Eine revolutionäre Zelle

Interview mit einem Theaterkollektiv, das sein Publikum zum Schlafen einlädt

Tobias Schulze

prager frühling: In Ihrer Performance in den Berliner Sophiensälen haben Sie Interessierte in ein Schlaf- und Müdigkeitslabor eingeladen. Hundert Menschen, so schrieben Sie, die sich zum Schlafen versammeln, seien eine widerständige Zelle. Hat sich ihr schlafendes Publikum als Teil einer solchen Zelle gefühlt?

Turbo Pascal (TP): Nö, die Zuschauer wahrscheinlich weniger, da sie ja zum Teil geschlafen haben. Wenn man aber das Ganze betrachtet, kann man eine im Theater verbrachte Nacht schon als widerständigen Akt betrachten. Viele scheuen sich zehn Stunden im Theater mit fremden Menschen zu verbringen. Nicht weil sie Angst vor den Menschen haben, sondern weil sie Angst vor dem nächsten Tag haben. Da müssen sie wieder fit für die Arbeit sein. Zusammenkünfte, Freizeit, Kultur, Diskussionen oder zweckfreies Denken werden in die weniger „wertvollen“ Abend- oder Nachtstunden verlagert, die Tagesstunden sind für die Arbeit reserviert. Wenn man eine Nacht gemeinsam im Theater verbringt, gleicht das einer Ansage: „Diese gemeinsam verbrachte Zeit ist es mir wert auch morgen müde zu sein.“ In diesem Sinne, stellen wir morgens für die Zuschauer auch Entschuldigungen und Krankschreibungen aus, in der ein kulturelles Ereignis als Entschuldigung beim Arbeitgeber dient.

pf: Der Begriff der Müdigkeitsgesellschaft, den Sie verwenden, geht auf eine Analyse des Soziologen Byung-Chul Han zurück, der uns in einem Zustand der Rastlosigkeit und der künstlichen Positivität sieht. Kollektive Müdigkeit ist demnach der letzte noch mögliche Akt, Widerstand gegen den gehetzten Wahnsinn unserer ökonomisierten Welt zu üben und ineffizient zu sein. Erneuert Schlaf, sofern er ungestört bleibt, nicht einfach nur auf effiziente Weise unsere Arbeitskraft?

TP: So gesehen, wäre beinahe jede Tätigkeit, auch Essen, soziale Kontakte pflegen oder Sport treiben nur als Beitrag zur Aufrechterhaltung unserer Leistungsfähigkeit und unseres Funktionierens zu deuten – das scheint uns doch eine sehr einseitige Sichtweise. Aber in der Tat gibt es beim Nachdenken über Schlaf, Müdigkeit und Leistung große Ambivalenzen: Wir haben beispielsweise in unserem Kollektiv eine gemeinsame Mittagsschlafkultur entwickelt. Das ist einerseits eine schöne Gruppenaktivität, die eben auch in der Erschöpfung verbindet und einen solidarischen Aspekt beinhaltet: Wir unterbrechen dann die Proben und legen uns gemeinsam auf Yogamatten und schlafen oder dösen. Andererseits holen wir so nochmal alles an Leistungsfähigkeit aus uns heraus – der Mittagsschlaf wird zum selbst-optimierenden Powernap. Der Unterschied findet vielleicht vor allem im Kopf statt: Wenn wir einen Arbeitgeber hätten, der uns Schlafecken einrichtet und uns regelmäßige Powernaps verordnet, wären wir vermutlich eher kritisch.

pf: Schläft der „flexible Mensch“ der westlichen Industriegesellschaft anders als Menschen anderer Regionen, Epochen oder Kulturen?

TP: Ja – das war während unserer Recherche eine der größten Überraschungen: Unsere Art zu schlafen ist überhaupt nicht natürlich, sondern kulturell geprägt. So schliefen die Menschen in Mittel- und Nordeuropa bis vor 200 Jahren einen zweigeteilten Schlaf: Man legte sich, in Ermangelung künstlicher Lichtquellen, relativ früh ins Bett, stand dann gegen 2 Uhr wieder auf, traf sich mit Nachbarn, unterhielt sich, und nach zwei bis drei Stunden legten sich die Menschen dann nochmal hin und nahmen den „zweiten Schlaf“ - einige germanische Sprachen hatten wohl sogar eigene Begriffe für die beiden unterschiedlichen Schlafphasen. Im Zuge der Industrialisierung wurde dieser Schlaf in eine einzige Schlafphase gepresst. Und heutige Menschen die nachts aufwachen, glauben gleich eine Schlafstörung zu haben. Und dann gibt es noch andere Schlafkulturen wie zum Beispiel die japanische Inemurie-Kultur: Der Nachtschlaf ist sehr kurz bemessen und dafür ist es völlig in Ordnung in der Öffentlichkeit oder auch während der Arbeit einzuschlafen. Das wird sogar als Ausdruck besonderen Fleißes gedeutet: Der Mitarbeiter hat sich bis zur Erschöpfung für seine Firma eingesetzt und darf dann auch eine Pause machen.

pf: Sie fragen, ob wir Schlaf nicht wieder aus dem Privaten ins Öffentliche holen sollten. Was könnte das heißen? Ein Bett im Büro, in der S-Bahn oder gar im Theater? Ein Nickerchen alle paar Stunden, egal was wir gerade tun?

TP: Einerseits wird von modernen westlichen Arbeitnehmer_innen erwartet, zeitlich flexibel zu sein, nach Bedarf Überstunden zu machen oder im Schichtdienst zu arbeiten – andererseits werden Müdigkeit, aber auch die Erschöpfungskrankheiten Depression und Burn-out ins Private gedrängt. Wenn jemand nicht mehr kann, ist das ihr oder sein persönliches Problem. Insofern: Ja – wir müssen unsere Müdigkeit und Erschöpfung zeigen und zu diesem Zwecke überall schlafen. Aber dazu müssen wir erst wieder lernen in Gruppen, zusammen mit Fremden oder in der Öffentlichkeit zu schlafen – das ist gleichzeitig gelebte Vertrauenskultur.

pf: Sie haben viel über das Schlafen nachgedacht, haben hunderte gestresste Menschen nachts begleitet. Schlafen sie nun anders, vielleicht widerständiger als vor ihrer Aktion in Berlin?

TP: Was uns in der Recherche auch klar wurde: Schlafen ist ein hochaktiver Zustand, bei dem beispielsweise die Dinge, die wir tagsüber gelernt haben, ins Langzeitgedächtnis überspielt werden. Die gedankliche Verbindung von Schlaf und Faulheit, die in unserer Gesellschaft vorherrscht ist also totaler Unsinn. Außerdem ist der dem Schlaf vor- oder nachgelagerte Zustand der Müdigkeit äußerst spannend. Müde Menschen sind offener, entspannter – entsprechend weicher oder beweglicher im Denken und herzlicher im Umgang miteinander. Wer müde ist, mobbt nicht! Wir schlafen, seit uns das klar ist, ohne schlechtes Gewissen und auch gerne an ungewöhnlichen Orten. Das sollten noch viel mehr Menschen machen.

Turbo Pascal ist ein Theaterkollektiv mit Veit Merkle, Frank Oberhäußer, Luis Pfeiffer, Eva Plischke, Magda Willi, Anne Schulz und Angela Löer, die als Autor_innen und Performer_innen gemeinsam Projekte entwickeln. Turbo Pascal gründete sich 2004. Turbo Pascal interessiert sich dafür, wie Menschen heute ihr Zusammenleben organisieren. Für „8 Stunden (mindestens)“ richtete Turbo Pascal ein Schlaf- und Müdigkeitslabor ein – einen Möglichkeitsort des gemeinsamen Müde-Seins. Das Interview führte Tobias Schulze.