Kein Kitsch.
Zur Gründung des Studierendenverbandes
Organisationen, Staaten oder Vereine stricken sich zumeist im Nachhinein eine Gründungsgeschichte. Die Gründungsgeschichte übernimmt eine wichtige Funktion: Sie stiftet Zusammenhalt und ermöglicht Konflikte darum, was „eigentlich“ die geteilten Grundlagen der Zusammenarbeit sind. Doch die Gründungsgeschichte zeichnet ihr Bild aus der Perspektive der Heutigen und so wird es oft ein eigentümlich verkitschtes Bild. Hier schlägt die Stunde der starken Männer, der „Gründer“, der in den Geschichtsverlauf eintretenden Massen, der Feierlichkeiten und Gesänge, der Fahnen und Hymnen. Doch all das ist immer nur die eine Seite der Umbrüche: Die Pariser Barrikadenkämpfen 1789 sind eben nur die eine Seite, die handfesten Interessen einer aufstrebenden Bourgeoisie und die Unfähigkeit der herrschenden Klasse die Staatsgeschäfte in Ordnung zu bringen die andere. Die rätedemokratische Beteiligungskultur der russischen Revolution 1917 ist nur die eine Seite, auf der anderen steht das politische Handeln linker Funktionseliten, die sich in einem bestimmten Moment dafür entscheiden, die Staatsmacht zu ergreifen. Man könnte hier eine ganze Reihe von anderen Beispielen aus der Geschichte der Umbrüche und Revolutionen, der Um- und Neugründung linker Bewegungen anführen.
Karl Marx hatte sich jedenfalls schon früh, in seiner Schrift zum Scheitern der demokratischen Revolution 1848 in Frankreich, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte” - vom Gründungskitsch und vom Heroismus distanziert: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.”[1]
Neugründungen erwachsen also nicht nur aus Eifer und Enthusiasmus, aus besonders großen „Namen” oder nur schrillen „Schlachtparolen”, sondern sie antworten auf bestehende Strukturkrisen. Es kommt dabei durchaus auch (aber nicht ausschließlich) auf das Handeln von Einzelnen oder sozialen Gruppen an. Sie nutzen meist flüchtige, günstige Gelegenheiten und bringen Ergebnisse hervor, die sich den ursprünglichen Interessen der jeweiligen „Gründer“ verselbstständigen. Neugründungen sind mit Gewalt verbunden. Sie verdrängen das, was schon da ist, und müssen durchgekämpft werden. „Sie fressen ihre Kinder“, sie richten die Gründergeneration zu Grunde oder transformieren sie von enthusiastischen Gründern zu nüchternen Verwaltern des Neuen. Auf die Gründung folgt die Konterrevolution und die Revolution muss mühsam und kleinteilig gegen ihre Gegner verteidigt werden.
All das gilt auch im Falle der Neugründung des Studierendenverbandes Die LINKE.SDS, die im Jahre 2007 stattfand. Soweit wir sehen können, hat sich erst über die Jahre eine langsame Stabilisierung der Organisation und eine Verankerung in ihrem Handlungsfeld – der Hochschule – ergeben. Vielleicht kann man (aber das werden die heutigen Aktiven des Verbandes besser einschätzen können) von einem Lern- und Stabilisierungsprozess ausgehen.
Im Folgenden wollen wir – auch aus eigenem Erleben – nachzeichnen, welche Faktoren und Strukturbedingungen in die Gründung des Verbandes gemündet und welche Herausforderungen sich uns damals gestellt haben. Wir wollen damit zumindest einen Teil dessen nachliefern, das im heutigen Bild unterzugehen droht und folgen darin Walter Benjamin, wenn er sagt: „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu.”[2] Im ersten Teil gehen wir daher auf Vorbedingungen für die Gründung des Verbandes ein (I.). Im zweiten Teil zeigen wir auf, welche politischen Konflikte und Probleme des Organisationsaufbaus sich in den ersten Monaten und Jahren stellten (II und III.). Abschließend schlagen wir eine verallgemeinerte Hypothese vor, wie die Entwicklung des Verbandes erklärbar werden kann (IV.).
I. Vorbedingungen der Gründung
Die Gründung des Verbandes resultierte aus einem Um- und Neugruppierungsprozess der gesellschaftlichen Linken in der BRD. Es sammelten sich hier nicht linke Student_innen aus freien Stücken, um nun endlich denjenigen Studierendenverband zu gründen, den sie schon immer wollten; vielmehr brachte die Perspektive auf eine gemeinsame Linkspartei, die seit den Protesten gegen die Hartz-Reformen reüssierte, Studierende und politische Funktionseliten im Projekt eines gemeinsamen Studierendenverbandes zusammen. So umriss das Einleitungspapier zum Gründungskongress des Studierendenverbandes auch die unterschiedlichen Quellen des Verbandes:
„Dabei speist sich die Dynamik dieses Prozesses aus unterschiedlichen politischen Quellen und Traditionslinien:
- Zum einen aus den bestehenden Hochschulgruppen der Linkspartei.PDS in Ost und West.
- Zweitens aus den neu gegründeten Hochschulgruppen der WASG, in die sich insbesondere viele Aktive aus der Campus-Vernetzung des globalisierungskritischen Netzwerks attac eingeschaltet haben.
- Drittens aus Hochschulgruppen und Einzelpersonen vom linken Flügel der Juso-Hochschulgruppen,
- viertens aus Studierenden aus dem Spektrum des einheitsorientierten und modernen Trotzkismus,
- fünftens aus weiten Teilen des „Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen“, das lange Zeit dem parteiunabhängigen Jugendverband JungdemokratInnen/Junge Linke nahe stand und der undogmatischen Linken zuzurechnen ist.
- Sechstens aus vielen neu hinzugewonnen Mitgliedern, die über das Engagement in den Hochschulgruppen vor Ort linker Politik an den Universitäten wieder zu mehr Relevanz verhelfen wollen.”[3]
Dazu sind einige Worte mehr zu verlieren.
1. Im Umfeld des Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen (LiRa) sammelten sich seit den Studenten- und Bildungsstreiks 1998 politische Hochschulgruppen der unabhängigen Linken. Zumeist standen sie dem parteiunabhängigen Jugendverband JungdemokratInnen/Junge Linke nahe. Genauso waren aber auch unabhängige und lokale Fachschaftslisten Teil des Bündnisses. Für LiRa stellte sich seit den frühen 2000er Jahren die Frage eines organisationspolitischen Ausbaus und einer Stabilisierung, die das Bündnis allerdings aus „sich heraus“ nicht generieren konnte (ähnliches galt im Übrigen auch für die JD/JL als Ganze). Zwar versuchte man sich über das Engagement im Freien Zusammenschluss der Studierendenschaften (fzs) und hochschulpolitischen Bündnissen wie dem Aktionsbündnis gegen Studiengebühren (ABS) oder dem Bündnis für Politik- und Meinungsfreiheit eigene Handlungsfelder zu erschließen, doch die jeweiligen Mitgliedsgruppen wurden in vielen Fällen über die Jahre ausgezehrt. Die politische Entwicklung, insbesondere die Rechtsentwicklung von SPD und Grünen mitsamt ihrer Jugend- und Studierendenorganisationen, hatten auch einen weiten Raum auf der gesellschaftspolitischen Linken eröffnet, der neue politische Handlungsperspektiven für Organisationen „links“ von Rot-Grün hervorbrachte. So ergab sich schon seit den 2002er bis 2005er Jahren ein – zunächst unabhängig von der Gründung der WASG – erfolgende Diskussion um eine politische Neuorientierung, der Bündnisbildung mit anderen Verbänden und Gruppierungen etc. Dies war nicht unumstritten. Denn jeder Versuch der Zusammenarbeit verletzte gleichzeitig normative Prinzipien und politische Orientierungen, die den Handelnden wichtig waren: Sowohl die Orientierung an einer eher undogmatischen Programmatik als auch die Unabhängigkeit von Parteien oder anderen Großorganisationen. Versuche der Öffnung und Zusammenarbeit mit anderen linken Organisationen, insbesondere aus dem Umfeld der damaligen PDS, scheiterten zunächst. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz der JD/JL in Bochum 2005 unterlag ein diesbezüglicher Antrag zur Öffnung und Zusammenarbeit knapp.[4]
2. An den Hochschulen war seit den Gipfel- und Globalisierungsprotesten 1999 in Seattle eine breite globalisierungskritische Bewegung und insbesondere das Netzwerk „attac“ entstanden. Die Hochschulen wurden noch vor 2005 zu Orten der Mobilisierung und Diskussion um eine „andere Globalisierung“. Hier brachten sich sowohl neue, undogmatische linke Studentengruppen ein als auch das Netzwerk „Linksruck“, das, – wiederum mit knapper Entscheidung – zu Beginn der 2000er Jahre entschied, seinen Handlungsschwerpunkt in das Netzwerk attac zu verlegen. Dort kam es zur Gründung des Netzwerkes „attac-Campus“, das wiederum eine Reihe von Hochschulgruppen vereinte.
3. Aber die Gelegenheitsstruktur für die Gründung des Studierendenverbandes entstand erst aus der Agenda-Politik der rot-grünen Bundesregierung 2004 und 2005. Sie führte zur Abspaltung weiter Teile der Sozialdemokratie von der SPD. Darunter auch Teile der Juso-Hochschulgruppen. So gab es beispielsweise innerhalb der Kölner Sozialdemokratie eine größere Absetzbewegung von der SPD hin zur WASG bzw. Linkspartei. Begründet wurde dieser Schritt insbesondere damit, das einerseits schon länger eine positive Bezugnahme auf die SPD nicht mehr möglich war und auch mittel- und langfristig entsprechende positive Verschiebungen nicht zu erwarten sind, anderseits aber nun mit der neuen Linkspartei ein alternativer organisationspolitischer Rahmen zur Verfügung stand:
„Mit diesem Text sollen Gründe für einen Wechsel der Mitglieder unserer Strömung von der SPD in die sich bald konstituierende Linkspartei präsentiert werden. Die Gründe, die für diesen Schritt sprechen, beziehen sich nicht nur auf kurzfristige Entwicklungen der Gesellschaft und der Parteienlandschaft, sondern nehmen auch längerfristige Tendenzen ins Visier. Eine solche Herangehensweise macht allein schon deshalb Sinn, weil sich auch das bisherige Engagement der meisten Mitglieder unserer Strömung innerhalb der SPD nicht durch eine positive Bezugnahme auf das aktuelle Erscheinungsbild der SPD, sondern durch längerfristige Erwägungen begründet hat.
Dabei sollen zur Untermauerung des Plädoyers für einen Wechsel nicht nur Gründe genannt werden, die für die Linkspartei sprechen, sondern soll auch antithetisch gezeigt werden, dass die bislang angeführten Gründe für ein Verbleiben in der SPD nicht oder nicht mehr ausreichende Geltung besitzen.”[5]
Ähnlich äußerte sich daher auch ein großer Teil der (ehemaligen) Kölner Juos-Hochschulgruppe, die traditionell dem linken Flügel der Kölner SPD nahe stand. Wichtig für diese Strömungen war gleichermaßen ein Profil weit links der neuen Sozialdemokratie, aber auch eine Orientierung auf die organisationspolitischen Möglichkeiten von Parteien.
So hielten die „Kölner Thesen zum Hochschulgruppenverband” gleich als erste These fest:
„Eine Hochschulvertretung braucht klare Strukturen, d.h. ein Statut oder eine Satzung, und muss in den Gremien der Partei und der Jugendorganisation der Partei verankert sein. Der zentrale Unterschied zu anderen linken Gruppen ist die Orientierung dieser Hochschulgruppen auf die neue Linkspartei.”[6]
Die Perspektive einer gemeinsamen Linkspartei, die es vermochte, bei den anstehenden Bundestagswahlen die 5%-Hürde zu überschreiten und in Ost wie West gleichermaßen präsent zu sein, erfasste also auch den im weitesten Sinne jugendpolitischen Bereich. So vereinigten sich Jugend- und StudierendenvertreterInnen unter den Aufruf „Es kommt die Zeit...“, der Druck auf die Verhandlungsdelegationen von PDS und WASG ausüben sollte, sich zeitnah zu einigen. Auch eine Jugendkonferenz wurde 2005 abgehalten, auf der die unterschiedlichen Spektren und Personenkreise in Dialog traten.[7]
Für die PDS und WASG galt, dass der Fortschritt einer gemeinsamen Linken hart gegen die Eigeninteressen der jeweiligen Funktionärs- und Verwaltungskörper durchgekämpft werden musste. Ohne den Druck aus der Öffentlichkeit und von der Parteibasis und die heilsame Wirkung der 5%-Hürde, die Einigungsdruck erzeugte, hätte sich eine gemeinsame Linke nie gegründet. Interessanterweise reproduzierten sich die Blockaden auch im Bereich der Jugendverbandspolitik: Hier konkurrierten insbesondere unterschiedlichste Jugendstrukturen und Funktionsträgercliquen der damaligen PDS, von der PDS-Jugend Berlin Brandenburg bis zum bundesweiten Jugendverband ['solid] um den Gesamtvertretungsanspruch. In Ermangelung einer 5% Hürde für Jugendverbände und einer hinreichenden Öffentlichkeit, war die Perspektive eines neugegründeten Jugendverbands, insbesondere für bisher nicht parteigebundene Linke, ein vermintes Terrain, auf dem kaum Fortschritte oder gemeinsame Handlungsräume entstehen konnten.
So stellte sich eine Art Sogbewegung ein: Die oben genannten Spektren aus dem hochschulpolitischen Bereich genauso wie viele andere an „Neugründung“ orientierte Linke richteten ihr Augenmerk ab 2005 auf die Gründung eines gemeinsamen Studierendenverbandes.
II. Die Gründung
So entstand ein halbwegs demokratischer Gründungsprozess: Die unterschiedlichen Quellorganisationen und Netzwerke sammelten sich im damaligen Hochschulnetzwerk der PDS und bereiteten dort, teilweise mit, teilweise gegen den Druck der PDS-Nachwuchsfunktionäre, die Gründung des Verbandes vor. So wurde im Januar 2007 ein größerer Kongress an der Universität Frankfurt unter dem Motto „Get up, stand up” abgehalten,[8] parallel dazu fand schon eine ausführliche Diskussion um die Grundstrukturen eines kommenden Hochschulverbandes statt.[9] Es wurde ein Gründungsvorstand bestimmt, der sich aus 10 Personen zusammensetzte. Er versammelte neben den o.g. Gruppierungen, auch VertreterInnen der PDS-Hochschulnetzwerks und unabhängige VertreterInnen. In unterschiedlichen Arbeitsgruppen wurden die Gründungsdokumente, die Satzung und erste gemeinsame Arbeitsschwerpunkte vorbereitet.
Hauptkonfliktpunkt war der Name der Organisation. Die Idee einer Wiedergründung des SDS als politische Geste des Neuaufbruchs (die für breite Medienresonanz sorgte), traf auf den Anspruch, die hochschulpolitische Linke ohne historische Reminiszenzen an die 1968er Bewegung tatsächlich neu zu gründen. Die einen wollten hier wenigstens symbolisch anknüpfen,[10] die anderen plädierten für eine echte Neugründung: „Anstatt unter Vernachlässigung gesellschaftlicher Entwicklungen romantisch über vergangene Zeiten zu schwärmen und Forderungen zu stellen, die bereits gängige Praxis sind, ist es erforderlich, als Verband zu überlegen, was linke Hochschulpolitik heute bedeutet und was sie mit welchen Mitteln und Formen erreichen kann.”[11] Der Gründungskongress einigte sich in einer eintägigen moderierten Diskussion in Unterarbeitsgruppen in sehr zivilisierter Weise auf ein sowohl-als-auch, für den der Name Die Linke. SDS stehen sollte.
Einen zweiten Konfliktpunkt, der allerdings in der Folgezeit nie wieder systematisch aufgegriffen wurde, bildete die inhaltliche Kontroverse um eine angemessene hochschulpolitische Orientierung. Hier entfaltete sich eine Kontroverse um die Frage, wie ein linker Studierendenverband in der Sache auf die hochschulpolitischen Veränderungen der damaligen Zeit zu reagieren hat und wie er die Situation überhaupt interpretiert. Es wurde diskutiert, ob aus der Ökonomisierung der Hochschule nicht auch neue Konfliktfelder entstehen, die ein linker Studierendenverband für sich zu nutzen hätte.[12]
Damit war auch ein drittes Konfliktfeld eröffnet, dessen Gegenstand die Praxiskonzeption des Studierendenverbandes war, also Nachhaltigkeit statt Eventorientierung und gegenwartsbezogene Analysen und Projekte statt historische Verklärung des ersten SDS. Konkret bestand die Sorge darin, dass sich kulturelle Praktiken, wie diejenigen das damaligen Linksrucks sich auch im neuen Studierendenverband einschleichen würden: wer sich immer nur am nächsten großen Event (Demo, Kongress, etc.) orientiert und versucht, dahin die Massen zu mobilisieren, neigt dazu seine Kräfte in einer einseitigen Event-Kultur zu investieren, die aber genauso schnell verpufft, wie “the next big thing” zum “the last big thing” geworden ist. Die Sorge (die sich im Nachgang auch durchaus bestätigte) bestand darin, dass man so nicht nur nie dazu kommt, ernsthafte politische Arbeit zu betreiben. Die Romantisierung von kulturellen Praxen des ersten SDS tendierte auch dazu, die Realitäten der (im Jahr 2007) gegenwärtigen Studierenengeneration zu ignorieren, die den Raum und die Zeit für Engagement deutlich beschränkten und veränderten: „Wir befinden uns in einer Umbruchzeit der Hochschulpolitik: Der Kampf gegen die Einführung von Studiengebühren, eine der Hauptaufgaben der Studierendenvertretungen der letzten Jahrzehnte, ist zunächst verloren gegangen. Eine der größten Herausforderungen des neuen Hochschulgruppenverbandes wird also darin bestehen, neue politische Arbeits- und Aktionsformen zu finden, die die Lebensrealität der Studierenden ernst nehmen, sie vor dem Hintergrund der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen und neue Beteiligungsmöglichkeiten schaffen. [... Der Hochschulgruppenverband] wird neben der originären Hochschulpolitik und allgemeinpolitischen Themenstellungen eine zentrale Aufgabe auch in der Etablierung der neuen Linken an den Hochschulen haben. Eine Erfolg versprechende Strategie gegen den Neoliberalismus wird nicht nur gesellschaftlichen und politischen Druck erzeugen müssen, sie hat ihn auch kulturell und intellektuell herauszufordern. Grundlegende Voraussetzung ist jedoch, aktuelle Probleme ernst zunehmen und sich nicht zu bloßer Appellrhetorik verleiten zu lassen.”[13]
III. Der lange Katzenjammer
Auf den Aufbruch der Gründung folgte in den Monaten darauf der „lange Katzenjammer“:[14] Die Gründung musste kleinteilig und mühsam verteidigt werden. Dies umfasste wenigstens drei Streitfragen:
1. Der Parteibezug des Verbandes blieb in den Anfangsjahren umstritten. Paradoxerweise entschieden sich einzelne Gruppen zur Mitgliedschaft in einem Parteihochschulverband, um dort besonders unversöhnlich gegen jegliche Art von Parteibindung aufzutreten. Ein Teil dieser Diskussionen ist im Diskussionsblatt des Verbandes der Jahre 2007 ff. dokumentiert.
2. Gleichsam blieben auch die Formalisierung der Verbandsstruktur, die Wahl eines Vorstands mit Entscheidungsbefugnissen und einer Geschäftsführung umstritten. Auch hier setzten sich einzelne Hochschulgruppen für besonders „basisdemokratische“ Strukturen ein, in denen dann die besonders engagierten Genossinnen jenseits aller formalen Bindungen ausführliches Rederecht besitzen. Auch diese Frage ist in den Diskussionsheften der Gründungsphase dokumentiert.
3. Schließlich war der Studierendenverband „against all odds“ von Beginn an Teil der Partei. So setzten sich die problematischen Aspekte der Gründungsphase der Linkspartei auch innerhalb des Studierendenverbandes fort. Es begann beim Redeverhalten der Delegierten, bei denen eine nicht unbeträchtliche Anzahl stets geneigt war, den Redestil großer Politik und insbesondere von Oskar Lafontaine zu kopieren, verbalradikale Phrasen ins Mikro zu sprechen und wahlweise bei jedem Argument, das nicht so ganz ins eigene Weltbild passte, wahlweise „Trotzkismus“ oder „Regierungsbeteiligung/Anpassung“ zu wettern. Über die AutorInnen des Textes, die versuchten von Beginn an eine eigene Politik zu verfolgen, kursierte dementsprechend auch wahlweise das Gerücht entweder „eigentlich Trotzkisten zu sein, die aus London bezahlt werden“ oder „Anpassler, die nur den Siegeszug der Reformer in der Partei vorbereiten“. Kurzum: Es herrschte eine starke Verblödungskultur. Das ist für einen Studierendenverband ein echtes Problem.
4. Der Studierendenverband etablierte sich als formale Organisation, wurde schließlich auf dem Gründungsparteitag auch entsprechend durch die Partei anerkannt. Er befand sich jedoch in einer latenten Konkurrenzsituation um finanzielle Mittel mit dem Jugendverband. Hier wurden zähe Verhandlungen um Verteilungsschlüssel und Mittelvergabe über Jahre geführt, die aus Sicht der Studierendenverbandes recht erfolgreich endeten. Dies war die Grundlage dafür, dass überhaupt Aktionen in größerem Maßstab stattfinden konnten.
5. Im Schatten dieser Konfliktlinien wurden Versuche gestartet, eine eigenständige Politik im und mit dem Verband zu etablieren: So wurden 2007 und 2008 jeweils gut besuchte Sommerakademien durchgeführt. Im Forum Hochschulpolitik wurde der Versuch unternommen, eine eigenständige Hochschulpolitik zu entwickeln. Diese Entwicklungen waren von der Kontroverse umlagert, ob Die Linke.SDS nun primär ein Hochschulverband sei, der sich als Teil eines arbeitsteiligen Netzwerks aus Jugendverband, Parteistrukturen etc. begreift und versucht seinen Handlungsansatz aus den Universitäten heraus zu bestimmen oder ob er letztlich eine Partei in der Partei, eine Art „sozialistischer Kampfbund” ist, der sich dementsprechend auch prioritär mit strömungspolitischem Hickhack, der Unterstützung sektoraler Arbeitskämpfe oder weltpolitischen Entwicklungen auseinandersetzt.
Die für die Gründungsphase prägenden Allianzen brachten jedoch gerade in inhaltlichen Fragen eine unitas oppositorum hervor, eine Einheit derjenigen, die über alle politischen Konflikte hinweg, ein Interesse an der Stabilisierung und Vitalisierung des Verbandes hatten. Der Vorstand und die meisten Mitgliedsgruppen verteidigten ihre Organisation gegen interne wie externe VerächterInnen und kämpften die Gründung in den Folgejahren so ziemlich auf jedem Bundeskongress nochmal durch. Dabei setzten die einen zusätzlich (wie unter 5.) beschrieben auf Maßnahmen zur langsamen Stabilisierung, während die anderen vor allem große Mobilisierungsaktionen verfolgten, um den Verband zu verankern.
IV. Gründungsparadox!? – Eine Hypothese
Wir versuchen unkitschig zu enden. Wir wollten auf die Entstehungsbedingungen des Studierendenverbandes aufmerksam machen. Er gründete sich als Reaktion auf eine Reihe an gesellschafts- und hochschulpolitischen Entwicklungen der Jahre zwischen 2000 und 2010. Genauso wie er die Jahre bis 2017 überstanden hat und seinen Aktivitäten auch in der Zukunft weiter nachgehen wird, so könnte man überlegen, ob er nicht bis heute von einer spezifischen Paradoxie gekennzeichnet ist, die seine Gründung ermöglichte. Dass er seinen Erfolg letztlich darauf stützt, eine allgemeine, linke Alternative an den Hochschulen bereitzuhalten, die sich sowohl aus dem Bezug auf die Partei als auch aus dem symbolischen Reservoir linker Politik (Fahnen, Fäuste, Demo, Ikonographie etc.) speist. Dass er aber gerade durch diese Allgemeinheit und symbolisch überschüssige Praxis kaum einen Zugriff auf Probleme der hochschulpolitischen Strategie, der Verankerung und einer angemessenen Praxis vor Ort, der Ansprache und Politisierung der heutigen Studierendengeneration hat und keine zeitgemäße Auffassung von „Radikalität“ ausbilden kann. Vielleicht haben sich ja schon intern Mechanismen entwickelt, um über dieses Paradox ins Gespräch zu kommen. Aber das wäre nur eine Hypothese, die die heutigen Mitglieder des Verbandes überprüfen müssen.
Publius und Tiberius waren Mitglieder des Gründungsvorstands.
[1] Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 8, "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", S. 111-207. Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, 115.
[2] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: : Gesammelte Werke. Hrsg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Band I/2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 690-708, hier: S. 694.
[3] Auf dem Weg zur Gründung eines Studierendenverbandes der Linken, Papier zum Gründungskongress 2007.
[4] Vgl. dazu die Beiträge in den Ausgaben des “LIB - linkes Blatt”, Mitteilungsblatt des Bundesverbandes der JD/JL, Jahrgänge 2003 ff.
[5] Alexander Recht & Markus Lauber (2005): Time to say goodbye. Für einen Wechsel in die Linkspartei! https://www.linksnet.de/artikel/19574
[6] Klemens Himpele, Jana Schultheiss & Dominik Düber (2006): Kölner Thesen zum Hochschulgruppenverband, http://wasg.die-linke.de/uploads/media/20060918_koelner_thesen.pdf
[7] Vgl. dazu die Pressemeldung: https://www.rosalux.de/pressemeldung/id/3559/linke-jugend-in-bewegung/
[8] Die Presseresonanz kann hier nachgelesen werden: http://wasg.die-linke.de/uploads/media/20070126_kongresspresse.pdf.
[9] Einige der Positionspapier sind hier einzusehen: http://wasg.die-linke.de/1308.html.
[10] Vgl. Dieckmann et al.; Vom SDS lernen heißt…, in: Sozialismus 4/2007.
[11] Vgl. Düber et. al: Es ist 2007 und nicht mehr 1968. Neue gesellschaftliche Realitäten erfordern neue (hochschul-)politische Strategien, in: Sozialismus 4/2007, S. 15-18, online unter http://www.sozialismus.de/detail/artikel/es-ist-2007-und-nicht-mehr-1968/
[12] Vgl. dazu Schindler et al., Alles wird schlimmer? – Zur Situation linker Studierendenpolitik heute, in Zeitschrift Z 72/2007 und Hirsch, Perspektiven linker Hochschulpolitik, Zeitschrift Z, 70/2007.
[13] Düber et al.: Es ist 2007, S. 18.
[14] Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 8, "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", S. 111-207. Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972, 118.
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