Um es gleich vorweg zu sagen, dieses Buch ist für mich das Buch des Jahres. Hier erzählt ein Professor der Soziologie, ein schwuler Intellektueller, der zu deren Lebzeiten mit den Meisterdenkern Pierre Bourdieu und Michel Foucault befreundet war aus seinem Leben. Nicht vom hohen Elfenbeinturm der Wissenschaft herab, sondern im Stil großer erzählerischer Literatur.
Schwule Lebensgeschichten lesen sich meist im „Run-Away“-Modus von Bronski Beat: Coming-Out in der Kleinstadt, keiner versteht mich, Lehrer doof, Mitschüler doof, Eltern doof, der schönste Tag im Leben ist der, an dem man in die Großstadt zieht. So ähnlich verlief auch Eribons Leben. Doch Eribon, der ebenfalls mit seinen Eltern, insbesondere seinem Vater brach, weil dieser seine Homosexualität verachtete, möchte verstehen was und wie seine Eltern waren. Es geht ihm um den Alltagsverstand der sogenannten einfachen Leute.
Eribon wird sich seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse Reims bewusst, in die er mit diesem Buch zurückkehrt. „Ich (nahm) meine Geschichte als Schwuler zum Ausgangspunkt ..., dabei ignorierte ich all das, was an mir selbst und in meiner Geschichte auf Machtverhältnisse zwischen Klassen verwies ...“ Eribon spürt den Verhältnissen und Haltungen der Arbeiterklasse Frankreichs nach. Einer Arbeiterklasse, die früher - ohne darüber nachzudenken - die Kommunisten wählte und zunächst verschämt, aber nun deutlich offener, die Rechtsextremisten wählt.
Eribon schaffte es sich mit seiner Lernbegeisterung und dem Weg über das Gymnasium und die Universität seiner Klasse zu entheben. Erst mit der Spurensuche wird ihm bewusst, dass seine Eltern so manche Extraschicht in der Fabrik einlegten, damit er die Universität besuchen konnte. Doch trotzdem hatte es Eribon schwer. Die besseren Kreise verstehen es sich im sozialen Raum so zu bewegen, dass sie mit Andeutungen und Gesten, die sie zumeist nicht bewusst vollziehen, Aufsteiger in ihre Grenzen zu verweisen. Eribon flicht in seine Erzählung geschickt theoretische Verweise zu Bourdieu und Foucault ein. Er erklärt wie Satre ihn in seiner intellektuellen Entwicklung beeinflusste und warum ihm manche Theoretiker der Kommunistischen Partei fremd blieben. Sein sozialer Aufstieg geriet ins Stocken, weil er anders als die reichen Kinder, ständig jobben musste. Als seine universitäre Karriere stoppte, landete er beim Journalismus. Er interviewte die bedeutenden Intellektuellen Frankreichs, befreundete sich mit einigen, wie Bourdieu und Foucault. Nach Foucaults Tod verfasste er eine glänzende Biographie über ihn. Dem folgten weitere Bücher, auch zu schwulen Lebenswelten. Diese wiederum verschafften ihm dann doch den Durchbruch und er wurde als Professor für Soziologie berufen - schwul und Arbeiterklassekind, das sich erst spät seiner Klasse bewusst wird. „Das „Proletariat“ war für mich eine Idee aus Büchern, eine abstrakte Vorstellung. Meine Eltern gehörten nicht in diese Kategorie.“
Eribon wurde Trotzkist, entwickelte später ein linkes undogmatisches Bewusstsein. Er genoss das freie Leben und die schwule Subkultur in Paris. Er wurde ein Intellektueller, der mit seiner Herkunft fremdelte und die ihn nicht verstand. „Du redest, wie gedruckt“ wurde ihm auf Familienfesten gesagt. Fast seine ganze Familie wählte mindestens einmal den Front National. Selbstverständlich. Diesem Selbstverständlich geht er nach. Er möchte verstehen, warum seine Mutter, die selbst einmal abtrieb, den Rechtsextremen ihre Stimme gab, obwohl diese sich explizit gegen das Recht von Abtreibung aussprechen. „Aber ich habe sie doch nicht deswegen gewählt.“
Die Arbeiterklasse hat keinen Bezugspunkt zu linker Politik, denn: „Ein Gutteil der Linken schrieb sich nun plötzlich das alte Projekt des Sozialabbaus auf die Fahnen, das zuvor ausschließlich von rechten Parteien vertreten ... worden war. Die linken Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten,...und wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich, und zwar mit einer verbalen Gewalt, die von den Betroffenen durchaus als solche erkannt wurde.“
Und weiter: „Mit der Wahl für den Front National verteidigte man still und heimlich, was von dieser Identität (der Arbeiterklasse, B.N.) noch geblieben war, welche die Machtpolitiker der institutionellen Linken ... ignorierten oder sogar verachteten“
Der Ausdruck Reform wurde zu einer Floskel, bei der das einfache Volk wusste, jetzt kommt die nächste Kürzung. Die Unterschicht und die Arbeiterklasse wurden abgehängt. Während die Jobs immer unsicherer wurden, wurde ihnen erklärt, dass all dies notwendig sei. Aber selbst bei einem wirtschaftlichen Aufschwung, kam unten nichts an. So verschob sich auch ihre Ansicht von Teilhabe und der Front National spielt geschickt die Protestklaviatur, die sich gegen „die da oben“ wendet.
Eribon fasst seinen Lebensweg wie folgt zusammen: „Ich komme nicht umhin, meine Selbsterschaffung als „Intellektueller“ und die Distanz, die sich zwischen mir und meinem sozialen Milieu auftat ... als meinen Weg anzusehen, ... (bei dem er wie, BN), wie durch ein Wunder gerettet worden ist. Gut möglich, dass in meinem Fall die Homosexualität dieses Wunder ermöglicht hat.“
Dieses Buch hat mich berührt. Als Arbeiterklassekind aus dem Ruhrgebiet kann ich nur all zu gut verstehen, worüber Eribon spricht. Von diesem Buch können wir lernen. Auch wir sind mit dem Aufstieg des Rechtsextremismus konfrontiert und wir müssen verstehen und zuhören, warum und wieso Menschen bereit sind einer rechtsextremen Partei die Stimme zu geben, die objektiv ihren Interessen entgegensteht. Mit dem Erfolg dieses Buches ist zu wünschen, dass auch seine früheren Werke endlich ins Deutsche übersetzt werden.
Bodo Niendel, Referent für queer-Politik der Bundestagsfraktion DIE LINKE. Der Text erschien zuerst bei www.queer.de.