17.04.2012

Zu den Grenzen der Queer-theory

Martin Schneider und Marc Diehl (Hg.): Gender, Queer und Fetisch. Konstruktion von Identität und Begehren. Männerschwarm. 2011.

Bodo Niendel

Queer-theory entwickelt sich weiter und wird von jungen AktivistInnen und WissenschaftlerInnen auf immer weitere Felder ausgedehnt. Mit Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ begann eine Theorieentwicklung, die scheinbar natürliches hinterfragen und gegebenes verändern wollte. Geschlecht und Sexualität wurden „dekonstruiert“, die heilige Einheit aus Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität und Begehren („heterosexuelle Matrix“) wurde grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt. Daraus entwickelte sich eine Queer-theory, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Bedingungen der Subjektbildung zu hinterfragen und die Heteronormativität der Gesellschaft anzugreifen. Dies hatte auch politische Folgen. AktivistInnen begriffen sich als queer. Sie wollten nicht mehr lesbische oder schwule Politik fortschreiben. Sie spielten mit Körperinszenierungen, protestierten gegen den Zwang sich zwischen zwei Geschlechtern zu entscheiden und entwickelten eigene subkulturelle Praxen.

Der Sammelband spiegelt in zweierlei Hinsicht eine Weiterentwicklung. Der einst „stockschwule“ Verlag Männerschwarm erweitert sein Programm nun um Queer-theory: Kerstin Brandes betrachtet in ihrem Beitrag Bilder mit einer queeren Brille und sieht den Queer-Ansatz als spannendes Analysekriterium an. Künstlerisches Handeln wird beleuchtet und auf emanzipatorische Potentiale abgeklopft. Maurice Schuhmann und Marcus Stiglegger berichten über Fetische, begehrensvolle Inszenierungen und die Möglichkeit der Überschreitung. Antke Engel betrachtet das Inzestverbot als eine „gewaltsame Regulierung des Sozialen“. Eine interessante Kritik, die jedoch unterschlägt, dass ein Wegfall dieser Regulierung Geschwister in erhebliche psychosoziale Konflikte stürzen kann. Wäre es für einen Heranwachsenden nicht eine zu große emotionale Überforderung die direkten Verwandten als potentielle sexuelle Partnerschaften zu betrachten? Christoph Niepels bietet einen spannenden Überblick über die empirische Forschung der Nicht-Heterosexuellen. Niepels belegt den seit langem bekannten Fakt, die Herausbildung von schwulen Identitätsformen hat zu einer Abnahme gleichgeschlechtlicher Pubertätserfahrungen in der Gesamtpopulation geführt. Die Kids wollen nicht als schwul angesehen werden und vermeiden gleichgeschlechtlichen Sex.

Hier klafft noch eine Lücke in der Queer-theory. Benötigen die, die wissen oder ahnen, dass sie schwulen oder lesbischen Sex begehren, in dieser schwierigen Phase nicht eine Identität, die nicht wabert, sondern sie stabilisiert? Akademischer Anspruch und die Sphäre des Realen sind nicht Deckungsgleich. Die zahlreichen empirischen Studien des Sozialwissenschaftlers Michael Bochow zeigen, dass Kids mit einem schwulen Begehren, sich auch als schwul bezeichnen wollen. Queer wollen sie nicht sein.

In Teilen des Buchs finden sich interessante Aspekte für die Ausdehnung des Queeransatz, deshalb ist das Buch lesenswert. Doch es bleibt ein Unbehagen. Denn radikale Dekonstruktion um der Dekonstruktion willen, geht einen Schritt hinter die zentralen Gesellschaftsfragen zurück. Wie soll Gesellschaft verändert werden? Queere Kritik, in Form von subkulturellen Praxen oder individuellen körperliche Inszenierungen kommt so leicht nicht an den harten Kern des Politischen (Staat, Institutionen, Recht) heran. Die Frage, ob oder wie die Transzendenz des bestehenden Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglicht werden kann, wird uns die Queer-theory nicht beantworten. Queer-theory hat - kein(en) Ort. Nirgends zu Hause und doch will sie überall dabei sein. Doch: Nur dabei sein reicht nicht.

Bodo Niendel, Referent für Queer- und Gleichstellungspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.