trennungszeit

Israelische und internationale Linke sollten sich eine Auszeit gönnen

Yossi Gurvitz
So sieht Trennung aus

Ein Merkmal der Berichterstattung über die israelischen J14-Sozialproteste im Sommer dieses Jahres waren die langen Gesichter bei vielen Friedensaktivist_innen: „Aber … aber … aber … ihr redet ja gar nicht über die Besatzung“, beschwerten sie sich bei den demonstrierenden Israelis. Die Proteste wurden immer größer und die internationalen Aktivist_innen immer bitterer.

Während der dritten oder vierten Woche der Proteste schrieb einer von ihnen, es sei ein Kampf „um die Preise von Hüttenkäse“. Ich habe ihn freundlich dazu eingeladen, in der PR-Abteilung von Netanyahu anzufangen. Er war sehr beleidigt und ich hoffe aufrichtig, dass er mir nicht verzeihen wird; denn die Kritik von vielen internationalen linken Aktivist_innen an der J14-Bewegung ähnelte denen der Öffentlichkeitsabteilung der Regierung Netanyahu. Uns wurde erklärt, dass es sich um Proteste von Menschen handele, die im Luxus lebten und wir es versäumt hätten, uns mit der einzigen Sache, die es hier gebe, zu beschäftigen. Netanyahus Büro hätte diese „einzige Sache“ wahlweise den Zweiten Unabhängigkeitskrieg oder den Zweiten Zionistischen Krieg genannt; die internationalen linken Aktivist_innen nennen es einfach „Besatzung“.

Je stärker die Proteste wurden, desto bitterer wurden die Aktivist_innen und verwendeten viel Zeit auf Spott. Dieses Verhalten wirft zwei Fragen auf: Erstens, was sind es für Linke, die so viel Energie aufbringen gegen den Versuch eine sozialdemokratische Politik durchzusetzen, die in der Vergangenheit sehr viel zu einer Annäherung von Israelis und Palästinenser beigetragen hat? Gegen die einzigen Proteste, die es im letzten Jahrzehnt gegeben hat und bei der palästinensische Redner_innen vor einigen hunderttausend Juden und Jüdinnen sprachen. Die zweite Frage ist: Was zur Hölle ist mit eurem Sinn für Solidarität geschehen? Warum ist es nicht möglich, dass ihr etwas guten Willen den Menschen gegenüber zeigt, die Seite an Seite mit euch in der West Bank gestanden und gemeinsam mit Euch riesige Mengen Tränengas inhaliert haben?

Die deprimierende Antwort ist, wir haben es offenbar nicht mit Linken, sondern mit palästinensischen Rechten zu tun. Sie leiden unter ihrem Tunnelblick: Alles, was sie sehen, ist die Besatzung. Als gäbe es kein Israel jenseits dessen, als würden hier keine Menschen leben und atmen und lieben und sterben, die auch andere Dinge im Kopf haben. Die unaufhörliche Forderung an die Protestbewegung, über die Besatzung zu sprechen, lässt den Verdacht aufkommen, dass es nur um eins geht: Die Spaltung der Protestbewegung. Denn dann sind wir wieder rein und gerecht. Zugegeben, wir wären dann wieder nur ein Dutzend Leute, aber ideologische Reinheit schlägt alles.

Das bedeutet natürlich, dass diese Menschen kein Interesse daran haben, irgendeine Art von Ziel zu erreichen. Denn dann müssten sie Bündnisse schließen und die Fähigkeit entwickeln, mit der israelischen Öffentlichkeit zu kommunizieren. Die Aktivist_innen wollen sich nur gegen die Besatzung engagieren, was sie moralisch gut aussehen lässt und ihnen viel kulturelles Kapital einbringt. Man fragt sich, was sie machen, wenn der Konflikt beendet ist und die besten Jahre ihres Lebens darüber vergingen. Sie sehen sich nicht als Partner eines innerisraelischen Kampfes, weil sie davon ausgehen, dass Israelis unter einer Erbsünde leiden. So lange sie sich nicht wie Lady Macbeth von ihrer Schuld befreien, das Büßergewand anziehen und singen „Wir haben gesündigt, habt Erbarmen“, sind sie der Gerechtigkeit nicht würdig. Wir reden nicht von Menschen, sondern von Pappfiguren in einem moralisierenden Rührstück. Das Repertoire der Charaktere ist überschaubar: Wir haben den bewussten Mittäter des Verbrechens; wir haben den Sünder, der die Sünde verleugnet (oft von einem Schauspieler gegeben, der in anderen Stücken als Golem auftritt). Und schließlich haben wir den geläuterten Sünder, der von der heiligen Jungfrau Maria Marvi Marmara erleuchtet wurde. Dieser versucht nun die Menschen von Sodom davon zu überzeugen, dass ein großer Meteor kommen wird am schrecklichen Tag des Jüngsten Boykott-Gerichts. Manchmal kreuzigen ihn die zornigen Einheimischen und damit ist die Rolle perfekt. Verdammt – die Moralstücke des Mittelalters waren anspruchsvoller.

Jetzt wo alles so klar und einfach ist, verärgert jede Abweichung vom Skript die Regie. SchauspielerInnen sollen schließlich keine eigene Meinung haben. Sie sollen keine alleinerziehende Mutter sein, die irgendwie über die Runden kommen muss, bevor sie sich über das Schicksal der PalästinenserInnen Gedanken macht. Sie sollen kein erfolgreicher Ingenieur sein, der, nachdem er Vater geworden ist, herausfindet, dass er noch viel, viel mehr arbeiten muss, wenn er überleben will. Sie sollen kein Polizist sein, der seine Schicht in einem Stück überleben möchte und dabei seine Frau meidet, weil er ihr nicht wieder und wieder erklären möchte, warum er sich keinen besser bezahlten Job sucht. (Was so ziemlich jeder Job außer Unterrichten wäre.) Sie sollen kein Polizist sein, der von den Demonstrierenden hört: „Hey Bulle, Bulle! Auch Du verdienst, es besser zu haben!“

Diese Komplexität die jeder, der hier aufgewachsen ist, versteht, wird von denen nicht anerkannt, die Israel nur aus Gerüchten und von den Masken, die sie für sich selbst gebastelt haben, her kennen. Zudem beschweren sich internationalen Aktivist_innen darüber, dass auf der offiziellen Homepage der Protestbewegung die Golanhöhen als Teil von Israel bezeichnet werden. Oh Grauen, oh Grauen.

Exkurs: Die Golanhöhen wurden 1981 von Israel annektiert. Keine andere Regierung erkennt dies an. Die meisten Israelis jedoch, vor allem die Jüngeren, halten sie für einen Teil Israels. Jeder, der die Rückgabe der Golanhöhen an das Assad-Regime als die oberste Priorität der Sozialproteste betrachtet, versteht nichts von Israel oder versucht willentlich, die Protestbewegung zu spalten. Kurz: Er passt hervorragend in Netanyahus Lager.

Solidarität erfordert harte Arbeit. In den 1880er und 1890er Jahren waren es Farmer im Mittleren Westen der USA, die verstanden hatten, dass sie von beiden Seiten aufs Kreuz gelegt wurden. Die Republikaner kümmerten sich um die Interessen der großen Firmen, die Demokraten waren damit beschäftigt, sie von der schwarzen Arbeiter_innenklasse zu trennen. Das Ergebnis dieser Erkenntnis war ein kurzer Frühling antirassistischer Verbrüderung. Die Kooperation von Schwarzen und Weißen gegen das Establishment fand ihren Höhepunkt, als hunderte weiße Farmer ausritten, um einen schwarzen Gewerkschafter vor einer Bande des Ku-Klux-Klan zu beschützen. Das Bündnis hielt nicht lange stand, der Druck war zu groß. Einige Jahre später waren viele der Farmer selbst pleite und gingen zum Klan. Es ist sehr leicht, uns hassend zu machen. Auch wir erwarten von Israel, dass es die Besatzung beendet. Doch dafür muss sich das Leben der meisten Israelis so verbessern, dass sie überhaupt den Kopf heben und sich umschauen können, um zu sehen, was um sie herum geschieht. Jeder der sagt, dass die Protestbewegung nach sechs Wochen eine 44 Jahre dauernde Besatzung beenden und siebzig Jahre zionistischer Indoktrination rückgängig machen soll, spricht mit gespaltener Zunge.

Israelis sind nie in „Gleichheit“ ausgebildet worden. Der Charakter von Gleichheit ist ihre Universalität. Die Geschichte lehrt uns wenig, aber sie lehrt uns, dass die Idee der Gleichheit, wenn sie einmal eingepflanzt wurde, uns nicht mehr locker lässt. Die Sklaverei war in den Vereinigten Staaten an dem Tag dem Untergang geweiht, an dem die Unabhängigkeitserklärung geschrieben wurde. Und seitdem die Palästinenser und die internationale Gemeinschaft aktiv sind, verkürzt sich die Wartezeit kontinuierlich. Aber noch einmal: Es gibt Leute, die sich dafür nicht interessieren. Es ist Zeit, unser Interesse an ihnen zu verlieren. Die israelische Linke hat sich in den dunklen Tagen der Regierung Sharons mit der internationalen Linken, den Friedensaktivist_innen verbündet. Nun ist es Zeit, nach Hause zu kommen. Die alten Verbündeten sind kaum noch nützlich und richten viel Schaden an. Sie sehen uns nicht als Verbündete, höchstens als Marionetten. Es ist Zeit, sich für diesen „Gefallen“ zu revanchieren.

Und ja, sie werden weinen. Sie sind darin sehr gut. Wir haben Sharon überstanden, wir werden auch das überstehen.

Yossi Gurvitz ist Journalist, Blogger und Fotograph. Er schreibt u. A. für die israelischen Publikationen Calcalist und das Portal Nana. Der Sohn orthodoxer Juden, erblickte, wie er schreibt, im Alter von 17 das Licht und wurde Atheist. Der Text erschien zuerst auf dem alternativen Online-Magazin 972. Der Name des Magazins spielt auf den Vorwahlbereich an, der von Israel und den palästinensischen Gebieten gemeinsam genutzt wird.