Sozialpakt statt Fiskalpakt

Thesen der prager-frühling-Redaktion

Redaktion

Alles ist gut!

Die Bedingungen sind gut: Der Neoliberalismus ist in der Krise. Junge Leute besetzen öffentliche Plätze – sei es an der Puerta del Sol in Madrid oder auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Eine europäische Öffentlichkeit ist auf einmal da. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Deutschen, Französ_innen und Griech_innen, sondern zwischen den Anhänger_innen eines autoritären Europa der vermeintlichen Sparzwänge und seinen Gegnern, zwischen Merkozy und dem griechischen Linksbündnis SYRIZA sowie den Kritiker_innen des Fiskalpakts. Die politische Lage in anderen Ländern wird mit viel Enthusiasmus verfolgt und Angela Merkel mischt sich in den Wahlkampf in anderen Ländern ein als wäre es eine Landtagswahl. Wir leben längst in einer europäischen Gesellschaft mit eigener Öffentlichkeit. Hier ist die Rose, hier tanze!

Postdemokratie in Europa

Das Problem ist allerdings, dass die europäische Gesellschaft immer stärker in einen postdemokratischen Zustand schlittert. Der Gipfel dieser Entwicklung ist der Fiskalpakt. Er verpflichtet alle Mitgliedstaaten zu Einführung einer Schuldenbremse und enthält automatische Sanktionen, wenn Mitgliedstaaten Haushaltsdefizite aufweisen. Diese tiefgreifenden Veränderung hätte eine Modifikation der europäischen Verträge nötig gemacht. Aber die Exekutiven haben den Fiskalpakt am Europarecht vorbei als völkerrechtlichen Vertrag durchgesetzt. Was auf dem Spiel steht, ist der Kern der repräsentativen Demokratie, nämlich, dass Parlamente über die Verwendung von Steuermitteln, über Investitionen und Einsparungen eigenständig entscheiden können. Setzt sich die Logik des Fiskalpakts durch, vollziehen die Parlamente letztlich nur noch eine neoliberale Spardoktrin. Unterschiedliche Positionen politischer Gestaltung können nicht mehr abgebildet werden. Die Demokratie wird entleert. Sie wird zur Technokratenveranstaltung, bei der einzig darum gestritten werden darf, wer am Effektivsten spart, wer Frauenhäuser, Schulen, Universitäten, soziale Sicherungssysteme, Arbeitsverhältnisse – einfach alles, weil es im Haushalt eben immer um alles geht – zusammenstreicht und so behandelt, dass es der EU-Kommission, den Regierungen und ihrem neoliberalen Common Sense gefällt.

Autoritärer Wettbewerbsstaat

Aus der Krise des Neoliberalismus erwachsen Ansätze einer neuen Regulationsform autoritär-etatistischer Prägung. Schuldenfreiheit der Haushalte, Verwaltungs-Best-Practice, Etat-Konvergenzvorgaben, Fachaufsicht nationaler oder lokaler Institutionen durch übergeordnete oder supranationale Institutionen ersetzen den demokratischen Prozess. Derartige Vorab-Entscheidungen fallen zunehmend in demokratisch nur sehr indirekt legitimierten Kommissionen, weniger in Parlamenten oder demokratischen Gremien; nur die Umsetzung obliegt dann den Parlamenten und Regierungen. Der Machtlosigkeit der demokratischen Institutionen entspringt die Abstinenz großer Bevölkerungsteile, insbesondere nicht durchsetzungsstarker Schichten, aber auch – als Zeichen des Widerstands – der direkt-demokratische oder absolute Transparenz einfordernde Impuls.

Europäische Gegeninstitutionen schaffen!

Die Wiedergewinnung eines politischen Momentums kann nur durch die Formulierung eines Bruchs gelingen. Und der muss mehr sein als europäischer Mindestlohn, Börsenumsatzsteuer und Schuldenschnitt. Damit dieser Bruch wirkungsmächtig wird, braucht es AkteurInnen. Große Teile der Linken und die deutschen Gewerkschaften sind allerdings Teil nationaler Wettbewerbsallianzen und setzen auf eine sozial-nationale Politik. Sie wollen den Standort stärken, um Vorteile für ihre Kernbelegschaftsklientel in den großen Industriebetrieben herauszuholen. Eine Strategie, die zwar kurzfristig erfolgreich für Abwehrkämpfe sein mag, mittelfristig aber in eine Sackgasse führen und langfristig die Durchsetzung eines autoritären Wettbewerbsstaats unterstützt, in der alle Länder sozial- und wirtschaftspolitisch gegeneinander gestellt werden.

In dieser Situation kommt es gerade jetzt darauf an, Gegen-Institutionen zu schaffen, selbst welche zu bilden und zu erfinden, die der Demokratieidee noch Haltepunkte bieten und zwar auf zwei Ebenen: Einerseits im außerinstitutionellen Raum. Erst eine europäisch vernetzte Bewegungen (z. B. Occupy, BürgerInnen-Komittes gegen die Finanzmärkte, ein selbstorganisiertes Referendum über die Zukunft der EU) wird die Machtfrage überhaupt auf die Tagesordnung setzen können. Bleiben die Proteste national isoliert oder rein defensiv laufen sie Gefahr an den Machtverhältnissen vorbeizugehen. Andererseits gilt es, Haltepunkte innerhalb der europäischen Institutionen zu suchen, die eine oppositionelle Funktion gegen die autoritäre Wende einnehmen könnten. Die europäische Sozialcharta, die vom Europarat initiiert wurde und weitgehende soziale Rechte festhält, könnte etwa zu einer Gegen-Institution ausgebaut werden. Oder ein selbstbewusstes europäisches Parlament mit einer linken Mehrheit.

Europäische Linke

Dies bedeutet, dass linke Parteien in stärkerem Maße auf die europäische Postdemokratie hin umdenken sollten. Die europäische Linkspartei und deren europäischen Entsprechungen müssten endlich mehr Bezug auf außerparlamentarische Kämpfe nehmen und sich selbst wieder in stärkerem Sinne als Teil sozialer Bewegung begreifen. Es bräuchte auch eine neue Erzählung, die Widersprüche in einen globalen oder zumindest europäischen Kontext einbettet, statt sie nationalstaatlich limitiert zu verhandeln. Es kommt darauf an, ein bisschen mehr Nicht-Partei und weniger staatstragend zu sein. Denkbar ist ja durchaus, dass die LINKE oder die europäische Linkspartei sich als Gegen-Institution erweisen. Perspektivisch geht es um die Herausbildung einer europäischen Linken, die über die Grenzen des Nationalstaats hinaus zu gemeinsamem Handeln fähig wird. Das heißt auch: Die Linkspartei wird sich noch ein weiteres mal umbenennen müssen: in „Europäische Linke“:

Sozialpakt statt Fiskalpakt – Praxis für ein radikal anderes Europa

Den meisten Menschen ist klar, dass europäische Institutionen stetig mehr Einfluss auf Politik nehmen. Nicht erst seit Griechenland-Finanzkrise, Eurorettung und Fiskalpakt spüren sie die Einschläge des Sozial- und Demokratieabbaus näher rücken. Die Linke muss daher den Kampf um die Macht auf europäischer Ebene selbstbewusst aufnehmen. Das heißt, in der politischen Praxis, dass sie Systeme der demokratischen Solidarität gegen die Systeme der Konkurrenz zu etablieren hat. Sie machen Europa als eine Ebene erfolgreicher Gegenwehr und sozialer Standards erfahrbar. Die prager-frühling-Redaktion schlägt daher Projekte für ein soziales und demokratisches Europa vor:

- Streikfonds: Nationale Solidarität ist out, internationale Solidarität ist in. Und wenn schon korporatistisch, dann EU-weit und erfolgreich: Wir wollen einen europäischen Streikfonds der Gewerkschaften. In diesen Fonds zahlen die EU-Gewerkschaftsmitglieder ein. Im Falle von allgemeinpolitischen oder tarifpolitisch wesentlichen Auseinandersetzungen werden mit diesen Streikfondsmitteln die gewerkschaftlichen Kämpfe in einzelnen Ländern unterstützt.

- Die europäische Sozialcharta wird gestärkt und sichert zentrale Lebensrisiken ab. Inhalt sind die grundlegenden Standards der Existenz - Grundeinkommen, Mindestbildung, Mindestversorgung im Krankheitsfall, angemessenes Wohnen – europaweit und einklagbar verankert.

- EU-Krankenversicherung: Wir wollen eine EU-weite Übertragbarkeit der nationalen sozialen Sicherungssysteme. Grundlegend hierfür ist Leben und Gesundheit: Als Einstieg wollen wir eine EU-weite gesetzliche Krankenversicherung nach dem Modell der solidarischen Bürgerversicherung für alle Menschen mit EU-Wohnsitz einführen. Alle BürgerInnen erhalten damit erstmals innerhalb der EU Krankenversicherungsschutz.

- EU-Mitbestimmung: Unternehmen sind europäisch vernetzt und verwoben. Deshalb muss auch die Mitbestimmung europaweit durchgesetzt werden. Wir fordern deshalb verbindliche Regelungen der Mitbestimmung von BeschäftigtenvertreterInnen in Vorständen, Aufsichtsräten und durch Betriebsräte in nationalen Unternehmen sowie standardisierte Vorgaben für Mitbestimmungsregeln bei international agierenden Unternehmen.

- Wir sprachen darüber: In der gesamten EU muss BürgerInnen die Möglichkeit gegeben sein in allen EU-Sprachen ihre Behördenkommunikation zu führen. Das ist nicht nur eine Frage der Verständigung, sondern auch eine Strategie zur Vermeidung von strukturellem Rassismus. Regional häufig gesprochene Sprachen sollten ebenfalls als Behördensprache zugelassen werden.

- Haste mal nen Euro? EU-weit Geld abheben: Europaweite Mobilität des Kapitals heißt für uns nicht, dass Menschen dem Kapital bei der Verlagerung der Produktion an den billigsten Standort folgen. Sondern bei uns folgt das Kapital dem Menschen, dahin, wo es gebraucht wird: Wir wollen die kostenfreie EU-weite Abhebung am EC-Automaten. Ob zum Besuch des Nationaltheaters in Tallin, des Aviva Fußballstadium Dublins, des Lieblingsitalieners in Venedig, beim Bummel auf Athens Plakameile oder vor dem Partyabsturz am Ballermann 6: EU-BürgerInnen können überall kostenfrei Geld abheben. Wenn das die europäischen Banken nicht umsetzen wollen, macht das der europäische Sparkassenverbund.