In der der Stunde größter Not, bringt der Mittelweg den Tod
Gedanken zur Zukunft der Sozialdemokratie
Die Bundestagswahl 2017 bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Der Einzug einer rechtsextremen Partei und die Verluste der „Volksparteien“ zeugen davon. Die Krise der SPD zeigt sich jedoch nicht erst seit der Bundestagswahl vom September. Sie ist der vorläufige Tiefpunkt einer seit 1998 sichtbaren Entwicklung. Der neoliberale Kapitalismus, der seit nunmehr fast 40 Jahren die europäische Politik bestimmt, kam nicht als exterritoriale Kraft über die deutsche und europäische Sozialdemokratie. Vielmehr waren es die europäischen sozialdemokratischen Parteien selbst, die sich den neoliberalen Dogmen unterwarfen. Spätestens mit dem legendären Schröder/Blair Papier (1999) und dem Rücktritt Lafontaines wurde klar: Die Sozialdemokratie wird marktkonform. Der sogenannte „dritte Weg“ (Anthony Giddens) setzte weder auf soziale Gerechtigkeit noch auf die (Um)verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Er übernahm die neoliberalen Paradigmen und Verheißungen. Jede/r ist ihres Glückes Schmied. Die aus dieser Philosophie abgeleitete politische Praxis war in der Bundesrepublik die Agenda 2010, Hartz IV, Rente mit 67, Privatisierung der öffentlichen Güter, massiver Personalabbau im öffentlichen Dienst – für Europa war es die Austeritätspolitik, die ohne Gegenwehr der sozialdemokratischen Parteien durchgesetzt wurde.
Die europäische Sozialdemokratie bezahlte für diese Politik einen hohen Preis. In vielen europäischen Ländern ist sie marginalisiert. Auch in Deutschland verlor die SPD die Hälfte ihrer Mitglieder. Das wurde von den Funktionären hingenommen. Den Verlust der Hälfte ihrer Wähler*innen kann sie nun nicht mehr ignorieren. So wenig wie die Tatsache, dass sich links von ihr als Konsequenz dieser Politik die Linkspartei etabliert hat. Heute muss die SPD feststellen, dass ihr ein Schicksal droht, dass bereits andere sozialistische und sozialdemokratische Parteien in Europa erleben; die Pulverisierung. Das lässt jetzt endlich die Alarmglocken schrillen und selbst konservative Sozialdemokrat*innen scheinen sich der Aufarbeitung der letzten Niederlagen nicht mehr zu verweigern Die Entscheidung noch am Wahlabend festzulegen, definitiv nicht erneut in eine mögliche „große Koalition“ einzutreten, dokumentiert dies. Obgleich es dafür kein Mandat gab, war diese Entscheidung wichtig und für die Psyche der Partei notwendig. Die Gefahr einer Implosion wäre sonst groß gewesen.
- Aleks van Sputto (CC BY-SA 2.0)
Umso erforderlicher ist es nun, tatsächlich eine kritische Analyse zu wagen. Es ist richtig und notwendig, jetzt auf sozialdemokratischen Regionalkonferenzen endlich mit den Mitgliedern zu beraten, wie es weitergehen soll. Dabei darf es aber nicht um die Verkürzung auf die Frage, was ist im Wahlkampf falsch gelaufen sei, gehen. Das verstellt die Analyse auf die letzten 20 Jahre, die ebenso kritisch betrachtet werden müssen. Martin Schulz hat auf der Konferenz in Frankfurt etwas sehr Richtiges ausgesprochen: Es müsse nun tabulos über die Fehler der vergangenen Jahre diskutiert werden. Die Parteibasis sollte diese Aufforderung in allen ihren Teilen annehmen.
Entscheidend wird sein, welche Konsequenzen die Sozialdemokratie aus ihren Konferenzen zieht. Einen Zeitraum bis 2019 dafür vorzusehen ist angemessen. In der Hoffnung, dass das nun endlich passiert, soll mein Buch, das im Januar 2018 erscheint, einen kritischen und konstruktiven Beitrag leisten. Darin geht es einerseits um die Analyse, wie sich der Neoliberalismus in alle Lebensbereiche – ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell, individuell eingenistet hat und andererseits um Vorschläge, welche Themen in der parlamentarischen und gesellschaftlichen Linken besprochen werden könnten: Arbeitszeitverkürzung mit Blick auf eine neue Balance zwischen Lohnarbeit, Care-Arbeit, Demokratiearbeit und Muße. Ein repressionsfreies Grundeinkommen, Kommunalisierung der Daseinsvorsorge, Umverteilung der materiellen Ressourcen, Wirtschaftsdemokratie. Spätestens beim Plädoyer für einen neuen Begriff von Sozialismus wird jede/r den Untertitel des Buches „Streitschrift“ verstehen.
Überflüssig ist die Sozialdemokratie keineswegs. Sie wird gebraucht, wenn sie, den Mut, die Haltung und die Programmatik entwickelt als transformatorische Kraft für eine emanzipative, sozial gerechte Politik einzustehen, auch gegen die Widerstände neoliberaler Machtkartelle in Gesellschaft und Wirtschaft.
Wichtig ist dabei, dass sie an die Internationalität, die die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in der Vergangenheit stark machten, wieder anknüpft. Die Themen, die zu einer sozial-ökologischen-kulturellen Transformation aufgerufen werden müssen, sind nicht mehr nur nationalstaatlich zu denken.
Zu viele Analogien zur Weimarer Epoche drohen am Horizont. Eine neoliberale Globalisierung, welche die Menschen teilweise überfordert, die Vernachlässigten ausgrenzt und die sogenannten Eliten immer verantwortungsloser handeln lässt, sei es in der Klimapolitik oder bei der Hinterziehung von Steuern, wird böse enden. Die Konkurrenz der Triade Amerika, Europa, Asien, die dazu führt, dass Abschottung und Nationalismen wiederauferstehen, erledigt das Geschäft der Rechtsextremen. Ein Militarismus, der die imperiale Lebensweise durchzusetzen versucht, wird niemals Antworten auf die Probleme von Flucht und Vertreibung finden. Eine Europapolitik, welche die Interessen der transnationalen Unternehmen und des Freihandels vertritt, aber die Lohnabhängigen vernachlässigt, wird die sowieso schon brüchige Solidarität in Europa weiter erodieren lassen.
Eine sich abzeichnende Jamaika Koalition im Bundestag wird die bürgerlich liberale Politik fortsetzen. Ein Neoliberalismus mit anderen Farben. Er führt jedoch weder naturwüchsig noch automatisch zu einer erstarkenden Linken. Deshalb wird eine der größten Herausforderungen für die deutsche Linke der Umgang miteinander sein. Zwei Arbeiterparteien, die sich gegenseitig misstrauisch beäugen, sind die beste Hilfe für neoliberale Politik. Es ist Zeit, über Kooperationen und mehr nachzudenken.
Eine conditio sine qua non wird sein, dass sich die demokratische Linke in Europa, ob in parteipolitischer Formation oder in sozialen Bewegungen – am besten aber miteinander – reorganisiert und wieder hegemonial werden kann. Damit der Begriff der Reform nicht dauerhaft neoliberal kontaminiert bleibt, sondern wieder für soziale Gerechtigkeit, ökologischen Umbau, intellektuelle und künstlerische Vielfalt und Schärfe steht.
Andrea Ypsilanti ist Mitbegründerin des Institutes Solidarische Moderne und sozialdemokratische Landtagsabgeordnete. Im Frühjahr erscheint ihr Buch „Und morgen regieren wir uns selbst — Eine Streitschrift.“
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