schwärmen für die neue soziale idee!

Thesen der prager-frühling-Redaktion

Redaktion
Maschinenwinter: Die Fabriken ziehen nach Süden ...

1. Maschinenwinter und Roboterfrühling

.. oder sie ändern ihre Gestalt. Fertigungsanlagen der Daimler AG in Fuzhou und in Sindelfingen.

Die historisch letzte große Transformationszeit war das frühbürgerliche Zeitalter. Damals wünschte die Bürgerschaft zunächst ihre Erhebung in den adligen Stand, wünschte ihre Erhebung in die ökonomische Stellung der adligen herrschenden Klasse, ahmte ihre Lebensart und ihr Auftreten nach – bis es andersherum Mode wurde. Die heutige politische Forderung, es möge „Reichtum für alle“ geben, erinnert an diesen Ansatz. Gleichermaßen naiv wie verständlich, schlummert in der Forderung ein Wunsch nach ökonomischer Gleichheit unter Beibehaltung der grundsätzlichen Produktionsverhältnisse. Doch auch der Sieg der bürgerlichen Gesellschaft kam ehemals aus einer anderen Richtung. Es war die Durchsetzung bürgerlicher Produktionsformen und der dazu passenden rechtlichen und moralischen Regeln, welche die „Vermögenslagen“ ganz automatisch änderte.

Die Gesellschaft hat sich immer geändert. Heute steckt die kapitalistische Ökonomie in einer tiefen Krise. Staat und politisches System nehmen zunehmend postdemokratische Züge an. „Globalisierung“ und „neue Arbeitsverhältnisse“ sind Realität. Das erste Schlagwort beschreibt die globale Verbreitung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise. Das zweite Schlagwort bezeichnet eine Transformation der Arbeitsverhältnisse, die sowohl von der rasenden Effektivierung der Produktionsmittel durch Computernetzwerke und Automatisierung als auch durch veränderte Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit geprägt ist. Der bisher erprobte Handlungsraum für linke Politik, der Nationalstaat, verändert seine Form. Durch das Zusammenspiel von neoliberaler Globalisierung und dem Abbau demokratischer und sozialer Rechte ist fraglich, ob die westlichen Verfassungsstaaten überhaupt noch als Sozialstaaten verstanden werden können.

Das Zentrum der ökonomischen Entwicklung sind die postindustriellen Ökonomien des Westens und der aufstrebenden Schwellenländer. Hier herrscht Maschinenwinter oder Roboterfrühling. Die Fabriken ziehen nach Süden und Osten oder aber sie ändern ihre Gestalt. Wo früher Proletarierrufe durch Ölgeruch dröhnten, flimmert heute Energiesparlicht durch menschenleere Hallen. Doch dieselben neuen Arbeitsverhältnisse, die der kapitalistischen Ökonomie die rasantesten Rationalisierungssprünge beschert haben, können zum Ausgangspunkt für die Überwindung kapitalistischer Produktion werden. In den neuen Arbeitsverhältnissen erhält die Produktion von Wissen eine neue Qualität, nämlich die eines Schmierstoffes. Die Wertschöpfung ist zunehmend in den Bereich der Ideenproduktion verlagert. Fabrik und Kapital rechtfertigen nicht mehr eine stärkere ökonomische und politische Stellung ihrer Besitzer_innen. Postkapitalismus klopft an die Tür. Es zeichnet sich eine konkrete Utopie ab: Menschen arbeiten als freie Assoziationen, die je nach Aufgabenstellung Teams bilden, ergänzen, neu gruppieren oder auflösen. Dies eröffnet ein emanzipatorisches Potential, das sich jedoch nicht automatisch realisiert. Es braucht Subjekte, die das Klopfen hören und den Türöffner betätigen.

2. Für eine neue soziale Idee!

Die Linke muss sich auf diese neue Konstellation einstellen. Die (andere) postkapitalistische Welt wird nicht in der ohnehin verbauten Rückkehr zum fordistischen Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung möglich. Der Türöffner zum Postkapitalismus ist „die neue soziale Idee.“ Darunter verstehen wir ein Ensemble von Forderungen, die den Übergang in andere gesellschaftliche Logiken organisieren. Dies gilt in folgenden Hinsichten:

- Soziale Gleichheit statt Konkurrenz:Die neue soziale Idee stellt die Gleichheit der Individuen in den Mittelpunkt ihrer Politik. Sie geht davon aus, dass alle Menschen in ihrer Differenz gleich sind – unabhängig von Herkunft, Job, kultureller Orientierung, Arbeitswille, Alter, physischen und psychischen Besonderheiten. Diese Gleichheit wird nur durch einen kulturellen Bruch möglich, der die Zentralstellung des Konkurrenzprinzips und des Statusprinzips beendet. Die Gesellschaft der ungleich Gleichen ist für alle, oder wenigstens für die meisten lebenswerter: Die Angst davor in irgendeiner Hinsicht ungleich zu sein, spielt eine immer kleinere Rolle, weil die Gleichheit angstfreie Ungleichheit erst ermöglicht. Die Projekte, die der Gleichheit zum Durchbruch verhelfen sollen, sind der Einkommenskorridor mit einem verbindlichen Mindest- und einem Höchsteinkommen für alle sowie die Durchsetzung des Ius Soli, wie es schon die Jakobiner 1793 entworfen haben: Jeder, der hier lebt, wird Staatsbürger_in. Jeder, der hier lebt, hat Anspruch auf eine materielle Absicherung, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Keiner braucht mehr als 40000 Euro im Monat. Die Spreizung zwischen arm und reich zu begrenzen, ist Grundlage für Demokratie. Erst dann kommt die soziale Gerechtigkeit ins Spiel. Erst wenn grundlegende Gleichheitsnormen verwirklicht sind, stellt sich die Frage, ob und in wie weit bestehende Kontexte, Lebenslagen, Individualsituationen Berücksichtigung finden können. Die Klage, dass die bestehenden Normen nicht „gerecht” sind, macht nur vor dem Hintergrund existierender Gleichheit Sinn. Das ist die Dialektik von Gleichheit und Gerechtigkeit.

- Demokratie statt Oligarchie:

Die neue soziale Idee setzt der Herrschaft der Wenigen die nicht nur formaldemokratisch gedachte Selbstbestimmung der Vielen entgegen. Das ist der Weg in eine andere soziale Logik. Denn dadurch wird die „neue soziale Idee” reflexiv: Welche Richtung sie nehmen soll, kann immer wieder korrigiert werden. Die neue soziale Idee ist kein in Stein gemeißelter Entwurf einer veränderten Gesellschaft, sondern ein Prozess, der sich selbst zum Thema machen kann. Die neue soziale Idee setzt daher auf qualitativ höhere Beteiligungsformen an den gesellschaftlichen Prozessen, die hierarchische Ebenen abflachen und Beteiligungshürden abbauen. Die technischen Voraussetzungen sind gegeben; politisch warten sie auf ihre Umsetzung.

- Solidarische Ökonomie statt ökonomische Landnahme:

An die Seite unserer Forderungen nach Nivellierung der Vermögenslagen gehört eine zweite Forderung. Es ist die Förderung neuer nichtwarenförmiger Tätigkeit, aus der heraus postkapitalistische Produktionsformen erwachsen können. Formen solidarischer Ökonomie gibt es bereits heute: Wohnen in Genossenschaften, Arbeiten in Kollektivbetrieben, die Wissensproduktion in freien Assoziationen. Solche Lebens- und Arbeitsformen zu fördern, ist die eine Aufgabe, die andere ist es, Vergütungsmodelle zu schaffen, welche die Bezahlung der Erwerbstätigkeit nicht unmittelbar an den Markterfolg koppelt. Hier bietet sich der Bereich der Kunst und Kultur gerade zu an. Die Konsument_innen bezahlen ihren Konsum mittels einer Kulturflatrate, die dazu verwandt wird, diejenigen zu entlohnen, die Kulturgüter schufen.

3. Transformation, Reform, Revolution!

Bei der „neuen sozialen Idee” geht es darum, unter bestehenden Bedingungen Veränderungen herbeizuführen, die der oben genannten neuen Logik zum Durchbruch verhelfen. Sie ist deshalb als Transformationspolitik zu begreifen. Dies löst aber sowohl Reformpolitik als auch Revolutionspolitik nicht auf, sondern überführt beide in eine neue Einheit. Reformpolitische Veränderungen erzielen Veränderungen im Rahmen bestehender Handlungsspielräume. Sie sind nicht gering zu schätzen. Und auch nicht zu überfordern: Die neue soziale Idee wird nicht einfach als Gesetzesentwurf durchgesetzt werden können, weil mit ihr eine kulturelle Transformation der Gesellschaft einhergeht. Bisher jedenfalls legitimieren sich gerade sozialpolitische Maßnahmen vor dem Hintergrund von Statussicherung und der Logik individuell erworbener Versicherungsleistungen. Natürlich gilt es, die darin enthaltenen Absicherungsdimensionen gegen Kürzungsambitionen zu verteidigen. Die neue soziale Idee organisiert aber auch die Abwehr solcher Kürzungen im Hinblick auf einen egalitären, demokratischen Sozialstaat. Sie versucht also, den Übergang zu einer anderen gesellschaftlichen Logik möglich zu machen. Dies wäre ein transformatorischer Anspruch. Aber auch er löst die normalerweise mit dem Begriff der Revolution belegten Forderungen nach einer vollkommen anderen Gesellschaft, nach radikalen Brüchen und Zurückweisungen nicht auf. Auch sie haben einen Eigenwert, der direkt auf Transformation und Reform sein Licht wirft. Indem revolutionäre Politik etwas ganz Anderes jetzt und sofort fordert, öffnet sie den Spielraum für reformpolitische Verbesserungen und transformatorische Übergänge. Auf den Seiten 30 und 31 haben wir einige Projekte, die sich zwanglos aus der neuen sozialen Idee ergeben können, skizziert.

4. Transnationale Linke

Eine moderne Linke heult nicht, wenn das Kapital globalisiert. Es existieren keine Barrieren mehr, die einer effektiven globalen Vernetzung der Linken entgegenstehen – außer den gedachten. Weder Sprache noch Distanz könnten uns daran hindern, eine globale linke Politik zu beginnen. Die Spaltung der Linken droht nicht bei aufgeheizten Parteitagen der LINKEN. Sie ist noch globale Realität und muss überwunden werden. Die neue soziale Idee funktioniert nur global oder sie funktioniert nicht.

5. Kollektive Entscheidung statt demokratischer Zentralismus

Wissensarbeit wird zunehmend hierarchiearm organisiert sein. Zentrale Planungen und Weisungen behindern die Suche nach Erkenntnis und guten Ideen. Sie institutionalisieren Egoismen und Eitelkeiten. Das gilt für alle Bereiche menschlicher Tätigkeit. Demgegenüber befördert die gemeinsame Praxis Wissensmehrung und den Austausch von Perspektiven. Auch innerhalb der Linken sorgen institutionalisierte Egoismen und Eitelkeiten für eine Blockade von wertvollen Gedanken. Organisationstalent, Ellenbogen und riesengroße Klappe nützen in Parteien oft sehr viel mehr als Nachdenklichkeit, Ehrlichkeit und Sensibilität. Netzwerke in der Partei dienen heute vor allem der gegenseitigen Vorteilsverschaffung und weniger der gemeinsamen Suche nach überzeugenden politischen Ideen.

Die Linke sollte den Begriff des Netzwerks anders formulieren. Ein Netzwerk ist ein Produktionsmittel UND eine Arbeitsweise. Die moderne politische Form entspringt der modernen Weise der Produktion. Die Netzwerk-Form alleine ist jedoch kein Heilsbringer. Sie wird die spannungsreichen Widersprüche, denen sich eine sozialistisch-oppositionelle Partei ausgesetzt sieht, wenn sie am politischen System partizipiert, nicht auflösen. Die Netzwerk-Form kann jedoch besser auf die Komplexität der Gegenwart und veränderte Partizipationsansprüche reagieren, an denen ältere, hierarchische Entscheidungsstrukturen scheitern müssen.