11.09.2013

Anarchismus? Eher Mühsam

Philippe Kellermann (Hrsg): Anarchismusreflexionen. Zur kritischen Sichtung des anarchistischen Erbes. Gespräche; Verlag Edition AV, Lich 2013, 263 Seiten, 17 EUR

Bernd Hüttner
Mühsams Anarchismus hat jedenfalls keinen Bart. Er selbst schon.

Angesichts von Occupy wird in der einschlägigen Literatur gelegentlich von einer „Renaissance des Anarchismus“ gesprochen. Die Produktion von Blogbeiträgen, Broschüren und Büchern des anarchistischen Spektrums sprießt jedenfalls munter vor sich hin. Doch was ist heute genau gemeint, wenn von „Anarchismus“ die Rede ist? Der Anarchismus eines Landauer oder Bakunin des vorvorletzten Jahrhunderts, derjenige des spanischen Bürgerkrieges, ein moderner oder gar „postmoderner“ des beginnenden 21. Jahrhunderts? Sicher sind auch heute noch Kooperation, Föderalismus, Räte und vor allem Selbstermächtigung integrale Bestandteile anarchistischer Theorie und Praxis.

Der kürzlich mit dem Erich-Mühsam-Preis 2013 ausgezeichnete Verlag Edition AV im hessischen Lich versucht in seinen vielen Publikationen den Spagat zwischen älteren Positionen und neuen, etwa von Jürgen Mümken vertretenen Lesarten. Philippe Kellermann wiederum darf als einer der besten Kenner und rührigsten AutorInnen des Anarchismus gelten. Er streitet unermüdlich gegen die Geschichtslosigkeit des Anarchismus und für einen Dialog anderer linker Theorietraditionen mit dem Anarchismus. In seinem neusten Buch hat er zehn Männer und eine Frau interviewt, die für einen modernen, reflektierten Anarchismus stehen – und nicht zuletzt entscheidend dazu beitragen, diesen herauszubilden. Der zur Arbeiterbewegung forschende Torsten Bewernitz etwa hält die „gegenseitige Hilfe für den Kern“ des Anarchismus. Der wie Bewernitz in der Münsteraner Anarcho-Szene sozialisierte und jetzt in Wien lebende Jens Kastner sagt, Politik sei das Aufbrechen des Gewohnten und der Umstand, dass Menschen sprechen und agieren, die sonst stumm sind.

Gabriel Kuhn weist darauf hin, dass „Anarchie“ nicht bedeutet, keine Gesetze zu haben, sondern heute heißen müsse, keine Gesetze zu benötigen. Der schon erwähnte Kastner macht noch einmal die postmoderne Kritik an einem vorgestellten „Wir“ stark. Die vielzitierten „99 Prozent“ hätten eben nicht zwangsläufig auch nur tendenziell gleiche Interessen. Fraglich ist, und diese Debatte ist noch nicht entschieden, ob mit der Entdeckung immer neuer Differenzen, die sonst, auch von Kastner, scharf kritisierte neoliberale Weltsicht, es gebe nur noch Individuen, übernommen wird. Offen ist also, wie der Anarchismus auf die Herausforderungen durch die Postmoderne reagiert. Also mit der These umgeht, dass es kein objektives Wissen gäbe. Was bedeutet es eigentlich, wenn festgestellt wird, dass der Staat der Gesellschaft nicht äußerlich ist, sondern die gesamte Ordnung der Gesellschaft staatlich organisiert ist? Reicht es dann noch den Staat mit Kategorien wie „Ausbeutung“ und Unterdrückung“ zu kritisieren, oder muss nicht vielmehr die Frage nach der „freiwilligen Knechtschaft“ aufgeworfen werden? Die Frage, die bei demokratischen SozialistInnen die komplexe nach der Bedeutung von Hegemonie ist.

Bestandteil dieser Debatte ist zweitens die Neubewertung historischer Vorgänge, etwa im Verhalten der spanischen anarchistischen Gewerkschaft CNT. Dabei stößt man schnell auf die Tatsache, dass auch im Anarchismus Mythen existieren, die eine kritische Beschäftigung erschweren. Stellenweise ist das Buch zu detailverliebt und dann etwas weitschweifig. Das Layout mit zu wenig Zeilenabstand erschwert leider die grundsätzlich lohnende Lektüre. Das Buch reizt also auf den ersten Blick zum abgedroschenen Bonmot „Anarchismus? – Eher Mühsam!“. Bei einer gründlicheren Beschäftigung zeigt es, dass sich in einem anstrengenden Prozess durchaus ein zeitgemäßer Anarchismus herausbildet. Mit dem dann auch andere linke Traditionen in einen fruchtbaren Dialog treten könnten – und sollten. Einen Dialog, durch den dann alle Beteiligten etwas lernen könnten.