Weg mit Sarko aber was dann?

Die französische Linke vor den Präsidentschaftswahlen

Susanne Goetze

Seit 1995 hat Frankreich keinen sozialistischen Präsidenten gesehen. Die letzten Jahre wurde das Land von einem der umstrittensten Präsidenten seiner Geschichte regiert. Eine derartige Abscheu gegen Monsieur le président kennt man höchstens noch aus Jahren unter Charles de Gaulle. Michel Rocard, Minister unter Mitterrand, schrieb in einer Biographie, dass die Studenten im Mai 1968 nur noch lachten, als sie bei einer Straßenbesetzung die Ankündigung de Gaulles vernahmen, ein Referendum durchzuführen. Diesen Grad an Delegitimierung hat „Sarko“ noch nicht erreicht. Für erlösendes Gelächter ist es noch zu früh. Sarkozy ist noch immer ein ernster Gegner für seinen aussichtsreichsten Gegenkandidaten, den Sozialisten François Hollande (Parti Socialiste, PS). Der bemüht sich das Bild eines ernsten, vernunftlinken Biedermannes abzugeben. Bis jetzt mit Erfolg: In den ersten Monaten lag der Kandidat in den Umfragen vor Sarkozy. Hollande will vor allem nicht die Fehler seiner Ex-Frau Ségolène Royal wiederholen, die 2007 als Präsidentschaftskandidatin unterlag. Eine Strategie ist, sich Partner zu suchen, um sich möglichst breit aufzustellen. So versuchte Hollande mit den Grünen anzubändeln. Der Preis für den Pakt ist allerdings hoch: Er muss als erster Präsident das Wagnis des Atomausstiegs eingehen. Nach der Vereinbarung mit den Grünen soll der Anteil des Atomstroms von 75 auf 50 Prozent sinken. Das gab nicht nur im konservativen Lager einen Aufschrei. Atomkraft gilt in Frankreich als sozial und ökologisch – zwei Tugenden, die sich Kandidat Hollande eigentlich geben will und nun aufs Spiel setzt. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat er deshalb durchblicken lassen, dass er den Pakt mit den Grünen nicht so genau nehmen will. Zuletzt drohten die Ratingagenturen den Sozialisten sogar indirekt, Frankreich herabzustufen, sollten diese den Atomausstieg wirklich anpacken. Solche Drohungen wiegen in Zeiten der Eurokrise schwer. Hollandes Kritik an den „bösen“ Finanzmärkten und seine Appelle zur „Wiederbelebung der französischen Wirtschaft, des öffentlichen Sektors und der republikanischen Werte“ entlocken den meisten Linkssympathisanten und auch seinen Gegnern dagegen nur ein müdes Gähnen.

Friendly Fire: Linke Intimfeinde

Die Schlacht wird jedoch nicht nur gegen den amtierenden Präsidenten, sondern vor allem in den eigenen Reihen ausgetragen. So stellt die PS sich als einzige Partei dar, die fähig sei, die Wahl zu gewinnen und fordert alle anderen auf, uneingeschränkte Solidarität zu üben. Ein Beispiel ist der Aufruf der sozialistischen Parteivorsitzenden Martine Aubry im Vorfeld bei den nötigen Unterschriftensammlungen für den Präsidentschaftswahlkampf allein für die PS zu stimmen. Das sehen die Parteien links von der PS nicht ein. Sie bescheinigen Aubry und der PS ein mangelndes Demokratieverständnis, schließlich sei Frankreich kein Zwei-Parteien-System. Links von der PS mangelt es nicht an Alternativen. Seit 2008 gibt es eine Opposition aus den eigenen Reihen: Die Parti de Gauche (PG) von Jean-Luc Mélenchon kommt aus dem Lager der „Non“-Sozialisten, die 2005 den europäischen Verfassungsvertrag ablehnten und sich gegen ein neoliberales Europa aussprachen. Der ehemalige PS-Politiker gründete vor vier Jahren nach dem Vorbild von DIE LINKE die PG. Die ideologischen und real-politischen Verbindungen zur deutschen Linken sind eng. Ähnlich wie DIE LINKE versucht auch die PG, die Lücke links von der Sozialdemokratie zu schließen und sich zum wahren Erbe der sozialistischen Gründerväter zu erklären. So hat sich der Parteivorsitzende Mélenchon in einem Pariser Atelier schon mal eine Büste von Jean Jaurès anfertigen lassen – ein Symbol für die Verortung seiner Opposition. Am ehesten könnte man Jaurès mit August Bebel oder Karl Kautsky vergleichen: Er stand für einen gewaltfreien Weg zum Sozialismus und demokratische Wahlen sowie der Arbeit im Parlament nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Der Pazifist Jaurès lehnte die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg ab und wurde daraufhin von einem Nationalisten erschossen. Seitdem ist Jaurès zum Symbol für einen ehrlichen und humanen Weg zum Sozialismus geworden. Dass die „Parti de Gauche“ sich auf die sozialdemokratischen Wurzeln beruft, ist kein Zufall. Mélenchon und seine Anhänger sehen sich als Bewahrer des Erbes Jaurès‘, das durch die Politik der PS in Verruf geraten ist. Denn wie die SPD kämpft auch die PS damit, traditionelle Werte und die „Herausforderungen und Zwänge“ der Globalisierung, Energiewende und der neoliberalen Politik der EU-Institutionen unter einen Hut zu bekommen, was nicht so recht gelingen will.

Mélenchon hingegen ruft seine „Landsmänner“ dazu auf, „Frankreich zu retten“ und Widerstand gegen neoliberale Enteignung zu üben. Angestellte und Arbeiter sollten die Betriebe übernehmen und Kooperativen bilden, um sich gegen das Spardiktat des „Merkel-Sarkozy-Europas“ zu wehren. Das trifft in der Krise den Nerv vieler Linker. Tatsächlich ist auch Mélenchon kein wirklicher Reformer im profunden Sinne: Beim alten Kampf zwischen der „ersten Linken“, den Anhängern von Mitterand, und der „zweiten Linken“, den Getreuen von Michel Rocard, stand der Ex-PSler auf der Seite der ersteren. Während Mitterand für eine traditionell-konservative sozialistische Politik stand, die auf Bewahrung und Modellierung statt auf Sozialismus setzte, stand Rocard für den reformsozialistischen Weg der Dezentralisierung, Selbstverwaltung und Mitbestimmung von Arbeitern und Angestellten. Rocard ist heute längst nicht so radikal wie in den 1960er und 70er Jahren. Mélenchon kommt aus der „konservativen“ Linken, die nun versucht, ihre Werte gegen den Angriff von Globalisierung und neoliberaler Politik zu verteidigen. Die Betonung liegt aber eben deshalb auf Verteidigung. Das erinnert nicht ohne Grund an deutsche Sozialdemokraten und den Gewerkschaftsflügel der Linkspartei, die nach Jahrzehnten der SPD-Mitgliedschaft den eigenen Genossen kündigten, um einen politischen, jedoch keinen theoretischen Neuanfang zu wagen.

Mélenchon und Hollande: Schnee von gestern für die radikale Linke

Die Sozialisten der PS ihrerseits empören sich über die scharfe Kritik des abtrünnigen Sozialisten an Hollande. Vorrangiges Ziel müsse sein, Sarkozy zu schlagen. So denken Mélenchon wie Hollande an Koalitionen. Die Parti de Gauche schloss sich 2009 mit den Kommunisten zur Front de Gauche (Linksfront) zusammen, mit der sie auch in den Wahlkampf zieht. Seitdem hat die Front Zulauf von kleinen Parteien und Intellektuellen erhalten, aber auch Absagen einstecken müssen. Mit den Kommunisten hat sich Mélenchon einen schwachen Partner gesucht. Die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) ist heute eine marginalisierte Partei, die bei den letzten Präsidentschaftswahlen unter zwei Prozent erreichte und nur noch in traditionellen Hochburgen wie der Banlieue Seine-Saint-Denis punkten kann. Noch bis in die 1970er Jahren hatten die Kommunisten eine der größten Anhängerschaften im westlichen Europa, erreichten bei den Wahlen über 20 Prozent und waren für die Sozialisten seriöser Konkurrent und schließlich wichtiger Partner. Diese Allianz trug dazu bei, 1981 dem ersten sozialistischen Präsidenten der V. Republik an die Macht zu verhelfen und der konservativen Epoche seit de Gaulles Machtantritt 1958 ein Ende zu bereiten. Diese Zeiten sind vorbei. Die Front de Gauche knüpft an diese Allianz an, erscheint allerdings wie eine nostalgische Miniaturausgabe.

Für die radikale Linke stellt weder Mélenchon noch Hollande eine Alternative dar. Sie werfen Mélenchon Karrierismus und Nationalismus vor. Zudem nehmen sie dem ehemaligen Sozialisten seine Radikalität nicht ab. So gründete sich 2009 die NPA (Nouveau Parti anticapitaliste), ein Zusammenschluss von Globalisierungskritikern, radikalen Linken und Mitgliedern der ehemaligen trotzkistischen LCR (Ligue communiste revolutionaire). Ihr Kandidat Philippe Poutou wurde schon im Juni gekürt, steht allerdings im Schatten seines populären Vorgängers Olivier Besancenot. Den Antikapitalisten ist die Front de Gauche zu gemäßigt und zu nahe an den Sozialisten: Kandidat Poutou wirft Mélenchon vor, er wolle „nur“ die PS von außen reformieren. Die Anhänger der NPA hingegen können mit den etablierten Sozialisten nichts anfangen. Die Partei ist ein Sammelbecken all jener, die mit dem System der V. Republik sowie der repräsentativen Demokratie im Allgemeinen nichts mehr am Hut haben. Ihre Antworten sind: Verstaatlichung des Bankensektors, Streichung aller Schulden und der Aufruf zum sozialen Kampf über alle Grenzen hinweg. Ihre Arbeit findet vor allem an der Basis statt, in Gewerkschaften, Arbeitskämpfen, für Migranten und in den Université Populaire (Volksuniversitäten), die von NPA-Mitgliedern wie dem Politikwissenschaftler Philippe Corcuff betrieben werden.

Gemeinsam einsam – gemeinsam isoliert

Bei deutschen Betrachtern könnte die Frage aufkommen, warum sich die sogenannte „antiliberale“ Linke in Frankreich – von dem PS-Linken Montebourg über Mélenchon bis zum NPA-Kandidat Poutou - nicht gegen die etablierte Politik zusammenschließen, wie es der linke französische Philosoph Michel Onfray einmal gefordert hat. Diese Frage wird wohl auch in diesem Wahlkampf unbeantwortet bleiben, eine Aussicht auf weitere Zusammenschlüsse gibt es derzeit kaum, Zwietracht dagegen gibt es mehr als genug. Sarkozy muss weg, sind sich alle einig. Ob jedoch der Sozialist Hollande irgendetwas besser machen wird, daran zweifeln viele. Schließlich haben Staatsmänner wie Schröder, Papandreou oder auch Brown die „sozialdemokratische“ Weste in den letzten zehn Jahren nicht mit Ruhm bekleckert. Ein erlösendes Gelächter wird es deshalb vielleicht so oder so nicht geben.

Autorinnenportrait:

Susanne Goetze ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Journalistin in Paris.