Vereinzelte Kritik an der im Grundsatzprogramm der LINKEN verankerten Forderung nach offenen Grenzen beschränkt sich meist auf Andeutungen und Sticheleien. Eine ernsthafte Beteiligung an schon länger stattfindenden Diskussionen wie der Forderung „realpolitisch” Geltung verschafft werden kann oder ob sie als lediglich utopische „Forderung für eine ferne Zukunft“[1] verstanden werden könne, beteiligen sich die skeptischen Stimmen bisher kaum. Material und Grundlagen für Debatten gäbe es genug. Die Parteistiftung hat dazu lesenwerte theoretische Beiträge veröffentlich. Die Arbeitsgruppe Einwanderung der ostdeutschen Landtagsfraktionen hat zudem einen Diskussionsaufschlag für einen Einwanderungsgesetzesentwurf vorgelegt, der realpolitische Schritte hin zu globaler Bewegungsfreiheit zu definieren versucht. (Unter anderem dokumentiert in der neuen Ausgabe des *prager frühling.)
Umso ärgerlicher ist es, dass die Debatte immer wieder für unfaire Polemiken und Diffamierungen genutzt wird. Ein neuerlicher Tiefpunkt war der jüngst erschienene ganzseitige Beitrag im neuen deutschland mit dem Titel „Sahra und der Aufstand der Easy-Jetter”. In dem Text von Tobias Riegel werden die migrationspolitischen Debatten in DIE LINKE als gegen Wagenknecht und Ehemann gerichteter Machtkampf trivialisiert.
Nicht nur, dass die Forderung nach offenen Grenzen und deren Begründungen grotesk verzerrt werden, Befürworter*innen werden kurzerhand als „hysterisch” pathologisiert und gleich mehrfach als „naiv” bezeichnet. Wer die nationalen und europäischen Grenzregime überwinden will, bekommt von Riegel vorgeworfen, er oder sie vertrete eine „neoliberale” und „undurchdachte Easy-Jet-Philosophie”, die ausschließlich „freie Google-Coca-Cola-Deutsche-Bank-Individuen” im Blick habe. Doch damit nicht genug. Den Sinn des antirassistischen Demo-Spruchs „No Border, no Nation” verdreht der Autor in eine an Mad Max-Filme gemahnende Dystopie: „Eine Welt ohne Grenzen und Nationen würde eine privatisierte sein: keine greifbaren Machtzentren, kein einklagbares Recht, keine ausgleichenden Steuern, keine sozialen Mindeststandards, kein staatliches Gewaltmonopol - denn wer sollte all das in einer grenzenlosen Welt wie durchsetzen? Stattdessen: global vagabundierende Lumpenproletarier, die in einem sozialen Unterbietungswettbewerb gegeneinander ausgespielt.” Das, so schlussfolgert Autor Riegel, sei „der Traum einer globalistischen Finanz- und Internetwirtschaft, die ideologie- und ortlos nirgendwo mehr Rechenschaft über ihre Gewinne ablegen möchte.”
Das ist noch nicht einmal auf den ersten Blick plausibel. Schließlich führen gerade in westlichen Industrienationen die mit Kriminalisierung und Illegalisierung von Migratin*innen einhergehenden Grenzregime dazu, dass eine prekarisierte Klasse migrantischer Arbeiter*innen entsteht (die abfällige Rede vom „vagabundierenden Lumpenproletariat” verbietet sich), der grundlegende Rechte verweigert werden. Diese ist bereits jetzt von den staatlich garantierten, sozialen und arbeitsrechtlichen Mindeststandards ausgeschlossen. Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus sind davon betroffen, aber auch Migrant*innen mit legalem aber prekären Aufenthaltstiteln werden durch die Verknüpfung von Aufenthalt mit existenzsichernder Erwerbsarbeit auf dem Erwerbsarbeitsmarkt besonderer Erpressbarkeit unterworfen. Am Job hängt im Zweifelsfall dann nicht nur das Einkommen, sondern der legale Aufenthalt der gesamten Familie. Daher müssen sie inakzeptable Ausbeutungsverhältnisse akzeptieren und geraten damit tatsächlich in bestimmten Sektoren in die Gefahr als Unterbietungskonkurrenz zu eingesessenen Arbeiter*innen verwandt zu werden.
Es waren Netzwerke wie „Kein Mensch ist illegal”, selbstorganisierte Flüchtlingsorganisationen sowie die Medibüros, die auf das „Recht, Rechte zu haben” pochten. Dazu gehörten neben dem Recht auf Gesundheitsversorgung eben auch die sozialen und arbeitsrechtlichen Mindeststandards, die Riegel vermeintlich für verwirklicht hält. Die von Riegel so geschmähte „Offene-Grenzen-Fraktion” kämpft also seit Jahr und Tag genau dafür, dass Migrant*innen und eingesessene gleichermaßen von diesen Standards geschützt werden. Mit dieser Position wenden sie sich gegen die Deinstitutionalisierung und Entrechtlichung, die Riegel ihr polemisch vorwirft. Die Forderungen der antirassistischen Netzwerke wurden nicht zuletzt von Teilen der Gewerkschaften aufgegriffen, weil diese begriffen, dass Illegalisierung eben auch die Reichweite gewerkschaftlicher Organisierung untergräbt. Die Behauptung, dass wer gegen das europäische Grenzregime eintritt, eigentlich gegen Besteuerung, gegen einklagbare Rechte und gegen soziale Mindeststandards ficht, ist Verleumdung beziehungsweise schlicht Fake-News.
Riegels eigene Vorstellung, dass ausgerechnet der nationale Wettbewerbsstaat als soziales Bollwerk für die deutsche Arbeiter*innenklasse fungiere und durch Migration unterminiert werde, wäre hingegen sehr begründungspflichtig.
Die Traumdeutung der Chef*innen der „globalistischen Finanz- und Internetwirtschaft“, bei denen sich der Autor nicht recht entscheiden mag, ob sie nun „ideologielos” oder „neoliberal” seien, krankt an empirischen Belegen. Zwar haben sich deren Lobbyist*innen in Brüssel und Berlin in der Tat für alle möglichen Steuer- und Finanzmarktderegulierungen eingesetzt. Die Verwirklichung des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit war entgegen Riegels Vermutung allerdings bislang nicht unter deren Prioritäten.
Das ist auch nicht nötig, denn für den genannten Personenkreis ist das Recht auf globale Bewegungsfreiheit längst Realität. Wer ohnehin mit der deutschen Staatsbürgerschaft und dem über lange Jahre „stärksten” Reisedokument der Welt gesegnet ist, kann visafrei in 158 Staaten reisen.[2] Auch die Reichweite der meisten anderen europäischen Pässe liegt nur knapp darunter. Mit genügend Kleingeld sind in der Regel auch Visa-Anforderungen keine nennenswerte Hürde. Zudem lässt sich in Malta und andernorts ganz legal der Pass und damit Freizügigkeit in und außerhalb des Schengen-Raums erwerben.[3]
Aber jenseits von Realpolitik und Lobbyismus, auch von neoklassischen Ökonomen ist nicht zu erwarten, dass sie demnächst Open-Borders-Demonstrationen organisieren werden. Zwar gibt es durchaus positivistische Studien, die den volkswirtschaftlichen Beitrag von Migrant*innen für groß und die negativen Effekte von Migration z.B. auf die Zahl der Erwerbsarbeitslosen für äußerst marginal erachten. Andererseits hat sich kaum ein Ökonom außerhalb der AfD derart vehement für einen Stopp von Flucht und Migration nach Europa ausgesprochen wie der sonst von Linken als neoliberaler Gottseibeiuns betrachtete Ex-Chef des ifo-Instituts, Hans Werner Sinn. Studien des Instituts, die sich mit den Kosten von Grenzkontrollen beschäftigen hatten in der Vergangenheit nie die Rechte von migrantischen oder angestammten Arbeitnehmer*innen im Sinn, sondern immer nur die Effekte für den Warenhandel. Diese schätzten sie, anders als andere europäische Ökonomen für Deutschland als überaus gering und geradezu vernachlässigbar ein.
Die philosophischen Begründungen der meisten Linken, die sich für die Verweigerung des Rechts auf Bewegungsfreiheit für Menschen aus dem globalen Süden aussprechen sind ohnehin wenn nicht an Kommunitaristen wie Michael Walzer angelehnt, dann von (national)liberalen Argumenten eines Will Kimlicka oder David Miller inspiriert. Auch bei genauerer Betrachtung bleibt von Riegels Denunziation antirassistischer Forderung als neoliberale Avantgarde nicht viel übrig. Stattdessen argumentiert er selbst mit (national)liberalen Diskursfragmenten.
So wenig überzeugend wie seine Angriffe auf antirassistische Netzwerke, so wenig überzeugend ist seine unbedingte Verteidigung der „Gastrechtsäußerung” Wagenknechts. Sie selbst hat diese mittlerweile als missverständlich bedauert und auch ihr bedingungsloser Fanblock auf den Nachdenkseiten hat sie als „missverständlich und problematisch” bezeichnet. Riegel nennt sie hingegen „Verbal-Provokationen” und fragt sich, „warum sie [Wagenknecht] sich die erwartbaren Empörungsstürme antut?”, obwohl diese Provokationen „nicht ihrer [Wagenknechts] Haltung” entsprächen.
Mit dem Satz „Darüber sollten die wütenden Genossen mal nachdenken.”, reicht er eine Frage, die nur Wagenknecht selbst beantworten kann an die vielen ratlosen antirassistisch engagierten Genoss*innen weiter, die sich von der „Verbalprovokation” auch tatsächlich provoziert gefühlt haben. Nun mag es sein, dass dies wirklich kein unbedachter Versprecher war, sondern „mit Taktik, Realitätssinn, Wahlchancen und vielleicht sogar mit gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl zu tun” hat, wie Riegel behauptet. Nur sollten (auch taktische) Diskussionen unter Genoss*innen offen und ehrlich geführt werden und nicht als Hermeneutik einer rätselhaften höheren Vernunft im Stile des Orakels von Metzingen.
Dennoch: Etwas Positives lässt sich aber dem erreichten Tiefpunkt der Debatte jedoch abgewinnen. Von hier aus kann das Debattenniveau nur noch steigen.
Stefan Gerbing ist Redakteur des *prager frühling.
[1] So z.B. Sahra Wagenknecht in einem Streitgespräch mit Frauke Petry, vgl. http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2432.streitgespr%C3%A4ch-zwischen-sahra-wagenknecht-und-frauke-petry.html
[2] Vgl. www.passportindex.org
[3] https://www.welt.de/politik/ausland/article131468167/Tausende-Reiche-werden-gegen-Geld-EU-Buerger.html