das prinzip almosen

Emanzipation in der Behindertenpolitik

Matthias Vernaldi
Klingt so ähnlich, sind aber Alm-Hosen und keine Almosen. Aber schön zu erkennen, das Bier fehlt auch hier. Denn das ist im von Matthias Vernaldi beschriebenen Verwertungszusammenhang Wohlfahrt vorgesehen.

Ich habe eine Krankheit, die Nerven absterben lässt, welche Impulse an die Muskelfasern geben. Meine Muskulatur konnte sich nicht hinreichend entwickeln. Bald begann sie sogar, sich zurückzubilden. Ich lernte nie laufen und bin heute faktisch bewegungsunfähig.

So brauche ich immer einen, der mich kratzt, wenn‘s juckt, zur Toilette bringt, wenn‘s drückt, mich füttert, wenn mich hungert, mir beim Abhusten hilft, wenn‘s röchelt. Ich bin extrem abhängig von anderen. Wenn nicht ständig jemand in meiner Nähe ist, bekomme ich sehr bald Schmerzen und kann in Lebensgefahr geraten.

Diese Hilfe wird mir seit 17 Jahren als persönliche Assistenz gewährt. Das bedeutet, dass ich meinen Assistenten sage, was sie zu tun haben und wie sie es zu tun haben. Ich strukturiere die Arbeit, die an mir getan wird. Seit 12 Jahren bin ich sogar Arbeitgeber und stehe zu meinen Assistenten in einem Vertragsverhältnis. Damit ich Löhne anweisen, Steuern und Versicherungsbeiträge bezahlen kann, bekomme ich vom Bezirksamt eine Summe, die ein wenig niedriger ist, als das, was ein Dienst erhalten würde. Seit 2006 wird das bei mir als trägerübergreifendes persönliches Budget gehandhabt.

Fernsteuerung statt Fremdbestimmung

Extreme Abhängigkeit muss nicht Passivität bedeuten. Auch vor der bezahlten Assistenz konnte ich in einer Thüringer Landkommune halbwegs selbstbestimmt leben. Die nichtbehinderten Mitglieder erbrachten diese Leistung sozusagen aus Solidarität und natürlich, weil sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehen mussten. Auch hier hatte ich einen eher aktiven und die Gruppe prägenden Part inne. Als kleines Kind gelang es mir sogar, meinen Opa, der für seinen Eigensinn berühmt war, fernzusteuern. Er trug mich zu den Stachelbeerbüschen, in den Hühnerstall und sogar die Leiter hoch aufs Garagendach – wohin auch immer ich wollte.

Ein Hilfe- und Abhängigkeitsverhältnis ist also selten so eindeutig, wie das die üblichen Klischees glauben machen: hier der schwache, passive Bedürftige, da der starke, aktive Helfer. Unsere Kultur scheint in der Lage, Strukturen zu entwickeln, die Selbstbestimmung von stark hilfeabhängigen Menschen garantieren. Die Entwicklung der persönlichen Assistenz durch Betroffene und das persönliche Budget zeigen das.

Das ist dem emanzipatorischen Ansatz zu verdanken, der im Westen mit den 68ern, wenn auch zögerlich und inkonsequent, in die Behindertenpolitik Einzug hielt. Die Gestaltung und Gewährung von Hilfen für behinderte Menschen waren bis dahin ausschließlich paternalistischer Natur. Das hatte mit der Ausbildung der Wohlfahrt im Zuge der Industrialisierung zu tun.

Verwertungszusammenhang Wohlfahrt

Die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Anstalten fassten alles, was nicht in den neuen Verwertungszusammenhang passte: Arbeitsscheue, Landstreicher, Trinker, gefallene Mädchen, Kleinkriminelle und eben auch Krüppel, Blinde und Idioten. Sie konnten den meisten tatsächlich Orientierung und Disziplin beibringen, so dass sie von nun an passten. Einige aber konnten nie entlassen werden: Jene, die körperlich oder mental nicht in der Lage waren, selbstständig zu leben. Sie waren Ausgangsmaterial und zugleich Zentrum des neuen Verwertungszusammenhangs Wohlfahrt. Ihre Betreuung legitimierte die Kirchen in einer sich rasant säkularisierenden Welt, stiftete für Mitarbeiter und Spender Sinn und machte Forderungen gegenüber dem Staatssäckel unabweisbar.

Die Gefühlsökonomie der Moderne war darauf angewiesen, auf die Gruppe der Behinderten alle Ängste vor Versagen, Leistungsschwäche und Abhängigkeit zu projizieren. Damit die Ängste dort blieben, mussten die Behinderten dann auch total bedürftig, passiv und abhängig bleiben. Nur so konnte sich die Masse der Bürger im Besitz ihrer Autarkie wähnen. Indem sie halfen, versicherten sie sich ihrer Stärke. Das manifestierte sich in der Segregation durch Anstalten, Heime und Sonderschulen.

Auch wenn es seit 30 Jahren emanzipatorische Ansätze in der Behindertenpolitik gibt, ist der Umgang mit dem Bedürftigen weiterhin paternalistisch geprägt. Sobald angemessene Leistungen kostenintensiv sind (und das sind sie häufig), werden sie nicht selbstverständlich gewährt. Wer nicht glaubhaft argumentiert und Schützenhilfe vom Hausarzt oder dem Sozialarbeiter bekommt, wer nicht hartnäckig bleibt, Widerspruch und den Prozess scheut, hat am Ende einen Rollstuhl, der für die Wohnung taugt aber nicht für die Stadt, oder wird in der Tagespflege untergebracht, obwohl er seinen Alltag selbst strukturieren könnte. Die Tatsache, dass die meisten Leistungen der Behindertenhilfe vom Sozialamt bezahlt werden, lässt Schwerbehinderte nie aus der Bittstellerrolle herauskommen.

Wer, wie ich, die Finanzierung persönlicher Assistenz beantragt, muss meist über seinen Hilfebedarf streiten. Ist es normal, selbst einzukaufen, Rollstuhlbasketball zu spielen, einmal am Tag zu duschen, abends eine Veranstaltung zu besuchen, einen Job zu haben, am Wochenende ins Umland zu fahren, Freunde einzuladen oder auf Toilette zu gehen, anstatt gewindelt zu werden? Aber selbst, wenn man schafft, einen angemessenen Hilfebedarf geltend zu machen, muss man sein Vermögen einbringen.

Assistenz nur mit Renitenz

Ich würde, qualifiziert durch meine jahrelangen Erfahrungen als Arbeitgeber, durchaus im mittleren Management tätig sein können. Trotzdem bliebe mir am Monatsende kaum mehr als die Summe der Grundsicherung, die ich jetzt beziehe. Der überwiegende Teil meines Einkommens müsste zur Finanzierung der Assistenz verwendet werden. Würde ich mit einer Frau zusammen leben, gar verheiratet sein, wäre auch sie betroffen. Außerdem bekäme ich Stunden gekürzt, weil davon auszugehen ist, dass wir einige Zeit am Tag zusammen sind: Sie müsste meine Assistenz mitfinanzieren und gleichzeitig für mich noch welche leisten, natürlich unentgeltlich. Hätten wir Kinder, würden diese nicht nur mit Sicherheit nichts erben, sondern auch ihr Vermögen und Einkommen würden mitbelastet.

Damit Teilhabe umfänglich möglich ist, muss eine andere Bewilligungspraxis entstehen. Prioritär muss die Deckung des individuellen Hilfebedarfs sein. Das steht zwar so in den Sozialgesetzbüchern, vor Ort herrscht aber ein strenges Kostendiktat. Es kann nicht sein, dass nur wenige Hartnäckige und Gutinformierte das Notwendige erhalten, die meisten aber unterversorgt, fremdbestimmt und isoliert bleiben. Bei der Bedarfsermittlung muss von vornherein klar sein, dass es nicht darum geht, einen Menschen satt und sauber zu halten, sondern um ein Leben mit vielfältigen sozialen Bezügen – ähnlich dem eines Bürgers ohne Behinderung. Und nicht zuletzt ist eine vermögensunabhängige Finanzierung erforderlich.

Emanzipatorische Sozialpolitik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Hilfe nicht als gnädige Herablassung, als Almosen, das man erbetteln muss, gewährt wird. Vielmehr stellt sie ein Recht dar, das eingefordert werden kann und dessen Umsetzung und Wirklichkeit von den Betroffenen selbst gestaltet wird.

Matthias Vernaldi ist Mitbegründer einer Landkommune in der DDR. In Hartroda in Thüringen lebten seit 1978 behinderte und nichtbehinderte Lebenskünstler und Aussteiger auf einem ehemaligen Pfarrhof – zum Großteil von den Renten und den Pflegegeldern der Behinderten. Heute wohnt er in Berlin und ist Redakteur bei „mondkalb — Zeitschrift für das organisierte Gebrechen“. (www.das-organisierte-gebrechen.de[1]) Er gründete die Initiative „Sexybilities – Sexualität und Behinderung“, ist Vorstand von ambulante dienste e.V. und Mitglied des Berliner Landesbeirates für Menschen mit Behinderungen.


Links:

  1. http://www.das-organisierte-gebrechen.de/