ich weiß, in welchem land ich lebe …

Gespräch mit Andrej Hermlin

Lena Kreck und Stefan Gerbing
Andrej Hermlin

An dieser Stelle wollten wir zwei gegensätzliche Positionen ins Gespräch bringen. Statt übereinander sollte miteinander geredet werden. Als Diskutanten hatten wir Stefan Hermlin, LINKSPARTEI-Mitglied und Swing-Musiker und die Menschenrechtspolitische Sprecherin der LINKSFRAKTION im Bundestag, Annette Groth, eingeladen. Andrej Hermlin hatte in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen von einer „feigen Spielart des linken Antisemitismus“ gesprochen, die „antisemitische Positionen als legitime Kritik an Israel zu verkaufen“ suche. Annette Groth nahm im vergangenen Jahre an der Gaza-Flottille teil und spricht sich nicht grundsätzlich gegen den Boykott von Produkten aus Israel bzw. den besetzten Gebieten aus. Das Gespräch fand statt, leider erhielten wir trotz des Angebots, eventuell missverständliche Äußerungen zu korrigieren, keine Freigabe des Gesprächs von Annette Groth. Stattdessen erscheint an dieser Stelle ein Interview mit Andrej Hermlin.

prager frühling: Was verstehst Du unter Antisemitismus und worum ging es bei der Antisemitismus-Debatte im Sommer diesen Jahres?

Andrej Hermlin: Zunächst einmal: Ich bin Mitglied der LINKEN. Ich befinde mich aber nicht in der parteiinternen Debatte, die zwischen Funktionsträger_innen in der Fraktion und im Vorstand geführt wird. Ich will mich daran auch nicht beteiligen. Ich möchte mich auch an Definitionsdiskussionen nicht beteiligen. Wir wissen alle was Antisemitismus meint. Man kann einen Stuhl einen Tisch und eine Lampe ein Flugzeug nennen. Ich verwende den Begriff Antisemitismus wie ihn fast alle verwenden und möchte darüber auch nicht diskutieren. Die Linke ist ein Teil dieser Gesellschaft und deswegen hat sie das Problem Antisemitismus auch. So zu tun, als wäre die Linke der Hort des Antisemitismus, wohingegen alle anderen Teile der Gesellschaft davon frei wären, geht aber an der Realität vorbei. Es ist ebenfalls absolut lächerlich zu behaupten, dass eine Kritik an Israel nicht möglich oder eine Kritik an den politischen Entscheidungen in Tel Aviv automatisch antisemitisch sei.

pf: Gibt es im Kontext von Positionierungen im Nahostkonflikt bei der LINKEN eine Nähe zu antisemitischen Positionen?

Hermlin: Es gibt bei manchen, die sich an Israel abarbeiten – ich drücke es vorsichtig aus – ein gewisses Ressentiment gegenüber jüdischen Menschen und gegenüber dem jüdischen Staat Israel. Was mich erstaunt, ist die Emotionalität. Es geschieht in der Welt – ich komme gerade aus Kenia —ungeheures Unrecht. Es gibt am Horn von Afrika dramatische Umstände. Ich kenne eine Reihe von Menschen — auch in unserer Partei — die enorm emotional werden, wenn es um den Nahostkonflikt geht, die gleichen Emotionen aber vermissen lassen, wenn es sich um grauenhafte, wesentlich schlimmere Entwicklungen in anderen Regionen dieser Erde handelt. Dann frage ich mich: Warum ist das so? Diese Frage muss auch dem Sohn eines Juden erlaubt sein. Es ist eine Frage! Ich behaupte nicht, dass jeder, der große Emotionen für den Nahostkonflikt und keine Emotionen für Kenia hat, automatisch Antisemit ist.

pf: Wenn in der LINKEN von einem Antisemitismusproblem die Rede ist, dann wird das meist an konkreten Vorkommnissen diskutiert: der Gazaflotte und dem Boykott von israelischen Waren.

Hermlin: Wer sich in Deutschland hinstellt mit so einem Boykott-Plakat, also das muss man sich doch überlegen! Vor zehn Jahren wäre das undenkbar gewesen und heute muss man sich schon rechtfertigen, wenn man das attackiert. Hier geht es um das Symbol, dass Deutsche sich mit Schildern vor Geschäfte stellen. Da steht zwar nicht drauf: „Kauft nicht beim Juden.“ Da steht drauf: „Kauft nicht bei Juden.“ Das ist vollkommen indiskutabel.

pf: Die Befürworter solcher Boykottaufrufe betonen, dass es um Waren aus den besetzten Gebieten geht.

Hermlin: Das ist nicht ganz richtig, es wird auch zum Boykott israelischer Waren allgemein aufgerufen. Es gibt das Eine und das Andere. Aber mir ist diese Trennung auch egal. Dass man sich heutzutage in Einzelheiten verliert, ob die Waren jetzt aus diesem oder jenem Gebiet kommen, zeigt wie sich die Gesellschaft verändert hat. Warum stellt sich niemand hin und sagt: „Kauft nicht kenianische Rosen!“ Ungefähr 90 Prozent der Rosen, die in Deutschland verkauft werden, kommen aus Kenia.

pf: … und bei der Gaza-Flottille?

Hermlin: Ich finde die Gazaflotte keine tolle Sache. Wenn Annette Groth meint, dass sie da mitfahren muss, dann muss man darüber diskutieren. Bloß wenn ich mich hinstelle und sage: „Wenn du da mitfährst, gehörst du aus der Partei ausgeschlossen.“ — Das geht mir zu schnell. Wenn andersherum gesagt wird: „Wenn du Israel verteidigst, bist du ein Rechter.“ – Das geht auch nicht. Man hat ja die Leute, die auf der Gazaflotte mitgefahren sind, beglückwünscht und wie Helden in Empfang genommen. Jetzt stellen sich die selben Leute hin und vertreten etwas Anderes. Da kann ich die Leute verstehen, die sich verarscht vorkommen. Ich habe allergrößte Zweifel an der Gazaflotte, weil da Leute mitmachen, mit denen man sich nicht gemein machen sollte. Und weil ich glaube, dass es andere Mittel und Wege gibt, sich mit dem Nahostkonflikt zu befassen. Wenn jemand eine andere Meinung vertritt, dann muss man das diskutieren. Da hätte man bereits vor einem Jahr sagen müssen: Das ist nicht richtig.

pf: Befürworter_innen der Gaza-Flottille argumentieren, dass sie von jüdischen Israelis aufgefordert würden, sich zu engagieren, weil deren eigener Spielraum immer enger werde.

Hermlin: Wir haben in Israel im Sommer Demonstrationen von dreihundertausend Menschen für soziale Veränderung erlebt. In den meisten arabischen Ländern wäre das nicht möglich oder würde unglaublichen Terror von Polizei und Geheimdiensten auslösen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern kann man in Israel seine Meinung sagen. Dass manchmal andere Leute anders darüber denken, ist klar. Aber man landet nicht in Folterkellern oder wird von der Polizei zusammengeschossen. Mir geht es nicht darum, die israelischen Verhältnisse zu diskutieren. Mir geht es darum: Wie denken und fühlen Menschen in Deutschland und in unserer Partei über Juden? Antisemitismus wird offener und in Kreisen geäußert, die bisher scheinbar davon verschont waren. Ich erwähne nur Möllemann und Hohmann. Die haben Diskussionen angestoßen, wie z. B.: „Jetzt muss doch mal Schluss sein mit dem Holocaust…“; „Die Juden haben doch überall ihre Finger drin“; „9/11 – das ist doch alles eine jüdische Verschwörung — das war doch der Mossad, der das eingetütet hat.“ Dann natürlich ganz allgemein: „Weißt Du, mit den Juden – die sind schon komisch“. Das hör ich ganz oft.

pf: Das ist jetzt aber in erster Linie ein persönlicher Eindruck.

Hermlin: Mein Eindruck wird durch diverse Statistiken bestätigt. Statistiken geben keine exakte Zahl wieder, aber eine Tendenz. Statistiken zeigen, dass zwischen 40 und 60 Prozent der Deutschen antisemitische Ressentiments haben. Mit anderen Worten: Wenn Du zehn Deutsche in einem Raum triffst, dann musst du davon ausgehen, dass die Hälfte antisemitische oder antijüdische Ressentiments hat. Nun ist die Frage, was versteht man darunter? Wenn man sagt, die Juden müssen vergast werden, da wird man von einer Million vielleicht zwei Personen finden,die das glauben. Aber wenn sie Judenwitze erzählen oder sagen: „Die Juden haben überall ihre Finger drin, beherrschen die Welt.“ Das ist Antisemitismus und das ist etwas, das sich verbreitet.

pf: Das beobachtest du tatsächlich auch in der LINKEN?

Hermlin: Eine meiner ersten politischen Erfahrungen in der PDS: Ich traf auf einer Veranstaltung Thomas Fritsche, den damaligen stellvertretenden PDS-Vorsitzenden von Berlin, bis heute Mitglied der Kommunistischen Plattform. Er nahm mich zur Seite: „Eins muss ich dir sagen, das Schlimmste, was den Juden in zweitausend Jahren Geschichte widerfahren ist, ist die Gründung des Staates Israel.“ Nicht die Shoah! Die Gründung des Staates Israel! Ich war damals in der Arbeitsgruppe Rechtsextremismus beim Parteivorstand der PDS. Wir hatten eine Studie zu Antisemitismus ausgewertet und in dieser Studie wurde den Probanden die Frage gestellt: „Sind sie der Meinung, dass die Juden einen zu großen Einfluss haben und dass dieser Einfluss beschnitten werden muss?“ Das war 1992. Wir diskutierten, dann meldete sich ein Mitglied unserer Partei von der Kommunistischen Plattform, Klaus Meinel, und sagte: „Das stimmt doch ooch. Die Juden die ham doch überall ihre Finger drin, dit muss ma doch ma aussprechen dürfen.“ Das waren Momente, wo ich mir überlegt habe: Wo bin ich eigentlich hier hingeraten? Das hätte ich auch haben können, wenn ich in die CDU eingetreten wäre. Und wenn heute Leute von einem „läppischen Existenzrecht Israels“ sprechen, dann ist das absolut inakzeptabel! Man kann Israel kritisieren, niemand hat gesagt, dass das verboten ist. Aber wenn ich mich irgendwo hinstelle und so was sage —als Deutscher! — dann ist das Tischtuch zuschnitten. Mir tut das weh und ich denke an meinen Vater. Er ist 1931 in diese Partei eingetreten, meine Familie ist von den Nazis verfolgt worden, mein Vater war im Widerstand in Berlin. Was würde er sagen, wenn er diesen Dreck im Neuen Deutschland lesen müsste?

pf: Gibt es eine unterschiedliche Wahrnehmung des Problems in Ost- und in Westdeutschland?

Hermlin: Das ist kein Ost-West-Problem. Die Umfragen zeigen, dass die Ressentiments in der Bevölkerung ungefähr gleich verteilt sind. Es macht keinen Sinn, das gegeneinander zu stellen. Ich weiß, in welchem Land ich lebe. Es ist das Land der Mörder.

pf: Und dennoch gab es in Ost- und West nach 1945 ja eine sehr unterschiedliche Geschichte …

Hermlin: Da wird ein Fehler begangen, den die DDR auch gemacht hat. Hitler haben 60 Prozent unterstützt – 40 Prozent waren gegen Hitler. Seine Anhänger landeten scheinbar automatisch im Westen. Nun gibt es die Umkehrung: Wir im Westen haben das alles bewältigt. Das sind Milchmädchenrechnungen! Man ist im Schwabenland genauso antisemitisch wie in Mecklenburg Vorpommern. Mittlerweile ist mir das egal. Wenn ihr hier die Scheiße soweit bringt, dass sie überkocht, bin ich in Kenia. Dann bleibt ihr hier und ich sitze in meinem Garten und helfe meinem Dorf. Wir haben in Ungarn einen faschistischen Staat, da werden Juden aus den Orchestern geworfen und keiner regt sich auf.

pf: Kommen wir zu der ganz praktischen Frage, wie man mit den unterschiedlichen Positionen in der Partei umgehen sollte.

Hermlin: Ich halte den Fraktionsbeschluss für ganz großen Quatsch. Mit Beschlüssen löst man das Problem nicht. Entweder man führt eine offene Debatte. Dann hat man aber auch die Gefahr, dass man die verlieren kann. Mit Fraktionsbeschlüssen kann man die Ansichten von Menschen nicht ändern. Ich hätte vorgeschlagen, dass man einen Aufruf mit einigen Persönlichkeiten schreibt, die sich dazu äußern und damit eine Debatte anstößt. Wir haben in unserer Partei mehrere zehntausend Mitglieder. Über Israel wird diskutiert, aber über viel wichtigere Debatten leider nicht. Innerhalb unserer Mitgliedschaft spiegelt sich das wieder, was diese Gesellschaft denkt, fühlt und worüber sie streitet. Auch bei uns gibt es Menschen, die Ausländerfeinde sind, die gegen Sinti und Roma sind und die antirussisch oder antijüdisch eingestellt sind. Es ist aber unsinnig, zu behaupten, dass die Linke einen riesigen Ballast mit sich herumtragen würde, auf dem steht: Antisemitismus. Es ist kein Linksparteiproblem, sondern ein gesellschaftliches Problem. Wer ersteres behauptet, beginnt schon wieder damit, eine neue Lebenslüge zu stricken und die Entschuldung eines Großteils der Bevölkerung zu vollbringen. Die andere Sache ist aber, dass wir uns in unserer Partei um viele entscheidende Fragen gedrückt haben. Wir haben uns vielen Fragen nicht gestellt. Zum Beispiel: Was war mit dem Putsch gegen Gorbatschow? Warum waren alle Leute so glücklich, dass Gorbatschow gestürzt wurde und was hat das mit dem Selbstverständnis unserer Partei zu tun? Oder die Frage, was wollen wir eigentlich? Wollen wir den Kapitalismus ein klein bisschen besser machen oder wollen wir über eine andere Gesellschaft nachdenken? Und geht das beides zusammen? Aber auch: Was macht es für die ganzen Leute im Westen aus, dass sie 40 Jahre völlig unbedeutend waren? Früher in kleinen Zirkeln und nun plötzlich im Bundestag sitzen. Umgekehrt: Was macht es für die Leute im Osten aus, dass sie plötzlich ihr Land und ihre Ideologie verloren haben und als die Verlierer der Geschichte dastehen. Was ist, wenn das Objekt meiner Liebe oder meines Hasses oder mein zu Hause einfach über Nacht verschwindet. Alles Fragen, die die Partei hätte aufnehmen müssen. Stattdessen haben wir Wahlkämpfe geführt und alle möglichen Intrigen gesponnen.

pf: Wie müsste die Debatte denn geführt werden?

Hermlin: So wie ich die Debatte wahrgenommen habe, ist das Tischtuch zerschnitten. Ich will nicht darüber sprechen, wer daran schuld ist. Aber jetzt, nachdem alles gelaufen ist, man übereinander geredet hat, ist es schwer miteinander zu reden. Ich finde es im Übrigen auch fatal, wenn sich die Linkspartei nur noch mit Israel beschäftigt. Sie kann sich das auch nicht leisten. Man muss darüber diskutieren, aber wenn man darüber die Diskussion über die Finanzkrise und über den Afghanistankrieg vergisst, hat die Partei gar keinen Gebrauchswert mehr. Wir hatten eine Diskussion in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, VVN/BdA. Ich bin mit meiner Schwester mit der Intention hingegangen: Da trete ich aus, weil da auch solche sehr anti-israelischen Tendenzen waren. Ich war ganz überrascht — in der Diskussion wurden ganz unterschiedliche Meinungen geäußert, aber sie verlief recht ordentlich. Es gab die Position: Die Israelis sind ganz allein Schuld am Nahostkonflikt. Und ich hab dann gesagt: „Das stimmt nicht, wenn schon sind es beide Seiten.“ Aber es war eine vernünftige Diskussion und anschließend ist man auseinander gegangen, hat sich die Hand gegeben und denkt jetzt weiter nach. Wenn wir nicht umkehren und anfangen uns mit offenem Visier zu begegnen, dann ist diese Partei dem Untergang geweiht. Sie muss sich entscheiden.

pf: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.

Andrej Hermlin ist Swing-Musiker. Mit seinem Orchester spielt er Swing im Stil der 1930er Jahre. Er trat 1990 in die PDS ein und war zeitweilig Mitglied im Berliner Parteivorstand. Hermlin lebt mit seiner Frau Joyce in Pankow und in Thumaita in Kenia. Sein Vater Stephan Hermlin zählte zu den bekanntesten Schriftstellern der DDR.