01.04.2013

Woodstock, Revolution und Routine

30.000 Aktivisten auf dem Weltsozialforum: Viel Folklore und wenig Strategie

Susanne Götze

Das Gelände der Uni Tunis ist nicht gerade einladend. Zwischen Müllhaufen und Imbissbuden schallt aus Lautsprechern „Comandante Che-Guevara“ und spanische Reggaemusik. In endlosen Zeltstraßen reihen sich hunderte Stände sozialer Organisationen, Stiftungen, Pfadfindergruppen aneinander. Ein Marktplatz des Sozialen, Guten, Gerechten.

Die Stimmung dieses 11. Weltsozialforums ist drei Tage lang von den tunesischen Teilnehmern angeheizt worden: Überall wurde getanzt, skandiert, gefeiert und unter Gejohle Fahnen und Symbole zur Schau gestellt. Doch trotzdem regierte auf den Abschlussveranstaltungen eine Art Ratlosigkeit: Wie geht es weiter? Wie kann man global zusammenarbeiten? Wie kann man mobilisieren? Wie das Bewusstsein „der Massen“ wecken? Gegenüber der Macht von Regierungen und multinationalen Konzernen wirkten die verzweifelten Warnungen, erschreckenden Berichte und eindringlichen Aufrufe in den runtergewirtschafteten Seminarräumen der Uni Tunis hilflos. Jeder hatte hier eine Stimme, doch statt wirklichen Diskussionen folgten Wortbeiträge auf Wortbeiträge ohne Zusammenhang und dann war die Zeit auch schon vorbei. Zu vertiefenden oder strategischen Diskussionen kam es selten, nach zweieinhalb Stunden Workshop waren die meisten Zuhörer von den vielen Infos und Erlebnissen derart deprimiert und ausgelaugt, dass der Aufruf zu gemeinsamen Aktionen und Strategiedebatten kaum gelingen konnte, zumal auch dafür kaum die zehn übrigen Minuten auseichten. Wie man dem kapitalistischen Feind da draußen das Handwerk legen kann, war kaum ein Thema, nur dass man es tun muss, ist allen klar.

„Wir haben keine Zeit zu diskutieren und können alles immer nur anreißen“, beschwert sich ein Teilnehmer aus Mali. Tatsächlich hatte man drei Tage lang das Gefühl, dass viele Sprecher vor allem die Leidensgeschichte aus ihrer Heimat loswerden wollen. Die Teilnehmer redeten miteinander als müssten sie sich gegenseitig von der Wichtigkeit ihrer Sache überzeugen. Doch wer zum Sozialforum reist, ist in der Regel schon von ‚der guten Sache‘ überzeugt. Jeder hat eine Geschichte, die noch drastischer zeigt, wie dringend wir eine Revolution brauchen. Manche Teilnehmer - vor allem aus den südlichen Ländern - waren derart verzweifelt und wütend, dass ihre Ansprachen beim Zuhörer vor allem das Gefühl von Ohnmacht hinterließen. Wie soll man diesen ganzen Wahnsinn aufhalten, der überall auf der Welt Familien zerstört, Frauen diskriminiert, Bauern vertreibt, die Umwelt verseucht? Aus den Seminaren des WSF konnte man nur frustriert herauskommen, denn um konkrete Aktionen ging es kaum.

Vielleicht liegt das auch daran, dass die Szene auf einem WSF unter sich ist. Zwischen gleichgesinnten, bunten, linken Freunden diskutiert und scherzt es sich doch viel brüderlicher und man ist sich sicher: Wir sind die Guten! Und da zu einem Forum ohnehin vor allem Funktionäre anreisen können, deren Beruf es ist, die Revolution zu planen, gerät die Veranstaltung leicht zu einem folkloristischen Elfenbeinturm der „Gerechten“.

Doch wozu sind die Aktivisten angereist, wenn diese teuflische Frage erlaubt ist: Um Visitenkarten auszutauschen und sich in den Seminaren gegenseitig zu motivieren? Das ist sicherlich wichtig, doch angesichts der dramatischen Probleme vieler Anwesender viel zu wenig. Lohnt denn der ganze Aufwand, die tausenden Flugmeilen, Millionen Plastikteller und -gabeln für gegenseitige Information und gemeinsames Fahnenschwenken?

Nein, meinen kritische Stimmen auf dem WSF: „Das WSF muss sichtbarer werden und braucht mehr politische Aussagen und Aktionen!“, so fasste ein Sprecher des tschechischen Sozialforums in Worte, was vielen Teilnehmer durch den Kopf ging. Von „Debattierklub“ und „Woodstock“ ist die Rede. Die Kritik wurde aber oftmals schnell wieder mit großen Lobreden auf die vielen Teilnehmerzahlen und dem „Wunder, dass die Wurzeln der neuen Welt zusammenfinden“ abgebügelt. Andere wiederrum finden den jährlichen WSF-Marathon produktiv: „Die Effekte des Forums sind kaum messbar und der Prozess ist ein stetig langsamer“, verteidigt Genevieve Azam von Attac Frankreich das WSF. Die Wirkung von Vernetzung, Mobilisierung und Ideenaustausch sei nicht sofort auszumachen. Zudem solle man sich mal eine Welt ohne Sozialforum vorstellen, meinte die Attac-Vertreterin. Für viele, die hier waren, noch undenkbar.

Während für Europäer und andere demokratieerfahrene Teilnehmer das Forum nach 12 Jahren eher zur Routine als zur Revolution gehört, war es für die Tunesier ein Highlight, die kritische Welt bei sich zu Gast zu haben. „Für uns ist dieses Forum eine große Hilfe. Wir wissen nun, dass wir mit unseren Anliegen nicht allein sind“, erklärte eine junge tunesische Aktivistin, „Unsere Zivilgesellschaft ist noch jung — wir brauchen euch!“. Gerade einmal zwei Jahre ist die neue, demokratische Zivilgesellschaft in Tunesien alt — und das zarte Pflänzchen hat mit einer feindlichen Umgebung zu kämpfen. Während sich die Teilnehmer des WSF schnell an den Anblick von Kopftuch tragenden Aktivistinnen gewöhnten, stutzen viele bei einem Fototermin von in Burkas gekleideten Frauen. Das seien salafistische Studierende, die nichts mit dem Forum zu tun hätten, klärten arabischkundige WSFler auf. Islamistische Gruppen sollen während der drei Tage auch versucht haben, eine Gegendemo auf dem Gelände zu organisieren, das wurde aber von der WSF-Organisation verhindert. Die Graffitis der WSFler auf den frischgestrichenen Mauern der Universität nahmen die Angereisten kaum wahr, in Tunis sind sie hingegen die pure Provokation: „Liebe ist illegal und das Gesetz kriminell“ oder „Freie Liebe!“ Arabische Frauen ließen sich lachend vor einem doppelten Venussymbol fotografieren. Das lässt kurz spüren, mit welchen immensen Problemen die linken Aktivisten in Nordafrika noch zu kämpfen haben und wie wichtig es für sie war, Teil einer kritischen Gemeinschaft zu sein. Daher auch der „Clash of Cultures“ bei der Abschlusskundgebung am Freitagabend: Die Versammlung der sozialen Bewegung, der zentralen Veranstaltung des Forums, war ein einziger Revolutionsrausch. Statt Diskussionen und langwierigen Wortbeiträgen, heizten arabische Aktivisten die Menge des randvollen Amphitheaters an. Es wurde gesungen und Slogans brüllend repetiert „Anti, Antikapitalista!“ und das Fahnen schwenkende Aktivistenmeer schien bereit, sofort auf die Barrikaden zu steigen, für eine neue, „richtige“ Revolution. Viele Europäer verließen dagegen kopfschüttend den Raum. Das war ihnen eindeutig zu viel und zu laut. Und überhaupt: Immer diese Revolutionsrhetorik!