03.02.2013

Nachdenken übers Höchsteinkommen

Wie eine Forderung einem Provinzjournalisten und einem Linkskeynesianisten den Kopf verdreht.

Christiane Graf und Jörg Schindler

Knapp eine Woche, nachdem WELT ONLINE als Erste über den vorläufigen Entwurf des Wahlprogramms der Linkspartei berichtete und nichts anderes zu skandalisieren wusste als die Forderung nach einem Tempolimit von 120 km/h auf deutschen Autobahnen, gelang einem Lokalredakteur der Mitteldeutschen Zeitung der ganz große Coup.

Der beschränke bürgerliche Horizont ...

Auf Seite 24 stieß er im zunächst nur für den Parteivorstand bestimmten Rohentwurf des Wahlprogramms der Parteivorsitzenden auf folgende Passage, die ihm noch kommunistischer schien als der versteckte Hinweis auf das historisch belastete Verhältnis der LINKEN zur Reisefreiheit, den das intellektuelle Flaggschiff des Springerkonzerns ausgemacht hatte:

“Unserer Forderung nach Mindestlöhnen stellen wir die nach einer Obergrenze von Einkommen zur Seite: Es ist nicht gerecht, wenn der (meist männliche) Vorstand eines DAX-30 Unternehmens im Durchschnitt das 54-fache dessen erhält, was seine Angestellten verdienen. Wir schlagen vor, dass niemand mehr als 40-mal so viel verdienen sollte, wie das gesellschaftliche Minimum – bei der derzeitigen Verteilung wären das immer noch 40.000 Euro im Monat.”

Nun wollen wir uns an dieser Stelle nicht über einen Provinzjournalisten lustig machen, der in seiner politischen Begrenztheit die realpolitische Umsetzung dieses Passus nur als 100%-Steuer denken konnte. Aber merkwürdig ist es schon, wurde doch nur eine Seite zuvor das Steuerkonzept sehr konkret dargestellt:

“Geringe und mittlere Einkommen sollen entlastet werden, indem der Grundfreibetrag auf 9 300 Euro erhöht wird. Monatliche Bruttoeinkommen bis 6 000 Euro werden entlastet, indem die ‘kalte Progression’ im Tarifverlauf der Einkommenssteuer geglättet wird. Der Spitzensteuersatz soll ab einem Einkommen von 65 000 Euro pro Jahr wieder auf 53 Prozent erhöht werden. Jeder Euro Einkommen über einer Million jährlich wollen wir mit einer Reichensteuer von 75 Prozent besteuert.”

Vielleicht hätte dem Journalisten dieser Widerspruch gar nicht auffallen können, weil ihm nur die erste zitierte Passage zugespielt wurde. Kannte er aber den Absatz zum Steuerkonzept, hätte er sich fragen müssen, ob eventuell auch andere Möglichkeiten bestehen, hohe Einkommen zu unterbinden, als durch eine Änderung des Einkommensteuergesetzes, denn es gibt durchaus verschiedene Varianten. Für die politisch Unkreativen hier ein paar Ideen:

1.) Das bürgerliche Gesetzbuch regelt die Sittenwidrigkeit von Verträgen. Wäre es nicht möglich, gesetzlich zu verbieten, dass UnternehmenseigentümerInnen, Beschäftigte und KundInnen von ManagerInnen durch zu hohe Gehälter, Boni und Sondervergütungen übers Ohr gehauen werden? Hin und wieder wird in der aktuellen Diskussion diesbezüglich zu bedenken gegeben, dass derartige gesetzliche Regelungen nicht verfassungskonform seien. JuristInnen werden sich gegebenenfalls sicherlich damit beschäftigen. Aber wenn sich sogar Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) über eine Verselbstständigung der Gehaltsfindung von ManagerInnen beschwert, die den Verdacht der Selbstbedienung nahelege und selbst er gesetzliche Regelungen als letzte Konsequenz nicht ausschließt, sollte man doch zunächst von der grundsätzlichen Möglichkeit einer verfassungskonformen Einkommensbegrenzung ausgehen dürfen - abgesehen davon, dass dies bei der Bankenrettung etwa der Commerzbank durch Gesetz sogar praktisch umgesetzt wurde, und zwar - Überraschung! - auf 500.000 Euro jährlich.

2.) In der Regel stimmen die GewerkschaftsvertreterInnen in Aufsichtsräten den absurd hohen Gehältern von ManagerInnen zu. DGB-Chef Michael Sommer, der selbst im Aufsichtsrat der Telekom sitzt, gab im März 2012 folgende Rechtfertigung zu Protokoll: “Jeder Fernmelde-Techniker im Konzern weiß, was Obermann verdient, der gönnt es ihm auch.” Im Jahr 2011 waren es übrigens 3,27 Mill. Euro, die er dem Telekom-Chef gönnte. Und IG-Metall-Chef Berthold Huber, Mitglied im VW-Aufsichtsrat, findet die 17 Millionen für VW-Chef Martin Winterkorn innerhalb des bestehenden Vergütungssystems bei VW auch irgendwie in Ordnung. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit wäre also, dass sich die Forderung im Entwurf des Wahlprogramms an die Aufsichtsräte der ArbeitnehmerInnenseite richtet, ManagerInnengehältern über 500.000 Euro nicht zuzustimmen.

3.) Eine Gehaltsgrenze für ManagerInnen von Staatsunternehmen, wie sie François Hollande, der sozialdemokratische Staatspräsident Frankreichs, für französische Staatsunternehmen vorgeschlagen hat, könnte auch für Unternehmen eingeführt werden, an denen der deutsche Staat beteiligt ist. Auch diese Interpretation wäre zulässig.

4.) Auch wenn Linke in der Regel Moral zu Recht für kein gutes Instrument zur Gestaltung marktförmiger Prozesse halten, wäre der Passus durchaus auch als moralischer Appell interpretierbar. Dafür spricht, dass er nicht mit konkreten politischen Forderungen untersetzt war. Und DIE LINKE wäre mit diesem moralischen Appell sogar in ausgesprochen guter Gesellschaft: “Wir müssten in unserer Zeit des Überflusses und des Bewusstseins für die Grenzen des Wachstums auch Überlegungen anstellen, wie Obergrenzen von Einkommen aussehen sollen. Sonst droht die Gefahr, dass die Gesellschaft durch soziale Spannungen auseinandergerissen wird. Zudem trägt die Konzentration von Marktmacht auf einige wenige Multis zur Ungleichverteilung von Einkommen bei.” Wer sagt dies? CDU-General Hermann Gröhe würde vermutlich auf Kim Jong Un tippen. Aber es war Bischof Stephan Ackermann aus Trier, der diese Worte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 31.12.2012 wählte.

... ist manchmal genauso weit wie der linkskeynesianische.

Kaum machte die Meldung über die 100%-Steuer der Mitteldeutschen Zeitung die Runde, hieb auch ein gewisser Jens Berger in die Tasten, seines Zeichens Autor der in linken Kreisen zu Recht geschätzten Nachdenkseiten. Der Nachdenker jedoch bestärkte die Vorsitzenden der LINKEN keineswegs darin, eine gesellschaftlich notwendige Debatte über Einkommensgerechtigkeit angestoßen zu haben, wie man hätte annehmen können. Schließlich war die durchschnittliche Einkommensspreizung in den Unternehmen in den 1970er Jahren 1:10, während die ManagerInnen sich heute auch schon mal das 100-fache eines Durchschnittslohns genehmigen.

Offensichtlich nicht ganz so gut aus Parteikreisen versorgt wie sein mitteldeutscher Kollege, fiel ihm nichts Besseres ein, als in das gleiche beschränkte Horn zu stoßen, und titelte ungeprüft: “100% Spitzensteuersatz? Was für eine Schnapsidee![1]” Dann rechnet der Autor vor, wie wichtig das Einkommen des Spitzenfußballers Zlatan Ibrahimović vom französischen Spitzenreiter FC Paris Saint-Germain für den französischen Sozialstaat sei: 56 Millionen Euro brutto - finanziert durch einen Ölscheich. Schließlich könnten allein dank des Einkommens des von Jens Berger zum Ballartisten hochgejubelten Stürmers im fortgeschrittenen Fußballalter für 42 Millionen Euro soziale Wohltaten finanziert werden. Wäre der Vorschlag hingegen Wirklichkeit, den er - wegen der Verletzung der ersten Journalistenpflicht (Recherche!, Recherche!, Recherche!) - fälschlicherweise der LINKEN zuschrieb, so bestünde kein Anreiz mehr für Vertragsabschlüsse über ein Einkommen, das eine halbe Millionen Euro übersteigt. Da der Nachdenker offenbar Fußball mag, präsentiert er folgendes Beispiel für Deutschland: Bayern-Star Sebastian Schweinsteiger würde sich im Fall der 100%- Einkommenssteuer wohl kaum ein Einkommen vom deutschen Rekordmeister zusichern lassen, das so hoch ist, dass er davon 4,7 Millionen Euro Steuern zu zahlen habe. Vielmehr würde das Brutto-Einkommen von Schweinsteiger nur noch 500.000 Euro betragen, weil sowohl der Spieler als auch sein Arbeitgeber keinen Anreiz mehr hätten, ein höheres Einkommen zu vereinbaren, weil der Staat jeden Euro darüber hinaus sowieso wegbesteuern würde. Vulgo - so der linkskeynesianische Kurzschluss - sei die LINKE dafür verantwortlich, wenn die Steuereinnahmen um 4,45 Million auf ca. 250.000 Euro zurückgingen. Es ist tatsächlich eine Schnapsidee, der LINKEN ein Interesse an einer Politik sinkender Steuereinnahmen zu unterstellen, welche auch Kürzungen im sozialen Bereich zur Folge hätte. Auch wenn er es sich dann doch nicht explizit zu schreiben traut, suggeriert Jens Berger hier auf perfide Weise, dass die LINKE letztlich für Sozialkürzungen verantwortlich zu zeichnen wäre. Seine Empfehlung wäre offenbar, höhere Millioneneinkommen für ManagerInnen und Fußballer zur Rettung des Sozialstaats ins Wahlprogramm aufzunehmen.

Aber mal angenommen, es gäbe die geforderte Einkommensbegrenzung, weil die LINKE entgegen Jens Bergers Erwartung bei den nächsten oder übernächsten Wahlen so stark geworden ist, dass sie eine Begrenzung der Einkommen durchsetzen konnte. Was würde geschehen? Da sehr gut verdienende Fußballspieler aufgrund ihrer relativ geringen Zahl volkswirtschaftlich kaum relevant sein dürften, möchten wir an dieser Stelle das Beispiel des Vorstands eines DAX-Konzerns nennen: Vorstände in DAX-Konzernen verdienen durchschnittlich ca. 3,2 Millionen Euro. Was passiert, wenn - sagen wir fünf - Vorstandsmitglieder eines DAX-Konzerns “nur” noch 500.000 Euro statt 3,2 Millionen Euro erhalten? Dann hätte der Konzern auf einen Schlag 13,5 Millionen Euro eingespart (wohlgemerkt, bei einer Gehaltskürzung, die nur fünf Beschäftigte betrifft). In unserem Beispiel sind mehrere Varianten möglich:

1.) Das Geld wird investiert, was zur Belebung der Wirtschaft führt, was wiederum die Erwerbslosen, die auf eine Belebung des Arbeitsmarktes hoffen, erfreuen dürfte. Die Sozialausgaben sinken, die Steuern steigen - das wäre gut für den Staatshaushalt. Möglicherweise wird das Geld sogar für die Entwicklung ökologisch nachhaltiger Produkte verwendet. Das muss zwar nicht sein, wäre aber für alle schön.

2.) Das Geld wird an die Beschäftigten verteilt. Nun führt die Verteilung von 13,5 Millionen Euro bei 100.000 oder mehr Beschäftigten zu keinem großen Gehaltssprung, aber immerhin würde in diesem Fall jeder zusätzliche Cent, der an normal oder gering verdienende Beschäftigte geht, nachfragerelevant.

3.) Das Geld wird an die KundInnen verteilt: Wenn Autos, Telefongebühren oder Turnschuhe billiger werden, entsteht auch hier ein nachfragerelevanter Effekt.

4.) Das Geld wird an die AktionärInnen als Dividende verteilt: In dieser Fall wird sicherlich auch das Einkommen des einen oder anderen superreichen Kapitalbesitzers vermehrt. Aber dort, wo andere Unternehmen Anteile halten, wird deren Gewinn gesteigert, der nicht über absurde Vorstandsgehälter privatisiert werden kann. Da auch Lebensversicherungen und Pensionskassen an Unternehmen beteiligt sind, würden letztlich Renten und Pensionen aufgebessert - was sich wiederum als nachfragerelevantes Einkommen darstellen würde.

Im Fall einer Umsetzung der von der LINKEN geforderten Einkommensbegrenzung würden also die eingesparten Millionen mit hoher Wahrscheinlichkeit investiert, für höhere Löhne verwendet, zur Preissenkung genutzt und an die Aktionäre verteilt. Jeder Keynesianer und jede Keynesianerin - außer Jens Berger von den Nachdenkseiten - wäre hoch erfreut, sähe er ja seine Annahme bestätigt, dass eine höhere Nachfrage zu einer blühenden und krisenfreieren Volkswirtschaft führt. Warum Jens Berger nun aber die sekundäre Verteilung über Steuern der primären Verteilung der Einkommen direkt im Produktionsprozess vorzieht, bleibt sein Geheimnis. Als Fan des Grundeinkommens, die konsequenteste Form der sekundären Einkommensverteilung, ist er bisher zumindest noch nicht aufgefallen.

Im Übrigen: Nur die Einfältigen unter den Wirtschaftsweisen meinen, dass das Geld, das der benannte Ölscheich nun nicht mehr in Fußballer-Gehälter oberhalb der Halbmillionen-Jahresgrenze investiert, plötzlich weg - sprich: steuerlich nicht verfügbar - sei. Tatsache ist vielmehr: Das Geld hat jetzt halt ein anderer. Wohlgemerkt, es handelt sich hier um Geld, das, worauf der LINKEN-Vorsitzende Bernd Riexinger bereits richtigerweise hinwies, für dringend notwendige gesellschaftliche Investitionen gebraucht wird. Oder sollen etwa die Energiewende, die notwendige Bildungsoffensive zur Dynamisierung der dritten industriellen Revolution, aber auch die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen in Städten und Gemeinden durch ein bisschen Steuerschrauberei zwischen 45% und 49% reingeholt werden? Mit anderen Worten: Wer derartige Extremgehälter weiterhin zulassen will, lässt auch zu, dass hohe Summen gesellschaftlich nutzlos geparkt werden beziehungsweise mittels Spekulation auf den Finanzmärkten Staaten ruinieren oder Nahrungsmittelpreise explodieren lassen und damit vernünftige wirtschaftliche Entscheidungen blockieren - so drastisch muss man das angesichts der drängenden Probleme nennen.

Wir sehen also, ein Höchsteinkommen ist eine tolle Sache, wenn man seinen Kopf zum Denken benutzt, statt ihn auf linkskeynesianischen Dogmatismus zu reduzieren. Schade eigentlich, dass die ebenso prägnante Forderung im Entwurf des Wahlprogramms der LINKEN, die Forderung nach einem unternehmensbezogenen Höchstlohn - wie ihn die LINKE übrigens auch in ihrem Erfurter Parteiprogramm fordert - dadurch etwas untergegangen ist. In Partei- wie Wahlprogramm heißt es nämlich:

“Die Einkommen von Managern sollen fest an die Einkommen einfacher Beschäftigter gebunden werden. Deshalb fordert DIE LINKE, dass ein Managereinkommen das Zwanzigfache eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in der untersten Gehaltsgruppe nicht überschreiten darf.”

Ob sich Jens Berger von den Nachdenkseiten traut, diese von Oskar Lafontaine durchgesetzte Formulierung auch so durch den Kakao zu ziehen, wie die imaginäre 100%-Steuer-Forderung? Zlatan jedenfalls könnte nach dieser Regel nur dann 56 Millionen Euro verdienen, wenn der Platzwart des Stadions 2,8 Millionen erhält. Diese Schnapsidee gilt es doch bestimmt auch zu bekämpfen, oder, Jens Berger? Also, hau in die Tasten!

Links:

  1. http://www.nachdenkseiten.de/?p=16045