Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

Hardt kritisiert Rückschritt bei globalisierungskritischem Aktivismus

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 22.09.2008
Cover des Buchs Multitude

Schönes Interview mit Michael Hardt (bekannt durch die Bücher "Empire", 2000, und "Multitude", 2004; mit Antonio Negri) in der heutigen tageszeitung: Die Finanzkrise ist der letzte Sargnagel [für die Großmachtfantasien der USA]. Hardt sieht das Ende des nationalstaatlichen Imperialismus besiegelt, "sie allein können keine globale Machtstruktur errichten. (...) Die Kosten des Irakkriegs und nun die Finanzkrise setzen der US-Politik sehr enge Grenzen. Der Glaube, dass die USA die Welt beherrschen könnten, ist obsolet".

Der hartnäckigen Frage von taz-Parlamentskorresponentin Ulrike Herrmann beim Interview am Rande des Europäischen Sozialforums in Malmö nach dem revolutionären Subjekt und ihrem Verweis auf den momentanen Abschwung der globalisierungskritischen Bewegung entgegnet Hardt:

Bewegungen funktionieren nicht nach der Logik: Je umfassender die Krise, desto gewaltiger der Zulauf. Die französische Revolution hat auch nicht in jenen Jahren stattgefunden, als der Hunger am größten war.
Und weiter mit treffenden Bemerkungen zur Krise der globalisierungskritischen Bewegung und einigen Ursachen:
Die sozialen Bewegungen sollten nicht versuchen, sich wieder ein einziges Programmziel zuzulegen, das von einer zentralen Parteiführung beschlossen und von einigen wenigen Rednern transportiert wird.
Das klingt ja, als würden sich die Globalisierungskritiker zu einer Art kommunistischen Internationale entwickeln.
Von 2003 bis 2006 war die Bewegung sehr zentralisiert, und vielleicht war es auch unumgänglich, sich nur noch auf den Irakkrieg und die Anti-Bush-Kampagnen zu konzentrieren. Aber gleichzeitig ging der Spaß verloren, die Freude am Experiment und an der Vielfalt.
Braucht eine Bewegung nicht einen klaren Gegner wie eben Bush?
Das war ein Rückschritt zu einer älteren Form des linken Aktivismus. Wieder wurde von der falschen Prämisse ausgegangen, dass die USA noch die globale Politik diktieren könnten. Dabei waren die Globalisierungskritiker zwischen 1999 und 2003 schon weiter und haben mit verschiedenen Gegnern experimentiert: WTO, EU, G 8, IWF, Weltbank. Das war eine sehr intelligente Form der Theoriebildung, wie die neue globale Struktur aussehen könnte: Die Macht ist heutzutage auf Knoten in einem Netzwerk verteilt.
Und wie geht es weiter?
Jetzt beginnt ein neuer Zyklus des sozialen Widerstands, nachdem Bushs Antiterrorkrieg gescheitert ist. Die Kreativität und die Lust an der Vielfalt sind zurückgekehrt. Der Widerstand gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm war da ein Anfang. (...)

Zunehmende Unsicherheit

Beitrag von Graziella Mascia, geschrieben am 16.09.2008
Graziella Mascia, stellvertretende Vorsitzende der Partei der Europäischen Linken.

Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB), den Leitzins anzuheben, wird heftig diskutiert, und die europäischen Regierungen vertreten dabei unterschiedliche Standpunkte. Absehbar ist jedoch, dass sich die Lebensbedingungen der Beschäftigten weiter verschlechtern werden. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellt einen Verfall der Löhne in fast allen europäischen Ländern fest. Und mit dem Fortschreiten der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise nimmt auch die Beschäftigungssituation alarmierende Formen an.

Es muss nicht extra betont werden, dass junge Männer und Frauen unter dieser Situation doppelt leiden, da sie aus dem Produktionszyklus immer weiter rausgedrängt werden und keine Möglichkeit haben, für sich eine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu planen. Prekäre Lebensbedingungen werden zunehmend zu einer politischen Frage. Schließlich ist es die Politik, die die Regeln des Arbeitsmarktes und die Beziehung zwischen den Beschäftigten und Unternehmen strukturell vorgibt.

All dies beeinflusst nicht nur die Geschichte der Demokratie und der kollektiven Organisation der Arbeitnehmer bei der Forderung der Grundrechte, sondern ist für Millionen von Menschen Ursache ständiger Unsicherheit. Die Probleme und Krisen, die sich daraus für Millionen Beschäftigte ergibt, geben den Linken in Europa zu denken, und sie gehören mit zu den Gründen, weshalb zahlreiche Arbeiter bzw. Arbeiterinnen in den USA genauso wie in Frankreich oder Italien rechts wählen. In Frankreich und insbesondere in Italien gehen die Rechten aufgrund der globalen Krise, der Umwälzungen und der dadurch hervorgerufenen Ängste als Sieger aus den Wahlen hervor. Ihr Erfolg liegt auch darin begründet, dass sie einen Sündenbock benennen können, auf den sie diese Ängste abwälzen – egal ob es sich dabei um Eingewanderte oder Sinti und Roma handelt. Die Glaubwürdigkeit der alternativen Linken in Europa wird größtenteils davon abhängen, ob sie in der Lage sein wird, Vorschläge zur Bewältigung dieser Krise zu unterbreiten.

Die anstehenden Entscheidungen der europäischen Politik sind von grundlegender Bedeutung. Europa durchlebt eine Krise der Institutionen und der Einigkeit. Diese Einigkeit wird durch Irlands Nein zum Lissabonner Vertrag noch betont. Irland stimmte mit Nein wegen der im Lissabon-Vertrag enthaltenen unsozialen Praxen. Aber die Krise betrifft nicht nur den bewussten Vertrage, sondern die neoliberalen Doktrinen und Praktiken insgesamt, die sich auch Dank der deflationistischen Politiken und des Rückgangs der Realeinkommen weltweit etabliert haben. Um den Neoliberalismus endgültig einzugrenzen und ein Ausweichen nach rechts unmöglich zu machen, muss sich die Linke in Europa zum einen für eine Erhöhung der Einkommen und gegen die Beschränkungen durch Maastricht einsetzen. Zudem sollte sie sich einsetzen für eine expansive Wirtschaftspolitik, die auf eine neue Art von Entwicklung ausgerichtet ist, mit der auf die neuen und anspruchsvollen Bedürfnisse reagiert werden kann.

Das Engagement der europäischen Linken verfolgt diese Richtung, und zwar sowohl bei der Erarbeitung des Programms für die bevorstehenden Europawahlen als auch durch Kampagnen gegen prekäre Lebensbedingungen. Wir waren in Ljubljana auf der von der europäischen Gewerkschaft organisierten Veranstaltung, um eine Erhöhung der Einkommen in ganz Europa zu fordern. Aus demselben Grund haben wir in jedem Land zu den bereits geplanten Veranstaltungen im kommenden Monat Oktober zugesagt.

Zur Autorin:

Graziella Mascia ist ehemaliges Mitglied der KP Italiens, 1991 Mitgründerin von Rifondazione Comunista (PRC, Partei der kommunistischen Neugründung Italiens). Abgeordnete im italienischen Parlament (Camera dei Deputati) von 2001 bis 2008, damals stellvertr. Fraktionsvorsitzende und Obfrau im Parlamentsaussschuss Inneres und Justiz. Aktiv bei globalisierungskritischen Bewegungen und Mitglied des Parlamentsuntersuchungskomitees zu den Gewalttaten beim G8-Gipfel in Genua 2001. Sie interessiert sich für internationale Fragen, Justiz, die Lage in den Strafanstalten, individuelle Rechte und für Migrantenfragen.
Seit November 2007 ist sie stellvertretende Vorsitzende der Partei der Europäischen Linken (EL).

Sozialismus und Freiheit gegen Panzer

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 04.09.2008

Nicht nur in Prag siegten die Panzer über den Versuch, Freiheit und Sozialismus Realität werden zu lassen. Vor genau 38 Jahren wurde in Chile per Wahl beschlossen, den realen Kapitalismus ohne menschliches Antlitz zu beenden. Am 4. September 1970 wählten die Chileninnen und Chilenen den Sozialisten und Arzt Salvador Allende zu ihrem Präsidenten. Zwei Jahre nach Prag begann nun im Westen der Versuch, Sozialismus ohne autoritären Staat zu realisieren.

Allende ließ keinen Zweifel daran, wie er die durch Wahlen gewonnene Macht zu nutzen beabsichtigte: "Wir haben gesiegt, um endgültig die imperialistische Ausbeutung zu beseitigen, die Monopole abzuschaffen, eine wirkliche und tiefgreifende Agrarreform durchzuführen, den Import und den Export zu kontrollieren und schließlich und endlich, um die Banken zu nationalisieren. Auf diese Pfeiler gestützt wird der Fortschritt Chiles ermöglicht, wird das Volksvermögen geschaffen, mit dem wir unsere Entwicklung vorantreiben wollen.", erklärte er unmittelbar nach seiner Wahl.

Weil Allende seinen Ankündigungen Taten folgen ließ, endete das Experiment wie in Prag: Dem Versuch, eine freie und gleiche Gesellschaft zu gestalten, wurde von der alten Macht - dort von bürokratischen und autoritären Parteifunktionären und ihren Panzern, hier von Kapital, Militär und US-Imperialismus - ein Ende gesetzt. Es bleibt die bittere Erfahrung beider Niederlagen, dass eine Gesellschaft, die sich Freiheit und Sozialismus auf ihre Fahnen schreibt, eine breite Unterstützung der Vielen zwar notwendig bedingt, diese allein sich aber nicht als hinreichend erwiesen hat.

Gysi, Bisky, Ypsilanti

Beitrag von Kylja Myller, geschrieben am 02.09.2008

Da hat der hessische Landesparteitag der LINKEN doch tatsächlich die Weichen für eine Tolerierung von Rot-Grün in Hessen gestellt. Wenn man die Kernforderungen von SPD, Grünen und LINKEN übereinander legt, ist das auch nur nachvollziehbar: In zentralen Feldern der Landespolitik gibt es politische Übereinstimmungen. Doch für eine gelungene Tolerierung und den anstehenden Verhandlungsmarathon wird sich die hessische Linke noch einiges überlegen müssen: Denn inhaltlich unterscheidet sie – abgesehen vom Flughafenausbau – gar nicht so viel von der aktuellen Programmatik der Hessen-SPD. Klar ist der Ton ein bisschen radikaler, aber wo genau die weitergehende Perspektive ist, die Die LINKE einer Rot-Grünen-Koalition an zwei oder drei Stellen aufdrücken könnte, ist bisher offen. Auch stellt sich die Frage, ob es für den nötigen programmatischen Klärungsprozess in der Partei so dienlich ist, wenn in diesem und im nächsten Jahr ein Großteil der Landesverbände passiv oder aktiv in den staatlichen Exekutivapparat eingebunden wird. Schließlich stehen im nächsten Jahr Landtagswahlen in Thüringen, im Saarland, in Brandenburg und Sachsen statt. Doch bisher hat DIE LINKE auch nicht dadurch geglänzt Ort vitaler Auseinandersetzung um die Zukunft der Linken zu sein. Und vielleicht ist es für die Landespolitik in Hessen und Machtverhältnisse in der BRD gar nicht so schlecht, wenn die Integrations- und Anpassungsleistungen des politischen Systems, die der marxistische Staatstheoretiker Johannes Agnoli in der „Transformation der Demokratie“ ausmalte, auch bei der LINKEN greifen. So wird die SPD weiter in die Mangel genommen, die Studiengebühren sind weg und Politiker, die ein Y im Nachnamen haben, finden zusammen. Auch wenn dabei nur herausspringt, dass hessische Schüler statt Flöte jetzt Xylophon im Musikunterricht spielen lernen und im Biologie-Unterricht der Unterstufe das Comic-Erfinder-Magazin YPS aus den 80ern rehabilitiert wird, wäre zumindest klar: Jetzt kommt die Generation Y.

Das letzte Relikt des Ständestaates.

Beitrag von Thomas Lohmeier, geschrieben am 02.09.2008

Die SPD plant die Abschaffung der Hauptschule - einer Schulform, über die der Hauptschulrektor des Autors dieses Beitrags einmal behauptete, sie sei das letzte Relikt des Ständestaates. Auch wenn der SPD der Sozialismus schon nicht mehr zuzutrauen ist, zur Abschaffung ständestaatlicher Relikte dürfte sie noch taugen.

Aber die SPD wäre nicht die SPD, würde sie zur Abwechslung in die richtige Richtung einmal keinen Tippelschritt, sondern einen mutigen gehen. Das Problem dieses Bildungssystems ist nicht die Hauptschule, sondern das Gymnasium. Schafft man die Hauptschule ab, werden nur Haupt- und Realschule zur Gesamtschule fusioniert. Die Kinder der bildungsfernen Schichten bleiben schön unter sich solange man sich
nicht traut, den Kindern der Bildungsschichten ihr Sonderrecht auf abgeschirmten Schulunterricht zu nehmen.

Gehen wir aber ruhig davon aus, dass die SPD sich durchsetzt - wofür spricht, dass die FAZ in ihrem Wirtschaftsteil schon lange die Abschaffung der Hauptschule fordert - dann haben wir endlich das feudale Schulsystem zugunsten einer dieser Gesellschaft angemessenen Schulform überwunden: Dem Zweiklassen-Bildungssystem.

Impulse des Prager Frühlings hochaktuell

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 27.08.2008
„Sozialismus ja – Okkupation nein“ – bekanntes Plakat aus den Tagen der Intervention in Prag

Ein wichtiger Meilenstein im Zuge des Prager Frühlings war die Veröffentlichung des "Manifestes der 2000 Worte - Zwei Tausend Worte, die an Arbeiter, Landwirte, Beamte, Künstler und alle gerichtet sind" am 27. Juni 1968 vor 40 Jahren. Verfasst von dem Schriftsteller Ludvík Vaculík wurde es von 69 bekannten WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und SportlerInnen unterzeichnet und in der Zeitschrift Literární Listy sowie verschiedenen Zeitungen veröffentlicht.

Anlässlich des 40. Jahrestages des Manifestes der 2000 Worte erklärt die Redaktion des Magazins »prager frühling«:
„Es ist kein Zufall, dass das Manifest der 2000 Worte in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht wurde. Viele der Debatten, die den Prager Frühling zum Erblühen brachten, wurden damals über Literraturzeitschriften angestoßen. Insofern ist der Prager Frühling auch ein Beispiel dafür, dass politische und kulturelle Aufbrüche einander inspirieren. Nicht selten fallen politische und ästhetische Revolutionen zusammen ...“
Weiter in der LesBar: Funkenaustausch zwischen Kultur und Politik

Anlässlich dieses Jahrestages erklärt die stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE Katja Kipping (Redaktionsmitglied beim »prager frühling«):
„Das Manifest der 2000 Worte war ein wichtiges Ereignis innerhalb des "Prager Frühlings". Mit dem Prager Frühling verbinden wir heute vor allem den Einsatz für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, den Versuch Demokratie und Sozialismus zusammen zu bringen. Dieser so wichtige Aufbruch wurde durch den Einmarsch sowjetischer Panzer gewaltsam beendet. Doch der Impuls, Demokratie und Sozialismus zusammenzubringen, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt ...“
Weiter auf die-linke.de: Impulse des Prager Frühlings hochaktuell

Unfrieds „ÖKO“-Elite

Beitrag von Alexander Wallasch, geschrieben am 24.08.2008
Peter Unfried

Alexander Wallasch: In deinem Buch „ÖKO“ beschreibst Du individuelle Lebensumstände, die dich veranlassten Dein Leben zu „ökologisieren“. Wann erscheint „LINKS“, das Buch über einen Abschnitt Deines Lebens, der beschreibt wie Du politisiert wurdest?

Alexander Wallasch

Peter Unfried: Darum geht es mir nicht. Es geht darum, dass in Deutschland die Elite und auch Teile der gehobenen Mittelschicht eine ökologische und damit soziale Komponente bisher nicht in ihr Verständnis von Bürgerlichkeit und ihren Lebensstil integriert haben. Trotz der imminenten Gefahr einer Klimakatastrophe. Und deshalb brauchen wir eine neue Elite.

AW: Ist ein „Öko“ auch ein „Linker“? Wo sind die Schnittmengen?

Unfried: Nicht jeder Öko ist ein Linker. Das ist gut: Wir brauchen auch die anderen. Was mich aber nachhaltig irritiert: Dass viele Linke keine Ökos sind.

AW: Du sprichst von „neuen Ökos“. Wo ist die neue Linke?

Unfried: Jedenfalls nicht in der SPD.

AW: DIE LINKE bewegt. Links sein ist in. Was hat die taz davon? Spürt man das inhaltlich und/ oder in den Verkaufszahlen?

Unried: Die taz hat seit Mitte der 80er Jahre eine stabile verkaufte Auflage von etwa 60.000 Exemplaren und eine Leserschaft von etwa 200.000. Und zwar unabhängig von der Frage, ob links gerade angeblich "in" ist oder nicht. Tatsächlich zeigen unsere Leseranalysen aber etwas sehr Interessantes. Dass nämlich der Anteil der Linkspartei-Wähler unter unseren Lesern stark gestiegen ist. Die Gewinne gehen zu Lasten der Grünen. Da das Gros unserer Leser im Westen lebt, findet dort offensichtlich eine Wählerwanderung statt.

AW: Wie geht Ihr diese „neue“ Zielgruppe an?

Unfried: Die taz muss immer dort präsent und stark sein, wo etwas Neues passiert. Und das ist in der Parteipolitik eindeutig die Linke. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass unsere Berichterstattung über die Linkspartei vereinzelt, aber dafür umso heftiger kritisiert wird. Ich halte die Kritik nur für bedingt gerechtfertigt. Wir wollen die Entwicklung journalistisch begleiten: Weder mit Euphorie, noch mit Häme, sondern mit Neugier, ergebnisoffen und ohne Vorurteile.

AW: Kurz beantwortet: was unterscheidet die taz heute von der vor 10 und der 20 Jahren?

Unfried: Im April 2009 wird die taz 30. Ich würde die Geschichte in drei Phasen unterteilen. Die "Aufregungs"-taz von 1979 bis Mitte 90er, als man politische Bewegungen und antibürgerliche Milieus repräsentierte und manche Redakteure ideologisch dachten und schrieben. Dann kam bis etwa 2005 die Post-Aufregungs-taz - es war das Jahrzehnt der Professonalisierung mit und aufgrund der rot-grünen Regierung. Nun sind wir in der dritten Phase und endlich eine postideologische und damit wieder die modernste und lebendigste deutsche Qualitätszeitung. Unsere Leser kämpfen nicht mehr am Bauzaun eines AKW, sondern viele sind Elternsprecher, in Verbänden engagiert oder haben selbst ein eigenes Non-Profit-Unternehmen am Start. Um gut leben zu können, das Soziale, die Umwelt und die globale Ungerechtigkeit eben nicht ausblenden, sondern in einen modernen, bürgerlichen Lebensstil integrieren - wie kriegen wir das zusammen hin? Das ist eine spannende Frage.

AW: Hand auf die linke Seite: Was ist Dein größter Erfolg als Mitarbeiter der taz?

Unfried: Dass die taz den Anstoß gegeben hat, dass Berlin und Deutschland jetzt eine Rudi-Dutschke-Straße haben - durch einen Bürgerentscheid. Und obwohl sich der Axel-Springer-Verlag gegen diesen Bürgerwillen gestellt hat.

AW: Was Dein größter Misserfolg?

Unfried: Die politisch-korrekte Initiative "Harry Klein muss neuer Derrick werden" sollte den ewigen ZDF-Krimi-Assistenten in der Serie "Derrick" nach vielen Jahrzehnten als Wagenvorfahrer zum Nachfolger des Chefs machen. Es gelang nicht.

Zum Autor:

Alexander Wallasch sprach mit dem stellv. Chefredakteur der Beriner tageszeitung (taz), Peter Unfried, über dessen „ÖKO“-Coming-Out. Wallasch wartet gespannt darauf, welche gesellschaftlichen Veränderungen es noch braucht, bis Unfried nach seinem ökologischen ein linkes „Coming-Out“ zum Bestseller macht.

Liebe ist auch keine Lösung

Beitrag von Caren Lay, geschrieben am 24.08.2008
Caren Lay

Ob Sex and the City feministisch ist oder nicht - das war nicht zuletzt bei der Release-Party des Prager Frühlings heiß umstritten. Klar gehöre ich strikt zu den VerfechterInnen der ersten Position, hatte die Serie doch die Vorzüge selbstbestimmten Single-Daseins gepriesen, und mit dem Irrglauben aufgeräumt, Single-Frauen Mitte Dreißig seinen bedauernswerte Existenzen, die ein einziges Jammertal durchschreiten. Sie hat unser großstädtisches Single-Leben zutreffend beschrieben, es ironisch kommentiert und uns last not least mit den aktuellsten Styling-Tips und Sex-Trends versorgt – wenn auch vorwiegend aus Hetero-Perspektive. Kann frau also davon ausgehen, dass die Serie mit ihrem Massenpublikum zumindest nicht weniger für die Entwicklung weiblichen Selbstbewusstseins getan hat als manche ermüdende Diskussion in der Frauengruppe, so gibt der Film allen KritikerInnen recht.

Dabei widmet er sich einer überaus spannenden Frage. Thema ist nicht länger die Suche nach Liebe, sondern wie es sich eigentlich lebt, wenn frau sie endlich gefunden hat. Und das muss schlimm sein: Ein Leben am kleinbürgerlichen Stadtrand, betrübte Sonntagnachmittage im Aquarium, unentschiedene Ehemänner, unrasierte Bikini-Zonen und folgerichtig: monatelang keinen Sex. Auf das erste Fremdgehen folgt umgehend die Trennung. Bestand das Leben von Carry, Miranda, Charlotte und Samantha in ihren Dreißigern noch aus der Jagd nach dem besten Date, dem angesagtesten Club und der neuesten Handtasche, so wird ihr Leben in den Vierzigern als das von mehr oder minder gelangweilten Hausfrauen beschrieben, die gnadenlos im Luxus schwelgen. Keine Konfrontation mehr mit dem sexuell promisken WG-Leben, keine Diskussionen über das Recht auf Schuhe, keine Brüche in Biographie und Styling. So abschreckend kann Reichtum sein. Selbst die Idee des Handtaschen-Leasings gilt dem Film nicht als innovative Idee zur Bereicherung und sozialverträglichen Ausgestaltung eines großstädtischen Single-Lebens, sondern als minderwertiger „Ersatz“. Ja, es gibt ein Leben jenseits der Vierzig – aber muss es wirklich so aussehen? Die Angst vorm Älterwerden nimmt der Film jungen Frauen mit Sicherheit nicht.

Und vor allem ist die traurige Botschaft, dass das Schicksal Ehe am Ende doch unausweichlich ist. Irgendwann landet jede im Hafen gelangweilter Ehen, ach ja, im Grunde doch der innerste Wunsch jeder Frau. Warum nur, möchte man fragen. Wenn es so ist, wenn man die Liebe endlich gefunden hat, komme ich nicht umhin mich zu fragen, ob nicht die Jagd in Wirklichkeit spannender ist als die Beute. Was bleibt ist die enttäuschende Erkenntnis: Liebe ist auch keine Lösung!

»Die letzte Chance verpasst«

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 20.08.2008
„Sozialismus ja – Okkupation nein“ – bekanntes Plakat aus den Tagen der Intervention in Prag

Die Tageszeitung Neues Deutschland widmet am 21.08.2008 zum 40. Jahrestag der Intervention des Warschauer Paktes in der ČSSR und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings ihre Debattenseite der Frage „Prag '68: War die Intervention des Warschauer Paktes notwendig?“

Aus meiner Sicht eine absurde Fragestellung, die ein klares Nein verdient. Meinen Beitrag unter dem Titel »Die letzte Chance verpasst« für die Debatte im morgigen ND gibt es vorab auf unserer Website in der LesBar.

Die letzte Chance verpasst

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 20.08.2008
Norbert Schepers

Beitrag für die Debattenseite des Neuen Deutschland am 21.08.2008 zum Thema „Prag '68: War die Intervention des Warschauer Paktes notwendig?“

Aus meiner Sicht ist diese Fragestellung absurd; sie verdient ein klares Nein. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Intervention könnte auch so verstanden werden, dass die Rechtmäßigkeit derselben vorausgesetzt wird. Die Debatte über eine Notwendigkeit der Intervention des Warschauer Paktes in der ČSSR ist also die Auseinandersetzung um die Rechtfertigung dieses militärischen Eingriffs.

Unabhängig von vielem, was vierzig Jahre später zu Recht oder zu Unrecht in den Prager Frühling hineinprojiziert werden mag: Die Intervention in Prag 1968 ist immer auch die militärische Niederschlagung einer sozialen Bewegung gewesen. Zum Charakter sozialer Bewegungen sei angemerkt, dass diese zwar eine zentrale politische Forderung als Konsens aufweisen, aber die in dieser Bewegung zusammenwirkenden Menschen und Gruppen keinesfalls zwangsläufig dieselbe gesellschaftliche Orientierung oder Weltanschauung haben. Auch in der Bewegung des Prager Frühlings gab es diesen weltanschaulichen Pluralismus. Die entsprechenden Vorstellungen reichten von einem veränderten, menschlicheren Sozialismus bis hin zu einer weit reichenden Annäherung an Modelle westlicher Demokratien. Von Befürwortern einer Intervention wird häufig vorgebracht, wichtigen Akteuren in der ČSSR wäre es letztlich um die Abschaffung des Sozialismus gegangen. Somit sei der Prager Frühling eine Bewegung der Konterrevolution bzw. der kapitalistischen Restauration gewesen. Demgegenüber ist einzuwenden, dass für die Bewertung einer sozialen Bewegung entscheidende Frage nicht lautet, was die Motivation einzelner Akteure innerhalb dieser sozialen Bewegung ausmacht, sondern was deren gemeinsame Forderung, das geteilte Bewusstsein und die kollektive Praxis dieser Bewegung ist.

Der Prager Frühling war eine Bewegung für ein Mehr an Demokratie, mehr an Freiheit und mehr an gesellschaftlicher Teilhabe. Sie richtete sich gegen die Bevormundung durch die autoritäre staatliche Macht und gegen Unterdrückung und materielle Benachteiligungen. Mag sie auch andere Ausdrucks- und Erscheinungsformen angenommen haben oder sich in konkreten Forderungen sowie Anlässen und Abläufen unterschieden haben, die Bewegung des Prager Frühlings entsprach in ihrem Kern der antiautoritären Revolte in Westeuropa und Amerika.

Vor diesen Hintergrund gilt damals wie heute: Wie könnte die Linke nicht auf der Seite solcher Emanzipationsbewegungen stehen? Wie könnten Linke sogar den Einsatz von Panzern gegen diese Bewegung rechtfertigen wollen?

Militärische Intervention werden aus Sicht der Linken in der Regel nachdrücklich abgelehnt – so der mehrheitliche Tenor in der Partei DIE LINKE und auch in dieser Zeitung. Ausnahmen von dieser Orientierung dürften sich in der Regel auf die Niederschlagung mörderischer Regime wie den deutschen Nationalsozialismus beziehen. Dieser Vergleichsmaßstab macht deutlich, wie der Maßstab für eine Rechtfertigung militärischen Eingreifens aus emanzipatorischer Perspektive liegt: Extrem hoch. Und schließlich ist die weltweite Allianz der Kräfte, die schließlich die faschistischen Staaten besiegte, nicht durch eine politische Grundsatzentscheidung am grünen Tisch entstanden. Dieses widersprüchliche Bündnis bildete sich in einem Prozess des Widerstands gegen die Aggression des Nationalsozialismus und seiner Verbündeten.

Vor diesem Maßstab kann die militärische Aggression sozialistischer Staaten gegen eine Freiheitsbewegung innerhalb eines verbündeten Staates nur umso absurder und maßloser erscheinen.

Warum also sollte die Prager Intervention gerechtfertigt gewesen sein? Sollten während des „Kalten Krieges“ für die Linke tatsächlich andere Maßstäbe gelten, weil hier die Existenz des historischen Projektes des Sozialismus in einer globalen Konfrontation mit den kapitalistischen Staaten stand? Die Unterstellung einer politischen Notwendigkeit des militärischen Eingreifens des Warschauer Paktes läuft auf nichts anderes als eine Rechtfertigung nach dem Muster „der Zweck heiligt die Mittel“ hinaus.

Die Sicht der Breschnew-Doktrin verdeutlicht den Charakter des Warschauer Bündnisses: Die Souveränität der sozialistischen Bruderstaaten stand unter dem Vorbehalt, dass diese den Sozialismus nicht in Frage stellten – die Definitionsmacht über die Systemtreue lag dabei offenbar allein in Moskau.

Vor diesem Hintergrund kann die Rechtfertigung der militärischen Unterdrückung des Prager Frühlings mit dem gelegentlich geäußerten – allerdings spekulativ bleibenden – Hinweis auf die angebliche Gefahr eines offenen Krieges in Europa bei einer Abkehr von dieser Doktrin nur noch als Zynismus bezeichnet werden.

Der Kalte Krieg war eine weltweite Konfrontation zweier imperialistischer Mächte und ihrer Verbündeten, getrieben jeweils von einem ideologisch begründeten Expansionsdrang – diese Einschätzung war für eine undogmatische radikale Linke, die diesen Namen verdient, immer Konsens.

Kritisiert wurde aus dieser Position heraus folglich immer zuerst die Regierung des Staates und die Politik des Blocks, in dem man lebte – was nicht bedeutet, der jeweils anderen Seite mehr Sympathie entgegenzubringen oder deren Verbrechen aus dem Systemkonflikt heraus zu rechtfertigen.

Ich sehe auch heute nicht, warum die Linke hier eine Politik nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ betreiben sollte. Genau dies aber vertritt noch heute ein Teil der Linken, sei es aus Anlehnung an die Konfliktmuster des kalten Krieges, sei es aus einem verkürzten und falsch verstandenen Antiimperialismus.

Ein linker Antiimperialismus muss auch heute auf der Seite sozialer Bewegungen für Freiheit und Gerechtigkeit stehen. Er darf sich nicht mit Staaten oder anderen Konfliktparteien allein deshalb solidarisch erklären, weil diese z.B. in Opposition zum „American Empire“ stehen: Anderenfalls wäre jede emanzipatorische Perspektive aufgegeben zugunsten des Wunsches, auf der angeblich richtigen Seite innerhalb eines Konflikts zu stehen.

In Prag wurde vor vierzig Jahren endgültig die letzte Chance der Staaten des Warschauer Paktes für einen freiheitlichen Sozialismus vergeben. Vierzig Jahre danach sollte der Zeitpunkt für einen neuen Konsens in der Linken gekommen sein: Das Scheitern des „realsozialistischen Staaten“ von 1989 war letztlich eine notwendige Etappe, um das uneingelöste Projekt des Sozialismus und der menschlichen Emanzipation wieder voranbringen zu können.

Literaturhinweise:

Angelika Ebbinghaus (Hg.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr, Hamburg 2008 (VSA-Verlag).
Stefan Bollinger: 1968 – die unverstandene Weichenstellung, Berlin 2008 (Karl Dietz Verlag).

Zum Autor:

Norbert Schepers, Jahrgang 1968, arbeitet als Politikwissenschaftler. Er ist bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Vorsitzender der Bremer Landesstiftung und als Sprecher des Stiftungsrates aktiv. In den 90ern war er auf diversen Baustellen der radikalen und postautonomen Linken tätig. Norbert Schepers ist Mitglied der Redaktion des im Mai 2008 neu erschienenden Magazins »prager frühling«.
Siehe auch www.norbert.schepers.info
Blättern:
Sprungmarken: Zum Seitenanfang, Zur Navigation, Zum Inhalt.