Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)
Redaktionsblog

rechte Leute von links

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 19.08.2008

Pünktlich zum 40. Jahrestag des historischen "Prager Frühlings" hat die stalinistische Tageszeitung "junge Welt" ihre eigene Sicht der Dinge zur sozialistischen Reformbewegung in der damaligen CSSR zur Kenntnis gegeben.

Stalinistisch? Aber ja: Eine "geplante Konterrevolution" sei das ganze gewesen, und ein vom Westen gesteuerter Putsch, der auf die "Eitelkeit" des "Volkstribuns" Dubcek gesetzt hätte. "Die Dokumente", die dies in "historischem Kontext" belegen sollen, darf Horst Schneider dem geneigten jW-Leser präsentieren. Schneider war in den 60er Jahren DDR-Professor und Historiker am Pädagogischen Institut Dresden - ein Schelm, wer da an die Fortsetzung einer devoten Geschichtsklitterung aus dem DDR-Staatsapparat denkt.

Stalinistisch? Aber ja: Die Kafka-Konferenz 1963 sei "antisozialistisch instrumentalisiert" worden, von Dubcek seien "konstruktive neue Ideen nicht zu vernehmen" gewesen. Fazit: Gorbatschow, Dubcek, Sik und Mlynar, die Verräter des Sozialismus, die halbe Riege der eurokommunistischen Parteien des Westens - für die jW und Horst Schneider haben sie alle den notwendigen Sieg des Realsozialismus "nicht begriffen", diese grandiose Erfolgsserie in ökonomischer und kultureller Hinsicht, diese Welt voller demokratischer Freiheiten, gestützt auf die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten.

Stalinistisch? Aber ja: Schneider schlägt als "Alternative" zur Reform des Sozialismus durch die KPTsch den Weg Ulbrichts vor, sein "Neues Ökonomisches System". Dieses "war, wie wir heue wissen, der einzige realistische Reformansatz in 75 Jahren Sozialismus sowjetischer Prägung." Ohne zu bestreiten, dass Ulbrichts NÖS einige notwendige ökonomischen Effektivierungen brachte - gescheitert ist Ulbrichts NÖS ebenso, ökonomisch, demokratisch, kulturell. 1989 markiert die bedingungslose Kapitulation. Es gehört also einiges an Chuzpe dazu, erst den Mut der reformsozialistischen Kräfte in der damaligen CSSR, im Übrigen die Sympathien und Kritiken der eurokommunistischen Parteien des Westens, als Verräter, bestenfalls als Leute, die es "nicht begriffen" haben zu denunzieren, um dann den autoritären DDR-Sozialismus der 70er Jahre als Vorbild und Alternative zu preisen.

Stalinistisch? Aber ja: Dem Pädagogik-Professor Schneider und seinen Mannen aus dem mittleren und höherem Staatsdienst der Ulbricht-DDR musste die Politik der KPTsch als Bedrohung erscheinen - als Bedrohung der Mär vom unaufhaltsamen Sieg des real existierenden Sozialismus. Und nicht zuletzt als Bedrohung der eigenen privilegierten Stellung in Ulbrichts Filzlatschensozialismus. Mit Erfolg haben sie diese Bedrohung damals abgewehrt. Dass der Sozialismus - auch durch diese Abwehr von Veränderung - heute umso diskreditierter ist, weil die Verballhornung seiner Ziele, die Befreiung der Menschen von Ausbeutung und Fremdbestimmung, sich über weitere Zeiträume hinweg veranschaulichte, das muss dem heutigen DDR-Historiker-Rentner weniger interessieren. Die Hauspostille "junge Welt" druckt den ganzen Quatsch mit eingebauter eigener Lebenslüge ja immer noch ab.

Stalinismus? Aber ja: Wer den Sozialismus als alternative, attraktive Gesellschaft anstrebt, darf über den Stalinismus nicht schweigen. Und zwar nicht über den Stalinismus Stalins, sondern dem Neo-Stalinismus der Kritikabwehr am Realsozialismus, diese schein-materialistischen Plattidüden vom "historischen Kontext", dem "Klassengegner keine Zugeständnisse" zu machen usw. - als ob der Sozialismus sich nicht gerade wegen und trotz des Klassengegners als menschlich überlegen erweisen muss. Nun war - wer mag da heute den Stab brechen - damals kein Pädagogik-Professor vor falschen Schlüssen gefeit. Diejenigen jedoch, die dies heute noch unter die Leute bringen, ob aufgeschrieben oder "dokumentiert" an ihre Lesergemeinde, sind rechte Leute von links.

Lafontaines Linke

Beitrag von Norbert Schepers, geschrieben am 24.07.2008
Lafontaines Linke

Das Webmagazin »Wir & Sie«, initiiert vom Online-Journalisten Lorenz Matzat, hat leider sein Erscheinen eingestellt. »Wir & Sie« berichtete bereits früh über das Erscheinen des Magazins »prager frühling«.

Einer der Mitautoren, Tom Strohschneider, ehemals stellvertretender Ressortleiter Inland bei der Tageszeitung Neues Deutschland und heute Redakteur bei der Wochenzeitung Freitag schreibt nun weiter in einem eigenem Blog:
Lafontaines Linke - Das Blog zum gleichnamigen Buch von Wolfgang Hübner und Tom Strohschneider, erschienen Ende 2007 im Karl Dietz Verlag Berlin (ISBN 978-3-320-02120-7).
Strohschneider beleuchtet im Blog wie im Buch in der Regel kenntnisreich als fleißiger Chronist die Entwicklung der Linkspartei, teilweise sogar täglich - empfehlenswert.

Lupenrein!

Beitrag von Lena Kreck, geschrieben am 22.07.2008

Der Fördererkreis demokratischer Volks- und Hochschulbildung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalteten vergangenes Wochenende in Köln das Seminar "is this democracy looks like? Seminar zu Überwachungsstaat und Grundrechtsabbau". Anstatt zu betonen, wie sinnvoll politische Bildungsarbeit im Generellen und dieses Seminar im Speziellen ist, zwei kurze Worte zum Abendprogramm:

Fremde Städte wären nicht fremd, wenn sich dort nicht Anderes entdecken ließe. Die Entdeckung des Wochenendes war die Band Lupe. Die spielen überhaupt nicht meine Musik, mir war noch nicht mal bekannt, dass sie an diesem Abend im Gebäude 9 auftreten würden. Aber das interessiert ja nicht, wenn es einfach nur schön ist - mit Ausnahme des Rauchverbots, das in Kneipen nur gut ist, auf Konzerten und in der Disse jedoch quält. Doch das ist eine ganz andere Geschichte...

Liliputanerleitern auf der Apfelplantage

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 14.07.2008

Harald Werner hat in diesem Beitrag genau geschrieben, worum es geht, und was das Problem ist:

"...Offenbar kann Michael Brie immer nur an Mauer und Stacheldraht denken,wenn es um „Gleichheit auf Kosten der Freiheit geht“ und natürlich argumentieren so auch die Konservativen, aber in Wahrheit denken sie dabei, wie Hegel richtig vermutet, an das nackte Privatinteresse, nämlich an die Freiheit der Kapitaleigner. So zum Beispiel auch das Bundesverfassungsgericht, das in seinem Mitbestimmungsurteil 1979 die Freiheit der Kapitaleigner über die demokratische Mehrheit setzte oder 1995 das Dogma des so genannten "Halbteilungsgrundsatz" verkündete, nach dem vom Profit eines Vermögens nicht mehr als die Hälfte weggesteuert werden darf, weil sonst die Freiheit des Eigentums gefährdet würde. Nicht vor allem Linke glauben also, dass die Gleichheit auf Kosten der Freiheit geht, sondern die Konservativen tun es, ohne dabei an Mauer und Stacheldraht zu denken, sondern an den freien Kapitalverkehr und die freie Verfügung über ihre Renditen. Vielleicht ist Michael Brie der Meinung, dass es sich bei der Freiheit des Kapitals nicht um Freiheit handelt, aber das ist eben das Problem des so genannten Wertesozialismus, dass er von abstrakten Werten ausgeht, die in der konkreten Wirklichkeit völlig gegensätzliche Formen besitzen und deshalb auch nicht per Definition miteinander versöhnt werden können. Alle richtigen Forderungen, die Brie in der Folge seines Artikels zitiert, wie etwa Mitbestimmung und Demokratisierung der Wirtschaft, sind Einschränkungen der Freiheit und nichts anderes. Da kann Brie wiederholt schreiben: „Nicht Einschränkung von Freiheit, sondern ihre Verallgemeinerung ist das Ziel“, für die Kapitaleigner ist es dennoch eine enorme Einschränkung, wenn sie die Verfügungsgewalt über ihr Kapital verlieren.

In sich widersprüchlich ist aber nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleichheit. In beiden Fällen handelt es sich zwar um gesellschaftlich akzeptierte Werte, die aber schnell ihre allgemeine Akzeptanz verlieren wenn es konkret wird und die Frage nach dem tatsächlichen Inhalt des allseits geschätzten Begriffs gestellt wird. Michael Brie wird wahrscheinlich erschrecken, aber es scheint nach wie vor unverzichtbar, bei der Klärung von Wertinhalten die so sehr in Verruf geratene Klassenfrage zu stellen. Bei der Freiheit ist der Unterschied zwischen dem „Freiheitsgut“ der Kapitaleigner und der Lohnabhängigen evident. Die Freiheit der einen ist die Unfreiheit der anderen. Die Kapitaleigner haben die Freiheit mit ihrem Kapital zu tun oder zu lassen was ihnen gefällt und auch die Lohnabhängigen haben die Freiheit, ihre Arbeitskraft diesem oder jenem Kapitaleigner oder auch überhaupt nicht anzubieten. Nicht anders bei der Gleichheit. Auf dem Markt herrscht zwischen Arbeit und Kapital absolute Gleichheit, denn im Durchschnitt gesehen erhält jeder Marktteilnehmer beim Warentausch den vollen Wert seiner Ware erstattet. Die Ungleichheit kommt letztlich nur zustande, weil die Arbeitskraft im Arbeitsprozess, egal wie hoch ihr aktueller Marktwert ist, stets nicht nur ihren eigenen Wert, sondern auch den Mehrwert produziert. Die Gleichheit des Warentausches, dass nämlich alle Waren zu ihrem vollen Wert gekauft oder verkauft werden, führt also bei Kapital und Arbeit zu gegensätzlichen Ergebnisse, weil sie mit unterschiedlichen Waren auf den Markt gehen. Soziale Gerechtigkeit würde also voraussetzen, die herrschende Gleichheit zwischen Arbeit und Kapital abzuschaffen und durch Ungleichheit zu ersetzen. Zum Beispiel dadurch, dass die in der Gesellschaft geleistete Lohnarbeit nicht nach Marktpreisen, sondern nach ihrer Wertschöpfung bezahlt wird.
Der Begriff Gleichheit ist also eine Illusion, oder wie Engels einmal sagte, eine „gefährliche Phrase“, weil Gleichheit nur zwischen wirklich Gleichen Gerechtigkeit schafft. Ist das nicht der Fall, weil die Menschen unterschiedliche Bedingungen oder Voraussetzungen im gesellschaftlichen Miteinander haben, müssen auch unterschiedliche, nämlich ungleiche Regeln geschaffen werden. Der Jesuitenpater und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat das einmal in ein Bild übersetzt: Soziale Gerechtigkeit herrscht nicht dadurch, dass alle den gleichen Zugang zu einer Apfelplantage erhalten, sondern die Liliputaner Leitern erhalten...."

Offenbar hat Werner den Möller in dem Redaktionsgespräch der 1. Ausgabe gelesen:

"...Die Linke... täte gut daran, das ganze formelhafte Orakeln über Höher- oder Nachrangigkeiten von politischen und sozialen Rechten schnell einzustellen. Die neue Linke ist für Selbstbestimmung und Freiheit oder sie ist nicht links. Im Übrigen tauchen soziale und politische Rechte in der Realität, wenn überhaupt, dann eher im Doppelpack auf. Zusammenhänge herstellen gilt auch hier: Dort wo es bessere politische Mitbestimmungsmöglichkeiten und mehr Freiheitsrechte gibt, steht es auch um die sozialen Rechte besser..."

Grünflächenämter weltweit!

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 08.07.2008
Vorsicht Grünfläche!

Ooch! Die Bundeswehr darf ihr öffentliches Gelöbnis nicht auf dem Platz der Republik, direkt vor dem Bundestagsgebäude, abhalten. Das hat das Grünflächenamt Berlin-Mitte entschieden. Was für eine coole, quasi subversive Begründung sich der Herr Agrar-Oberinspektor einfallen ließ: Es gäbe eh schon viele Anfragen aus den Ministerien zur Rasennutzung. Durch die beabsichtigte Nutzung des Platzes durch unsere mordsmäßig feschen Jungs werde der Rasen "übernutzt".

"BILD" schäumt.

Daumen hoch: Bürokratie meets Ökologie, Ablehnungsbescheid meets Antimilitarismus. Mehr Bürokratie wagen! Mehr OberinspektorInnen braucht das Land. Vielleicht könnte das rot-rote Bundesland Berlin einen neuen Exportschlager kreieren: Grünflächenämter und OberinspektorInnen nach Kosovo, Afghanistan and all over the world. Denn seien wir doch mal ehrlich: Die Bundeswehr übernutzt die Erdoberfläche.

Obamas „Change“

Beitrag von Pedram Shahyar, geschrieben am 30.06.2008
Pedram Shahyar, Berlin, ist Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac.

Einen Tag vor den Wahlen in Kentucky und Oregan wusste man, dass es geschafft ist: Per Mail und ‚per Du’ informiert die Zentrale der Obama-Kampagne, dass 75.000 Menschen in Portland ihren Kandidaten empfangen hatten. Wochenlang hatte er täglich 15.000 bis 20.000 Menschen in Stadien und Domes versammelt. Diese Massen sind eine Art Bewegung. Ausgelöst von einem Wahlkampf, feiern sich die „neuen“, „schönen“, „emanzipatorischen“ USA voller Selbstbewusstsein. Ein Land, das auf der Grundlage der Sklaverei aufgebaut wurde, erlebt ihren ersten farbigen Präsidentschaftskandidaten.
Die Obama-Kampagne hat gegen Clinton gewonnen – und mit ihrem Erfolg erleben wir die schärfste Veränderung in der politischen Landschaft in den USA seit zwei bis drei Jahrzehnten.

„This Campaign“ – Wahlkampf oder etwa Bewegung?

In fast jeder Rede sprach Obama darüber, wie „diese Kampagne“ das Land verändere. Diese unterscheidet sich qualitativ von dem, was sonst als Wahlkampf bekannt war. In den meisten Analysen wurde der Erfolg Obamas bisher mit seinem Charisma, Stil und biographischen Kapital erklärt. Dieser reinen Oberflächlichkeit in der Betrachtung verdanken wir auch eine Menge grandioser Fehleinschätzungen[1]. Die Obama-Kampagne ist nämlich im Charakter geprägt von den Mustern von „grassroots“-Organisierung und sozialer Bewegungen. In einem Wahlkampf ist der Wähler gewohnt, innerhalb kurzer Zeit mit geballter Ladung Parolen, Gesichter, und - bestenfalls - einem polarisierten Wahlkampf auch noch politische Richtungen präsentiert zu bekommen - kurzzeitig und in komprimierter Form. Die Obama-Kampagne macht jedoch gerade eine enorme Basis-Beteiligung über einen längeren Zeitraum aus. Das fängt bei den Spendern an, die beim Sammeln von Kleinspenden alle Rekorde geschlagen haben. Computer-Mediated-Communication (CMC) ist das A und O der Kampagne. Ob per Mail, auf Facebook oder diversen Chatprogrammen, die Obama-Kampagne kommuniziert mit jedem und lässt alle kommunizieren: Ellenlange Blogs, diverse Unterstützergruppen und verschiedenste Foren. Es bleibt jedoch nicht nur bei virtueller Kommunikation: Über CMC füllen sich die Megahallen, und lokale Gruppen sind quer durch das Land entstanden.
Dieses Moment der Basis-Bewegung war Voraussetzung dafür, dass der politisch-kulturelle Bruch, den Obama verspricht und verkörpert, sich so erfolgreich entfalten konnte. So konnte er sich gegen das Gros des Parteiapparats der Demokraten und gegen große Leitmedien, die gerade zu Beginn mehr als deutlich Clinton favorisiert hatten, durchsetzen. Obamas Erfolg gegen Clinton ist der Sieg einer neuartigen Basisbewegung per Youtube über CNN und „New York Times“.

Die politische Symbolik des Bruches

Nicht nur Fehleinschätzungen, sondern auch Oberflächlichkeit begleitet die Berichterstattung über die Obama-Kampagne. Ganz im Sinne des Boulevards rückte man vor allem die Physiognomie Obamas in den Vordergrund. „Der Messias-Faktor“ titelte z.B. der Spiegel, wo man neben Stilanalyse ein paar trockene Programmpunkte und einige Umfragen zu lesen bekam – also alles Nebensächlichkeiten im Wahlkampf. Die zentrale Frage, wie diese Dynamik (oder „Momentum“ wie es in der Bewegung/Kampagnensprache heißt) entsteht, betrifft die politischen Kernaussagen, mittels derer Obama in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. In “Change – Yes we can“[2] kann man, muss aber nicht die Übersetzung der Parole des Weltsozialforums „Eine andere Welt ist möglich“ lesen. Doch eindeutig ist diese Botschaft hinsichtlich der Politik der Bush-Periode – sie will einen Bruch und mobilisiert dafür von unten.
Die eigene Agenda-Fassung in der heißen Phase des Wahlkampfs betraf drei Felder. Die Außenpolitik proklamiert eine Abkehr von der Kriegspolitik („because I didn’t"), eine Erneuerung des Multilateralismus und Verhandlungsbereitschaft gegen den „Schurkenstaaten“. In der Gesundheits- und Sozialpolitik werden die skandalösen Zustände der Gesundheitsversorgung fokussiert und eine allgemeine Krankenversicherung versprochen, die sich alle leisten können („because we will“). Für die Klimapolitik wird nichts Geringeres als eine Revolution angekündigt – eine USA, die mit der regenerativen Wende innerhalb einer Generation ohne Öl auskommen will („because we can“).
Dass die Hallen platzen, die Rechner heiß- und die Spendenkontos überlaufen, kann nicht nur mit der zugegeben brillianten Rhetorik, dem Aussehen, Stil und den Manieren Obamas erklärt werden, sondern vor allem mit diesem Diskurscocktail an den zentralen gesellschaftlichen Konflikten in den USA und der Welt.

Tiefenstruktur des Bruches – Humanismus gegen Zynismus

Vieles lässt sich an Obamas Aussagen und Wirken relativieren. Doch schauen wir kurz zurück: Die USA blieb zwar als einzige Weltmacht nach 1989 übrig, doch war und ist sie eine Weltmacht im Abstieg. In Europa entwickelt sich eine eigene Identität alternativer Großmachtvorstellungen. In Fernost sind ehemalige Schwellenländer und die neuen Wirtschaftsriesen China und Indien auf dem Vormarsch gegen die ökonomische Nr. 1 und überholen diese in Kürze. Im Mittleren Osten sinkt die westliche Hegemonie zusehends, und in Lateinamerika kam es schon zu einer schier unaufhaltsamen linken Welle.
In dieser Konstellation gab der 11. September den Neokonservativen die gesellschaftliche Gelegenheit, ihre Doktrin durchzusetzen. Global, und es galt mit der wichtigsten Region, dem Nahen Osten, zu beginnen, sollte eine grundsätzliche Umwälzung mit militärischer Macht erzwungen werden. Diese neue außenpolitische Doktrin setzte eine innenpolitische Fundamentalisierung in der amerikanischen Gesellschaft voraus. Existenzielle Angst bestimmte die Wahrnehmung, Ausnahmezustand war das neue Paradigma. Das Leben jedes Einzelnen, symbolisiert durch die Sicherheit der Vereinigten Staaten, stand permanent auf dem Spiel. Die Nation war im Krieg, nach außen und nach innen, das Freund-Feind-Schema bestimmend.
Mit der Etablierung dieser Muster stieg der Zynismus der Neokonservativen herauf. Einmal zum Feind erklärt, sind diese am liebsten Opfer, und für ihr Leiden selbst verantwortlich. Es wurde zum guten Ton, über das Leid anderer zu lachen, Spaß an Erniedrigung anderer zu empfinden. Im Abu Gharib sah man diesen Mechanismus in Reinform, der sich aber tagtäglich auch in den MTV-Dating- und Dissing-Shows abspielte. In diesem kulturellen Zynismus ist Empathie mit den Opfern eine Schwäche und wird getilgt. Es gilt, die freigesetzte Macht über andere zu zelebrieren, ganz unverkrampft. Diese Urgeste des militärischen Imperialismus, dessen Spur von den Kolonialisten bis in die KZs führt, schien ein ‚normaler’ kultureller Code zu werden. Das imperiale Angebot war eben diese nackte Macht über die anderen, und das Glück, nicht zu den Opfern zu gehören.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was der Schrei nach „change“ und „unity“ in der Obama-Kampagne auslösen musste. Gegen ethnische, religiöse, soziale und parteipolitische Grenzen das Land versöhnen zu wollen, heißt hier ein fundamentalistisches Freund-Feind-Schema zu sprengen. Diese „Einheit“ setzt auf Verständigung innerhalb der Vereinigten Staaten und zwischen den USA und der Welt.
Von besonderem Interesse wird diese Einheit, bedenkt man, welcher Moment des Empowerments dazukommt. In seiner als historisch geadelten Rede über Rasse („a more perfect union“) distanziert sich Obama vom Schwarzen Nationalismus der Generation zuvor - dieser hätte die Gesellschaft als statisch, den Rassismus der Weißen als letztlich unüberwindbar gesehen. Er betonte den Weg der Veränderung in der Rassenfrage in den USA (über „civil war“ and „civil disobedience“), um immer wieder die Möglichkeit der Veränderung der Gesellschaft zu betonen. Obamas Erfolg ist auch das Ende vom „Ende der Geschichte“.

Das andere Amerika

„Wenn Wahlen etwas verändern würden, wäre sie verboten“ – diese alte Weisheit außerparlamentarischer Linker scheint die politische Realität des Jahres 2008 in den USA offensichtlich nicht zu beschreiben. Gerade hier, wo die Unterschiede zwischen den Kandidaten und Lagern in der Vergangenheit selten qualitativer Natur waren, hat bereits eine Vorwahl vieles auf den Kopf gestellt. Diese Entwicklung kommt natürlich nicht ohne Vorlauf. Nachdem der neoliberale Durchmarsch Anfang der 80er mit den ersten Heroen Thatcher, Reagan, und Kohl seinen Anlauf nahm, um sich dann in den 90ern unter den Demokraten Clinton und Schröders und Blairs New Labour fortzusetzen, erlebte die globale Gegenbewegung 1999 ausgerechnet in den Strassen Seattles seine symbolhafte Geburtsstunde. Hiernach waren die Vereinigten Staaten Schauplatz einer sichtbaren linken Politisierung. Mit Ralf Nader entstand zum ersten Mal seit den 30ern eine ernsthafte linke Wahlkampagne jenseits der Demokraten, die auch Hallen füllte und am Ende einen Achtungserfolg nach Hause fuhr. Im Jahr 2000 gab es erstmals seit den 60er wieder Massenproteste vor den großen Parteitagen der Republikaner und Demokraten, samt Barrikaden, Wasserwerfern und massig Tränengas.
Als nach dem 11. September öffentlicher Protest oft unter den Stiefeln des Patriot-Acts erdrückt wurde, waren die Stimmen dieses Amerika nicht mehr so präsent – in der Stille jedoch wuchs neben Resignation und Schock auch Wut. Der demokratische Bewerber und heutige Vorsitzender der Partei Howard Dean versuchte 2004 in seiner Vorwahl-Kampagne bereits eine Basisbewegung zu initiieren, die zwar scheiterte, aber den Weg mit ebnete. John Kerry konnte, als er sich gegen Dean bei den Vorwahlen durchsetzte, bei seiner Kandidatur auf eine Rekordzahl freiwilliger Helfer zurückgreifen, die von Tür zu Tür gingen um die Wiederwahl Bushs zu verhindern. Damals hatten sie keinen Erfolg – die Angst war noch zu beherrschend, das neokonservative Projekt noch nicht offensichtlich Bankrott.
Doch vier Jahre später, kam zu dem Kollaps des militärischen Dominanzprojekts und der politisch-kulturellen Popularität und Hegemonie der USA in der Welt noch eine Finanzkrise dazu, die in den USA das Herz des „finanzmarktdominierten Kapitalismus“ traf und unzählige einfache Leute ihre Existenz gekostet hat. Das Blatt wendet sich, auf den Ruinen der Neokons konnte ein emanzipatorisches Projekt wie die Obama-Kampagne diesen Erfolg realisieren.
Was wird Obama als Präsident verändern? So falsch die Annahme ist, diese Wahl würde nichts verändern, so naiv wäre auch zu glauben, diese Kampagne ließe sich in Regierungspolitik übersetzen. Als Präsident wird er, so sehr auch mit neuen Kräften aufgefrischt, mit einem etablierten Apparat regieren. In Washington wird seine Regierung im Netz der Macht, der Lobbys und Konzerne genauso eingespannt und sich in permanenter Umlagerung befinden - wie jede andere zuvor. Wird er wirklich, wie angekündigt, in einen Feldzug gegen „old Washington games, played by old Washington players“ ziehen? Man darf gespannt sein, denn deren Widerstand ist garantiert und skrupellos. Sollte er sich ihnen mit zu geringem Einsatz fügen, wäre die Enttäuschung im neuen Lager natürlich groß. Doch es wäre fast zynischer Pessimismus zu glauben, danach wäre alles beim Alten. Was bis jetzt in Gang gesetzt wurde, lässt sich nicht per Mausklick oder Regierungsbeschluss abschalten. Die enorme Politisierungswelle, Hoffnung und das Selbstbewusstsein des kritisch-humanistischen Amerika wird das Land bei einem Erfolg Obamas im November in eine progressive Reformstimmung versetzen, die es seit den 60ern nicht mehr gegeben hat.

Mutation des Empires?

Die Geschichte zeigt die Machbarkeit von Veränderung von unten, aber auch die Flexibilität der Macht im Empire. Eine reale Gefahr lauert in einer Mutation: Die USA, angeführt von einem Halbschwarzen namens Hussein und dieses Profils, werden auf globaler Ebene, was ihre politisch-kulturelle Popularität und Hegemonie anbelangt, schlagartig das Verlorene von der Zeit der Neokons wieder ausbügeln. Gut so - denn die Rekonstruktion ihrer Hegemonie läuft in diesem Falle über liberale, progressive und emanzipatorische Werte und Symbole! Die Geschichte Kennedys, mit dem Obama so gerne verglichen wird, ist jedoch eine Warnung. Auch er strahlte global und sorgte für eine Welle der Sympathie. Diese wurde aber in Zeiten eines expandierenden Konkurrenten des Ostblocks zum kulturell-geistigem Beiwerk einer neuen imperialistischen Expansionspolitik sondergleichen: Der so populäre Kennedy befahl die große Intervention in Vietnam und brachte die Welt in der Cuba-Krise an den Rand der atomaren Eskalation.
Ob die Obama-Regierung unter den neuen Vorzeichen eine wirkliche Wende oder eine dynamische Modernisierung des Alten bringen wird, wird nach der Wahl entschieden: zwischen den alten und natürlich immer noch mächtigen Eliten und der mit neuer Kraft ausgestatteten amerikanischen kritischen Öffentlichkeit.

Anmerkungen:

[1] Der Starreporter des Spiegels Gabor Steingart, der den gesamten Wahlkampf mit einer Kolumne „Westwing“ aus Washington begleitet, beglückte uns zeitweise mit wöchentlichen Abgesängen auf Obama. Nach den ersten Erfolgen für Clinton wurde „Das Ende der Obama-Revolution“, und am Supertuesday, an dem Obama deutlich mehr Staaten und Delegiertenstimmen gewonnen hatte und in Führung gegangen war, konnte man über den Titel „Arbeitssieg für Clinton“ nur staunen.
[2] „Yes we can“ wurde aus der Tradition einer kämpferischen Landarbeitergewerkschaft übernommen.

Zum Autor:

Pedram Shahyar (35) wohnt in Berlin, ist Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac und promoviert über die globalisierungskritische Bewegung.

Ich muss gar nichts!

Beitrag von Jörg Schindler, geschrieben am 29.06.2008
Ich muss gar nichts!

Die Sozialistische Jugend Österreichs hat eine sehr gelungene Kampagne entworfen:

Lieber die Nase im Kebab, als den Finger im Hals

"Ich muss gar nichts!"

Bei "Frisieren" denk ich zuerst an Motoren.

Filme, Fotos, T-Shirts und weiteres Material mobilisieren für einen zeitgemäßen und ansprechenden Feminismus. Außerdem gibt es lokale Aktionstage. Vielleicht auch eine Anregung für die mehr und mehr männerlastige deutsche Linke und ihre Jugendorganisationen.

Fürs Leben lernen... heißt Maul halten und parieren?
>>fast forward>> statt rewind.
Ich muss gar nichts!

Funkenaustausch zwischen Kultur und Politik

Beitrag von Redaktion »prager frühling«, geschrieben am 26.06.2008
„Sozialismus ja – Okkupation nein“ – bekanntes Plakat aus den Tagen der Intervention in Prag

Ein wichtiger Meilenstein im Zuge des Prager Frühlings war die Veröffentlichung des "Manifestes der 2000 Worte - Zwei Tausend Worte, die an Arbeiter, Landwirte, Beamte, Künstler und alle gerichtet sind" am 27. Juni 1968 vor 40 Jahren. Verfasst von dem Schriftsteller Ludvík Vaculík wurde es von 69 bekannten WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und SportlerInnen unterzeichnet und in der Zeitschrift Literární Listy sowie verschiedenen Zeitungen veröffentlicht.

Anlässlich des 40. Jahrestages des Manifestes der 2000 Worte erklärt die Redaktion des Magazins »prager frühling«:

„Es ist kein Zufall, dass das Manifest der 2000 Worte in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht wurde. Viele der Debatten, die den Prager Frühling zum Erblühen brachten, wurden damals über Literraturzeitschriften angestoßen. Insofern ist der Prager Frühling auch ein Beispiel dafür, dass politische und kulturelle Aufbrüche einander inspirieren. Nicht selten fallen politische und ästhetische Revolutionen zusammen.

Angeregt durch dieses historische Beispiel wird sich der Schwerpunkt der Zweitausgabe des Magazins »prager frühling« dem Verhältnis zwischen Politik und Kultur widmen. Und dieses Verhältnis ist zweifelsohne belastet, belastet durch den Rückzug vieler Künste in den Elfenbeinturm und durch Versuche der Politik, die Kunst vor ihren Karren zu spannen. Nun stellt sich die Frage, ob es nicht doch einen Platz des Austauschs, der gegenseitigen Inspiration gibt - jenseits der Barrikade, aber auch jenseits des Elfenbeinturmes.

Wie sagte doch schon Heiner Müller so treffend: „Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal. Und wenn man Glück hat, entstehen Funken.“

Die nächste Ausgabe, die im Oktober erscheint, wird sich auf die Suche machen nach den Momenten des Funkenaustauschs und nach einer neuen Ästhetik des Widerstandes.

Anmerkungen

Der tschechische Originaltext des Manifests der 2000 Worte findet sich auf dieser Website: Dva tisíce slov
• Nachtrag: Die Wochenzeitung Freitag dokumentiert das Manifest in leicht gekürzter Form in deutscher Übersetzung, siehe Ausgabe 33 vom 15.08.2008

Frauenerwerbstätigkeit und Familienmodelle im deutschen Sozialstaat

Beitrag von Jana Schultheiss, geschrieben am 19.06.2008
Jana Schultheiss ist Volkswirtin und lebt in Wien. Sie ist Mitglied im erweiterten Bundesvorstand des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

„Durch die Arbeit hat die Frau einen großen Teil der Distanz, die zwischen ihr und dem männlichen Geschlecht lag, überwunden, und allein die Arbeit kann ihr eine konkrete Freiheit garantieren.“(1) Diese Feststellung Simone de Beauvoirs in „Das andere Geschlecht“ soll in Erinnerung ihres 100. Geburtstags am 9. Januar 2008 Anlass sein, den Stand der Frauener-werbstätigkeit(2) in Deutschland zu analysieren. Dabei gilt es insbesondere die Motive der Förderung der Erwerbs- bzw. Nichterwerbstätigkeit von Frauen seitens des Staates zu hinterfragen.

Der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland
Frauen haben immer gearbeitet bzw. sind einer Erwerbsarbeit nachgegangen. Seit den 1970er Jahren lässt sich allerdings ein starker Anstieg der Zahl erwerbstätiger Frauen beobachten, der überwiegend durch den Anstieg der Erwerbstätigkeit von verheirateten, westdeutschen Frauen (von 38,9% im Jahr 1970 auf 58,9% im Jahr 2005)(3) verursacht wurde. Dies scheint einer Abkehr des sich in der Nachkriegszeit in Westdeutschland etablierten Familienmodells des versorgenden, alleinverdienenden Ehemanns und der dazugehörigen Ehefrau, die spätestens ab der Geburt des ersten Kindes ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Hausarbeit und Kindeserziehung aufgab, gleichzukommen. Als Ursachen werden neben dem steigenden Bildungsni-veau (insbesondere von Frauen) der Strukturwandel des Arbeitsmarktes(4) und die damit einhergehenden veränderten Anforderungen an die Beschäftigten sowie die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse genannt. Aus letzterem resultierte ein stärkeres Bedürfnis der Frauen nach eigener ökonomischer Absicherung. Im Zuge der Student/innen- und Neuen Frauenbewegung begann sich zudem das gesellschaftliche Verständnis von Er-werbsbeteiligung und Aufteilung der Familienarbeit zu wandeln. Trotz dieser Fortschritte kam es jedoch bis heute nicht zu einer Gleichstellung von Männern und Frauen auf dem Arbeits-markt. Vielmehr lässt sich eine deutliche Segregation des Arbeitsmarkts konstatieren, die sich zum einen in einer Konzentration von Frauen auf ‚typische’ Berufe mit überwiegend geringer Entlohnung (horizontale Segregation) und einer hierarchischen Verteilung (vertikale Segregation), die deutlich zugunsten der Männer ausfällt, manifestiert. Zudem ist nach wie vor ein großes Lohngefälle zu Gunsten der Männer festzustellen. So liegt laut aktuellem Genderbe-richt der EU-Kommission der Unterschied im Stundenlohn zwischen Frauen und Männern in Deutschland bei 22%, womit Deutschland den viertletzten Platz in der EU einnimmt.(5) Ferner gehen Frauen in einem erheblichen Ausmaß einer Teilzeitbeschäftigung nach - 2004 lag die Teilzeitquote von Frauen bei 42,1%(6). Sie partizipieren damit selbst wenn sie erwerbstätig sind zu einem erheblich geringeren Ausmaß am Erwerbsleben als Männer. Gegenüber dem Familienmodell des ‚versorgenden Alleinverdieners’ kann also heute von einem ‚modifizierten Versorgermodell’, dass durch eine Vollzeiterwerbstätigkeit des Ehemannes und einer Teilzeiterwerbstätigkeit der Ehefrau gekennzeichnet ist, gesprochen werden. Dabei handelt es sich jedoch meistens nur um einen Zuverdienst der Frau zum männlichen Haupternährer(7) - eine wirkliche Selbständigkeit und ökonomische Unabhängigkeit kann kaum oder nur schwer er-reicht werden.

Emanzipatorische Motive der Frauenerwerbstätigkeit
Bereits Simone de Beauvoir hat festgestellt, dass es falsch wäre zu glauben, dass eine Er-werbstätigkeit sowie das Wahlrecht von Frauen „bereits eine vollkommene Befreiung“ wäre, denn auch „die heutige Arbeit ist nicht Freiheit“ und die Frau gibt sich durch ihre Erwerbstä-tigkeit in andere Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse.(8) Dies gilt auch heute noch für die meisten Beschäftigungsverhältnisse, dennoch ermöglicht erst ein eigenes Einkommen die ökonomische Unabhängigkeit der Frau von Ehemann und Familie und eröffnet damit die Option eines eigenständigen Lebens. Ferner wirkt Erwerbsarbeit sinnstiftend, bereichert persönlich, erweitert den eigenen Horizont und schafft Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben.(9) Dies sind auch wichtige Voraussetzungen um die kapitalistischen (Arbeits-)Verhältnisse hinterfragen zu können. Eigene Erwerbstätigkeit hat also immer auch einen emanzipatorischen Charakter. Dies lässt sich auch daran festmachen, dass ein Ausschluss von Erwerbsarbeit neben ökonomischen Problemen häufig mit sozialen und psychischen Belastungen einhergeht.

Frauenerwerbstätigkeit im deutschen Sozialstaat
Die internationale feministische Wohlfahrtsstaatsforschung hat aufgezeigt, dass “wohlfahrtsstaatliche Politik von Beginn an Geschlechterpolitik war“. So ist auch der deutsche Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat nicht geschlechtsneutral konzipiert, sondern antizipiert von jeher traditi-onelle Geschlechterbilder und Rollenverteilungen. Dies wird besonders an der Orientierung der Sozialleistungen an der männlichen Normalarbeitsbiographie deutlich.(10)

Konservative Elemente am Beispiel des Ehegattensplittings
Im Bezug auf die Förderung der Frauenerwerbstätigkeit im deutschen Sozialstaat kann insgesamt von keiner einheitlichen politischen Strategie gesprochen werden. So sind deutlich konservative Elemente vorhanden, wie insbesondere fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Westdeutschland, die sich auf der Vorstellung einer ‚privaten Kindheit’ in der die Erziehung zuhause durch die nichterwerbstätige Mutter erfolgt, begründen lassen. Auch in der Steuerpo-litik lassen sich Elemente finden, die explizit die Nichterwerbstätigkeit verheirateter Frauen fördern. Dies trifft insbesondere auf das nun seit 60 Jahren geltende und in der Politik nicht ernsthaft zur Debatte stehende Ehegattensplitting zu. Demnach werden die beiden zu versteuernden Einkommen eines steuerlich zusammen veranlagten Ehepaares erst addiert und dann halbiert. Auf jede Hälfte ist anschließend der Durchschnittsteuersatz zu entrichten. Die resul-tierenden Steuerreduzierungen im Gegensatz zu einer Individualbesteuerung sind dabei umso höher, je unterschiedlicher die Einkommen sind. Dies lässt sich zum einen dadurch erklären, dass der Grundfreibetrag der Einkommensteuer – auch für verheiratete Alleinverdiener – zweimal gewährt wird. Andererseits ist der Durchschnittssteuersatz bei einer gemeinsamen Veranlagung aufgrund des progressiven Verlaufs des Einkommensteuertarifs in Deutschland immer niedriger als bei einer Individualbesteuerung. Die höchste Reduzierung durch den Splittingeffekt ist also bei Ehepaaren, bei denen nur ein Partner einer Erwerbstätigkeit nachgeht, besonders hoch (maximal 7.914 ¤ pro Jahr). Schon ein kleiner Zuverdienst des anderen Partners würde den Effekt deutlich reduzieren; je größer der Zuverdienst wird, umso geringer wird der Splittingeffekt.(11) Während die meisten europäischen Länder von einer Familien- bzw. Ehegattenbesteuerung zumindest teilweise zu einer individuellen Besteuerung übergegangen sind(12) stellt das deutsche Ehegattensplitting immer noch den „‘Idealtyp‚ einer Be-günstigung des Ernährermodells“ dar(13).


Wirtschaftliche und demographische Motive – Beispiel Elterngeld
In der jüngeren politischen Debatte wird eine Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit ange-strebt, wobei aber weniger emanzipatorische Motive im Vordergrund stehen. Vielmehr ist die demographische Entwicklung - insbesondere mit dem Verweis auf die Akademikerinnenkinderlosigkeit – das Movens politischen Handelns. Exemplarisch hierfür steht das 2007 eingeführte - aus der Gleichstellungsperspektive grundsätzlich zu begrüßende - Elterngeld. Dieses wird einkommensunabhängig in Form einer Lohnersatzleistung (67% des Einkommens – bis maximal 1.800 ¤ monatlich) gezahlt und ermöglicht damit gegenüber der alten Regelung des einkommensabhängigen, fixen Erziehungsgeldes eine größere ökonomische Unabhängigkeit des betreuenden Elternteils. Es kann somit als ein Schritt zur Abschwächung des männlichen Versorgermodells verstanden werden. Insgesamt erlaubt die Neuregelung durch die Koppe-lung der Leistung an den Lebensstandard, die Betreuungsentscheidung der Familie unabhän-giger von ökonomischen Überlegungen zu treffen. So war es aus Sicht einer Familie bei 300 ¤ Erziehungsgeld im Monat meist rational auf das in der Regel geringere Einkommen der Mutter zu verzichten, selbst wenn das tradierte Rollenverständnis eigentlich abgelehnt wurde. Die Lohnersatzleistung erleichtert es nun auch (berufstätigen) Vätern, die die Betreuung des Kin-des übernehmen wollen, dies auf Grund der geringeren Einkommensverluste zu tun. Bei der Einführung des Elterngeldes wurde auch die Bezugsdauer von 24 Monaten auf maximal 12 Monate pro Elternteil (neu sind zwei ‚Partnermonate’, die zusätzlich gewährt werden, wenn der andere jeweils andere Partner in dieser Zeit die Betreuung übernimmt) gekürzt. Dies kann als Anreiz, nach der Betreuungsphase schneller wieder die Erwerbstätigkeit aufzunehmen interpretiert werden, womit eine generell stärkere Orientierung der Leistung an der Erwerbstä-tigkeit beider Eltern festgestellt werden kann.(14) Bei dem derzeitig mangelhaften Angebot an externen Kinderbetreuungsmöglichkeiten läuft diese Regelung allerdings ins Leere. Darüber hinaus muss die Neuregelung des Elterngeldes insofern negativ bewertet werden, als die gleichstellungspolitisch begrüßenswerten Ansätze teilweise auf Kosten sozialpolitischer Regelungen erkauft worden sind: Die großen Verlierer/innen der Reform sind Familien, die das einkommensabhängige Erziehungsgeld von 300 ¤ im Monat 24 Monate lang bekommen hät-ten und nun den Mindestbetrag des Elterngeldes – ebenfalls 300 ¤ - nur noch maximal 14 Monate erhalten. Umgekehrt erhalten die Eltern, die es finanziell am wenigsten nötig hätten, die höchsten Elterngeldzahlungen. Die Reform vom Erziehungsgeld zum lebensstandardori-entierten Elterngeld bedeutet somit auch eine Abkehr von der Bedarfsorientierung.

Heutige Frauenpolitik?
Grundlegend kritisiert werden muss an der aktuellen deutschen sozialstaatlichen Politik im Bezug auf Frauenerwerbstätigkeit, dass diese fast ausschließlich im Rahmen der Familienpolitik diskutiert wird.(15) Zwar ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein wichtiger Punkt in der Gleichstellung – aber lange nicht der Einzige. Frauenpolitik muss immer mehr sein als Familienpolitik! So ist seit dem Scheitern des von Rot-Grün beabsichtigten Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft - statt dessen wurde eine Vereinbarung mit deren Repräsentanten geschlossen(16) die einer Farce gleichkommt - wenig frauenpolitisches seitens der Bundesregierungen verlautbar geworden. Auch gesamtgesellschaftlich wird kaum noch über die emanzipatorischen Motive der Frauenerwerbstätigkeit gesprochen. Dies wäre allerdings notwendig wenn beim weiteren Aufbrechen tradierter Rollenbilder durch die Individualisie-rung der Lebensformen eine individuelle Soziale Sicherung von Frauen, die mit emanzipatori-scher, ökonomischer Unabhängigkeit eingeht, stehen soll. Andernfalls besteht die große Gefahr, dass diese Möglichkeit mit einer weiteren neoliberalen Individualisierung privater Risi-ken verwechselt wird. Denn die reine Forderung nach einer Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit bietet durchaus auch Anknüpfungspunkte an neoliberale Konzepte. Hiernach wird die Forderung vor allem unter einem humankapitaltheoretischen Gesichtspunkt behandelt, d.h. unter der Prämisse, dem Arbeitsmarkt möglichst viel Humankapital zuzuführen. Gleichzeitig kommt es dabei zu einem Abbau sozialer Sicherung nach dem Motto „Sorge für Dich selbst – denn sonst tut es keiner“, sodass Nichterwerbstätigkeit in diesem Konzept schnell ein Abrut-schen in die Armut bedeutet. Die Grenze zwischen emanzipatorischer und neoliberaler Er-werbsorientierung kann also schmal sein.
Emanzipatorische Forderungen gehen immer mit einer eigenständigen Sozialen Sicherung einher. Parallel zur steigenden Frauenerwerbstätigkeit muss es zudem um eine Umverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern gehen – nicht (nur) um eine zusätzliche Belastung der Frauen. Denn ohne Änderungen in den Bereichen Haus- und Erziehungsarbeit impliziert „[d]ie Vergesellschaftung über zwei Arbeitsformen (..) doppelte Diskriminierung. Frauen werden zur unbezahlten Hausarbeit verpflichtet, was zudem ihre gleichberechtigte Integration in das Beschäftigungssystem erschwert. Und die marktvermittelte Arbeit von Frauen wird schlechter bewertet als die von Männern. Es ist ein Dilemma: Wie immer sich Frauen sich entscheiden – für Familie und gegen Beruf, gegen Familie und für Beruf oder für beides – in jedem Fall haben sie etwas zu verlieren. (…) Versuchen sie beides – Beruf und Familie – zu vereinbaren, so bedeutet das Stress, kaum Zeit für eigene Bedürfnisse, Verschleiß von Le-benskraft.“(17)

*Der Artikel erschien zuerst in "Grand Hotel Abgrund – Zeitschrift der Fachschaftphilosophie an der Uni Köln".

1De Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 2000 (französische Origi-nalausgabe Paris 1949), S. 841.
2In Abgrenzung zu unbezahlter Haus- oder Pflege- und Erziehungsarbeit wird im Folgenden von Erwerbstätig-keit gesprochen, wenn entlohnte Arbeit gemeint ist.
3Vgl. Statistisches Bundesamt: Ergebnisse des Mikrozensus.
4Unter diesem Strukturwandel versteht man sinkende Beschäftigtenzahlen im primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei) und im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe) sowie steigende Beschäftigten-zahlen tertiären Sektor (Dienstleistungen), insbesondere im Bereich „Sonstige Dienstleistungen“, worunter z.B. Forschung, Beratung, Bildung, Gesundheit und Pflege fallen Vgl. hierzu Zerche, Jürgen; Schönig, Werner; Klingenberger, David: Arbeitsmarktpolitik und -theorie. Lehrbuch zu empirischen, institutionellen und theoreti-schen Grundfragen der Arbeitsökonomik, München, Wien 2000, S.31f.
5Vgl.: Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Gleichstel-lung von Frauen und Männern – 2008, Brüssel 2008, S.16.
6Vgl.: Dressel, Christian: Erwerbstätigkeit – Arbeitsmarktintegration von Frauen und Männern, in: 1. Datenre-port zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom: Bundesministe-rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2005, S.122ff.
7Vgl. beispielsweise: ebd. S.101.
8De Beauvoir, Das andere Geschlecht, a.a.O., S. 842.
9Vgl. hierzu beispielsweise: Wimbauer, Christiane: Geld und Liebe. Zur symbolischen Bedeutung von Geld in Paarbeziehungen, Frankfurt/Main 2003, S.132ff, oder: Notz, Gisela: Arbeit: Hausarbeit, Ehrenamt, Erwerbsar-beit, in: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, hrsg. von: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate, Wiesbaden 2004, S. 423.
10Vgl.: Dackweiler, Regina-Maria: Wohlfahrtsstaat: Institutionelle Regulierung und Transformation der Ge-schlechterverhältnisse, in: Becker, Kortendiek: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, a.a.O., S.451ff.
11Vgl. zum Ehegattensplitting ausführlich: Bundesministerium der Finanzen: Das Splitting-Verfahren bei der Einkommensteuerveranlagung von Ehegatten, in: Monatsbericht des BMF, September 2005.
12Vgl.: Dingeldey, Irene: Einkommensteuersysteme und familiale Erwerbsmuster im europäischen Vergleich, in: Erwerbstätigkeit und Familie in Steuer- und Sozialversicherungssystemen. Begünstigungen und Belastungen verschiedener familialer Erwerbsmuster im Ländervergleich, hrsg. von: Dingeldey, Irene, Opladen 2000, S. 11.
13Ebd. S. 21.
14Vgl. zu den Regelungen des Elterngeldes: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: El-terngeld und Elternzeit. Das Bundeseltermgeld- und Elternzeitgesetz, Berlin 2007.
15Vgl. beispielsweise: Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2005, S. 180ff.
16Ebd. S.182.
17Becker-Schmidt, Regina: Doppelte Vergesellschaftung von Frauen: Divergenzen und Brückenschläge zwi-schen Privat- und Erwerbsleben, in: Becker, Kortendiek: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, a.a.O, S. 64.

nun auch im sorbischen blog

Beitrag von Katja Kipping, geschrieben am 16.06.2008

"Praske nalěćo je při¨ło" - heißt "der Prager Frühling ist gekommen" und ist der Titel eines sorbischen Blogs, der sich voller Begeisterung mit dem Magazin prager frühling auseinandersetzt. Und man höre und staune: Vor allem der Selbsttest-Beitrag zu Sex and the City findet besondere Würdigung. Wer also mal sehen will, wie es aussieht, wenn das Magazin auf sorbisch besprochen wird: Hier geht es zum sorbischen Blog.

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