Streiten für bessere Zeiten

Schlechte Argumente gegen Arbeitszeitverkürzung

Ingrid Kurz-Scherf

Dem ehemaligen DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter wird nachgesagt, er habe seine Antipathie gegen die 35-Stunden-Woche scherzhaft damit begründet, dass ihn seine Frau verstärkt zur Hausarbeit heranziehen werde. Diesem Scherz unterlag auch vor der Mobilisierung für die 35-Stunden-Woche in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ein ernsthaftes Problem, nämlich das eines verhaltenen Interesses der männlichen Kernbelegschaften an kürzeren Arbeitszeiten. Dennoch verständigten sich die Gewerkschaften auf „Drei gute Gründe“ für eine allgemeine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich: Arbeitsplätze sichern und schaffen, Arbeitsbedingungen humanisieren, Leben und Gesellschaft gestalten. Mit diesen Gründen bestanden die IG Metall und die IG Druck und Papier 1984 einen der härtesten und längsten Arbeitskämpfe der BRD. Im Jahre 2003, fast 20 Jahre später, musste die IG Metall mit ihnen im Streik um die 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie aber schon eine ihrer bittersten Niederlagen hinnehmen. Mittlerweile hat die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung kaum noch Relevanz auf der arbeitspolitischen Agenda der in diesem Feld mächtigen Akteure. Es sind nicht die genannten drei guten Gründe, die als veraltet erscheinen. Das Instrument der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung gilt kaum mehr als ein geeigneter Weg für die Realisierung derselben. Faktisch findet Arbeitszeitverkürzung fast nur noch als Not- und Zwangsmaßnahme in Form von Kurzarbeit, der Umwandlung von Voll- in Teilzeitstellen, der Ausweitung von Mini- und Midi-Jobs oder kurzzeitig befristeten Beschäftigungsverhältnissen statt. Die von den Gewerkschaften erkämpften Arbeitszeitverkürzungen verknüpfen sich mit der weithin geteilten Einschätzung, dass kürzere Arbeitszeiten nur durch Lohnverzicht durchsetzbar sind. Darüber hinaus verbindet sich Arbeitszeitverkürzung für viele mit Arbeitsverdichtung und neuen Belastungen – nicht zuletzt im Zuge der Umsetzung von Zugeständnissen im Hinblick auf Arbeitszeitflexibilisierung.

Besser als 41: 35!

Es ließen sich noch weitere Gründe für den Akzeptanzverlust der Arbeitszeitverkürzung im Sinn der damit ursprünglich verfolgten Anliegen anführen. Sie betreffen die Pluralisierung und Dynamisierung von Arbeitsverhältnissen und die Individualisierung der Arbeits- und Lebenswelten, die eine vereinheitlichende Zeitpolitik immer schwieriger werden lassen. Darüber hinaus geht es auch um die im Kontext von Globalisierung, europäischer Integration, Hegemonie des Neoliberalismus, Finanzmarktkapitalismus etc. generell erschwerten Bedingungen arbeitspolitischen Handelns, die sich in besonders konfliktbeladenen Handlungsfeldern wie der Arbeitszeitpolitik zu kaum mehr überwindbaren Handlungsblockaden verdichten.

Die Tatsache, dass sich die Diskreditierung der Arbeitszeitverkürzung erklären lässt, verleiht den Gründen allerdings nicht die Qualität von guten Argumenten für den Verzicht auf die Reaktivierung einer emanzipatorischen Arbeitszeitpolitik. Einer der wichtigsten Gründe ist vielmehr die auch selbst verschuldete Vernachlässigung der gesellschaftlichen Mobilisierung für das „Streiten um bessere Zeiten“(1) – auch im Sinn von kürzeren Erwerbsarbeitszeiten. Welchen Anteil daran die eingangs angedeutete Fortwirkung alter Klischees von Frauen- und Männerzeiten auch unter Protagonisten von Solidarität und Emanzipation in anderen Kontexten hat, muss hier dahin gestellt bleiben.

Autorinnenportrait:

Ingrid Kurz-Scherf lehrt und forscht an der Universität Marburg unter anderem zu Arbeits- und Sozialpolitik sowie zu Geschlechterverhältnissen und feministische Theorie.

Fußnoten

1) Unter diesem Slogan setzten sich Gewerkschaftsfrauen in den 1980er Jahren für eine Fortführung der Arbeitszeitverkürzung jenseits der 35-Stunden-Woche mit dem neuen Etappen-Ziel der Durchsetzung einer neuen Normalarbeitszeit von 6 Stunden täglich ein.