19.07.2013

Die Residenzpflicht: Virus im nationalen Rechtstext

Interview mit Vertreterinnen der Initiative "Permanenter Politischer Protest", die sich für die Abschaffung der Residenzpflicht einsetzen

Die Letzte Meile, täglich in Berlin, Heinrichplatz, 18 Uhr

Wer seid ihr?

Wir sind Anwohnerinnen der Oranienstraße und bekommen unmittelbar mit, was auf dem Oranienplatz los ist. Dort haben Refugees, die die vielen Kilometer von Würzburg nach Berlin gelaufen sind, um für die Abschaffung der Residenzpflicht zu kämpfen, ihr Camp aufgeschlagen. Sie versuchen seit einem Jahr mit hochrangigen Vertreterinnen der deutschen Politik in einen Dialog zu treten. Das ist bis heute nicht geschehen. Die Politik weigert sich. Sie beharrt auf der bestehenden Rechtsgrundlage. Noch wird das Camp der Refugees auf dem Oranienplatz geduldet. Bald sind Bundestagswahlen und es ist absehbar, dass zumindest die CDU in Berlin auf Kosten der Refugees auf dem Oranienplatz Wahlkampf machen wird.

Ihr setzt euch für die Abschaffung der Residenzpflicht ein und habt eurem Protest den Namen "Permanenter Politischer Protest" gegeben. Was können wir uns darunter vorstellen?

Unser Permanenter Politischer Protest (PPP), der an jedem Tag der Woche auf dem Heinrichplatz von 18 bis 19 Uhr stattfindet, soll allen Menschen signalisieren, die Situation ist ernst: sowohl für alle Refugees als auch für uns, die selbst keine Refugees sind. Die Gesetze der Residenzpflicht müssen ein für allemal aus dem Asylverfahrensgesetz gestrichen werden. Die Residenzpflicht – ein euphemistischer Ausdruck, wie wir finden – reduziert für Refugees das Hoheitsgebiet Deutschlands auf den "Bezirk der Ausländerbehörde".

In eurer Protest-Gruppe sind keine Refugees. Wieso sollte die Situation für euch ernst sein? Die Residenzpflicht betrifft nur Flüchtlinge, oder ist das falsch?

Das stimmt schon. Wir selbst sind von den Gesetzen der Residenzpflicht nicht betroffen. Wir gehören zur Bevölkerungsgruppe, für die es in punkto Freizügigkeit keine räumlichen Einschränkungen gibt. Nicht so für die Refugees: Sie dürfen sich nur nach Gnaden der Politik und der ihnen zugewiesenen Ausländerbehörde innerhalb Deutschlands bewegen. Ins Ausland, was in Frankreich und überall sonst im EU Raum möglich ist, dürfen sie schon gar nicht. Deutschland steht mit seiner Residenzpflicht innerhalb der EU allein da. Dieser Alleingang in der Rechtsauslegung der Genfer Flüchtlingskonvention ist einzigartig und verurteilenswert.

Warum also fühlt ihr euch also betroffen?

Diese Art von Sondergesetzgebung, in der Machart der Residenzpflichtsgesetze, schadet unserer Demokratie. Diese Gesetze sind Zeugnis einer schlechten Politik. Sie hätten damals vor 20 Jahren im Rahmen der Novellierung des Asylverfahrensgesetzes nicht verfasst werden dürfen. Nicht zuletzt, da sich die deutsche Politik dadurch ihrer Handlungsspielräume beraubt hat, um, wenn organisiertes Unrecht sich anbahnt, sich wehrhaft und schon in den Anfängen diesen Entwicklungen und Bewegungen entgegenzustellen können.
Die Sondergesetze der “Residenzpflicht”, die Unterscheidungen zwischen den Rechtsansprüchen von Bevölkerungsgruppen ziehen, dienen anderen Staaten, wie z.Z. Ungarn als Beispiel dafür, wie internationales Recht durch nationales Sonder-Recht ausgehöhlt und unterlaufen werden kann, ohne sich vor internationalen Gerichtshöfen angreifbar zu machen. Der deutschen Politik sind vielerorts die Hände gebunden, weil sie nicht so einfach kritisieren kann, was sie selbst seit 20 Jahren anzuwenden weiß. Die Ankündigung der Regierung Orban in Ungarn, den Studenten vorschreiben zu wollen, wo sie nach ihrem Studium zu arbeiten haben, sind vom selben Schlag Gesetz wie die “Residenzpflicht” in Deutschland.

Ist die Residenzpflicht nicht in vielen Bundesländern abgeschafft?

Nein, ganz im Gegenteil. Bis auf Bayern und Sachsen haben einzelne Bundesländer den Bewegungsspielraum der Refugees von einzelnen Landkreisen zwar auf das Gebiet ihres jeweiligen Bundeslandes ausgeweitet. Das ist der Spielraum, den die Bundesländer haben: Sie können frei nach Belieben die Bewegungsfreiheit der Refugees auf eine Gemeinde, einen Landkreis oder das Bundesland einschränken, oder halt ausweiten. Die Gesetze der Residenzpflicht, die auf Bundesgesetzebene geregelt sind, tangiert das nicht im Geringsten. Sie sind seit 20 Jahren in Kraft und sollen, geht es nach dem Willen der Bundesregierung, auf den gesamten Schengener Raum ausgedehnt werden.

Wie stellt ihr euch das vor, die Bundespolitik von eurem Ziel zu überzeugen?

Wir wollen in erster Linie die mehrheitliche Bevölkerungsgruppe, die nicht von diesen Gesetzen betroffen ist, darüber aufklären, warum nationale Sondergesetze in der Art der Residenzpflicht alle Menschen, nicht nur die Refugees, betreffen. Wir betreiben zu diesem Zwecke Aufklärung und Vernetzung. Haben wir erstmal einen breiten gesellschaftlichen Dialog um die Gesetze der Residenzpflicht initiiert, wollen im Anschluss daran versuchen, die Parlamentarierinnen des neuzuwählenden 18. Deutschen Bundestags mit unseren Argumenten überzeugen, sich für die ersatzlose Streichung der Residenzpflichtparagraphen einzusetzen. Wir wollen die Politik davon überzeugen, sich in Zukunft davor zu hüten, sich solch eines sondergesetzlichen Instrumentariums zu bedienen. Diese Art von Sondergesetzen stellen im übertragenen Sinne Viren im Rechtstext dar, deren langfristige Konsequenzen nicht absehbar und beherrschbar sind.

Viel Erfolg und danke für das Interview

Die Initiatorinnen der Kampagne sind die Geschwister Ilker, Gülriz und Eray Eğilmez. Sie leben in Berlin und Istanbul, und engagieren sich seit 20 Jahren in Deutschland. Sie möchten mit ihrem permanenten politischen Protest und ihrer Kampagne unter dem Motto, "Die Letzte Meile laufen wir", der Politik nahe tragen, den einst liberalen Wertekanon Nachkriegsdeutschlands sich zurückzuerobern.

Wer der "letzten Meile" auf Facebook folgen möchte, kann dies auf ihrer Fan-Page tun.[1]

Links:

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