genug. Seine abwägenden und pathetisch ausgekleideten Kettensätze auf ihren eigentlichen Gehalt einzukochen, ist eine aufwändige, hermeneutische Übung. Man wird Gauck nicht so einfach bei dem packen können, was er sagt.
Sondern vor allem bei dem, was er nicht sagt. Wir müssen einen politischen Raum jenseits des bürgerlichen Mainstreams öffnen und besetzen. Das macht eine Strategie ohne überzeugende Gegenkandidatur so schwierig. Seine auf die Nation und die bürgerliche Mitte zentrierte Sicht lässt jedes Potenzial zur Problemlösung der vor uns liegenden Aufgaben vermissen. Die Krise Europas, die autoritären nationalistischen Tendenzen in Ungarn und anderen Beitrittsstaaten, die Realität multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften, die soziale Spaltung in Gesellschaft, Bildung und zwischen den Regionen, die kommunikative Revolution durch digitale Medien, der Klimawandel und die Umweltzerstörung – für all dies wären mutige Anstöße nötig, die Gauck nicht liefern wird, weil er es nicht will und wahrscheinlich auch nicht kann. Wenn wir überhaupt einen Bundespräsidenten brauchen, dann einen, der Sinnzusammenhänge für eine sich differenzierende Gesellschaft nicht aus der Feindschaft gegen vermeintlich Fremdes, sondern aus einer Perspektive von sozialer Integration und ökologischer Nachhaltigkeit konstruiert.

Was kann DIE LINKE denn nun in der konkreten Situation für die kommenden vier Wochen anbieten?

Eine mögliche Kandidatur, die diese intellektuelle Ausstrahlungskraft hat und für Piraten, linke Grüne und Sozialdemokraten wählbar ist. Die Piraten haben sich zwar gegen eine Zusammenarbeit ausgesprochen, aber angesichts ihrer geringen Stärke in der Bundesversammlung könnten auch sie profitieren. Namen fallen wohl jedem ein, spekuliert werden soll hier nicht.

Falls keine Persönlichkeit von entsprechendem Format sich auf eine ausschließlich diskursive und schwierige Kandidatur einlässt, wäre auch ein offener und weniger verbissener Dialog mit Gauck ein mögliches Vorgehen. DIE LINKE könnte Gauck in einer öffentliche Sitzung einladen - nicht um Zweifel an LINKE politischen Position zu ihm zu wecken, sondern um seine Positionen mal auf direkte Nachfrage trennscharf herauszuarbeiten und zur Aufklärung wider den Pathos von BILD und Co. beizutragen. Geht man in eine Wahl ohne eigene Kandidatur, wäre eine Möglichkeit, auf Enthaltung zu votieren und das Verfahrensargument stark zu machen, dass DIE LINKE keine Chance der Teilnahme an der Kandidatensuche hatte.

Eine Option wäre auch die Aufhebung einer gemeinsamen Abstimmungsstrategie. Dies würde eine stärkere öffentliche Argumentation der inhaltlichen Argumente gegen Gauck (ggf. auch für Gauck) durch jedes einzelne unserer Mitglieder ermöglichen und uns nicht als geschlossenen Block ohne personelle Alternative erscheinen lassen. DIE LINKE hat eine kleine Chance, aus dieser Bundespräsidentenwahl gestärkt hervorzugehen. Einen Versuch ist es wert.