06.05.2013

Widerständige queere Praxen?

Rezension: Bodo Niendel/Volker Weiß (Hg.) (2012): Queer zur Norm. Leben jenseits einer schwulen oder lesbischen Identität. Hamburg: Männerschwarm. 108 Seiten, 11 Euro.

Anna Rinne

Queer ist mittlerweile ein Begriff, auf den sich seit den 1990er Jahren immer mehr Publikationen beziehen. Er dient politischen Aktivist_innen als Bezeichnung für alle, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell, trans* oder intergeschlechtlich, BDSMler_innen, oder aber auch in alternativen Beziehungsformen zu monogamen Zweierbeziehungen lebend definieren. Er steht jedoch demgegenüber auch für ein analytisches Konzept mit dem Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit in ihren Verwobenheiten mit anderen Herrschaftsverhältnissen und Mehrfachdiskriminierungen kritisiert werden können. Die Vieldeutigkeit des Begriffs verlangt jedoch nach einer Reflexion, welche Konzepte integriert und welche ausgeschlossen werden oder ob das produktive Potenzial gerade in der Verundeutigung und Vieldeutigkeit des Begriffes liegt.

Das Ziel des Bandes ist das subversive Potential queerer Praxen und auch die Aneckungspunkte mit queeren Konzepten, intersektionalen Denkweisen oder Heteronormativität stabilisierenden Handlungsweisen auszuloten. Schwule und lesbische Identitäten werden im Vorwort als ggf. einengende Norm definiert, die queere Praxen zu überschreiten wissen. Uta Schirmer beschreibt in ihrem Beitrag die Praxen von Drag Kings als Erweiterung der Identitätsräume, die über lesbisch oder schwul hinausgehen können, aber auch nach den Verunsicherungen oder auch Ausschlüssen, die Drag Kings auch in schwulen oder lesbischen Räumen entgegengebracht werden. Auch Robin Bauer lädt den Begriff queer mit Geschlechterkonzepten auf, die lesbisch oder schwul transformieren und diskutiert queere BDSM-Praktiken als Möglichkeit des Transzendierens von Heteronormativität und gängigen Geschlechterklischees. Manuela Kay fragt in ihrem Beitrag hingegen kritisch nach der ideologischen, historischen und politischen Transformation der Begriffe schwul und lesbisch und lotet aus, inwiefern dieser Prozess hin zum Queer-Begriff subversive Potentiale mit sich bringt oder Homophobie lediglich stabilisiert, wozu sie selbst tendiert. Sie kommt also zu einer scheinbar entgegengesetzten Einschätzung als zu der im Vorwort, die dazu tendiert schwul und lesbisch als einengendes, normierendes Korsett zu sehen.Aber auch nach queeren Praktiken auf gesellschaftlicher Ebene und deren subversivem, eingreifendem Potential wird gefragt.

Lüder Tietz beschäftigt sich beispielsweise in seinem Beitrag mit den Potentialen bezüglich Heteronormativitätshinterfragung und -reproduktion von CSD-Paraden.

Bodo Niendel setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit Judith Butlers Argumentation im Kontext der Ablehnung eines für sie angedachten Preises zum Berliner CSD 2010 auseinander. Dementsprechend auch mit dem in die Argumentation einfließenden Theoriegebäude. Er argumentiert, dass Butlers Moralphilosophie alleinig auf subjektive und nicht objektive Maßstäbe zurück gehe und mit Chantal Mouffe und Ernesto Laclau gelungener nach strategischen (politischen und queeren) Bündnissen gefragt werden könne als mit Butlers Argumentation. Der Band nimmt mit dem Beitrag von Uta Schirmer, Robin Bauer und auch Andreas Kraß zudem den queer-Begriff als analytisches Konzept für Heteronormativitätskritik auf. Der Anspruch queere Praxen zu thematisieren ist im Großen sehr umfangreich geglückt, wenn auch die spezifischen Lebenssituationen von polyamourös lebenden Menschen, femininen Geschlechteridentitäten wie Dragqueens, Trans*frauen oder Femmes noch stärker zum Tragen hätten kommen können. Die Ausschlüsse und Einschlüsse von Weiblichkeitsnormen innerhalb von zumindest lesbischen Kontexten wurden jedoch bei Uta Schirmer randlich auch angesprochen. Fazit: Sehr lesenswert.