Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)

Klima & Gerechtigkeit

Politik für die Verdammten der Erde

Tadzio Müller

Oskar Lafontaine hat recht, wenn er in der Debatte darüber, was linke Politik ist, vom wem sie für wen zu welchem Zweck gemacht wird, darauf beharrt, dass Ziel jeder linken Politik die soziale Gerechtigkeit sein muss; und wenn er diesen Begriff so bestimmt, dass er verpflichtet, denen zu helfen, „die am meisten darauf angewiesen sind“. Ebenso muss man uneingeschränkt den Worten des Genossen Jan Korte zustimmen, der schreibt: „Als Linke machen wir Politik für diejenigen, bei denen am Tag der Geburt bereits klar ist, dass sie keine Zukunft auf der Sonnenseite der Gesellschaft haben werden. Umgekehrt heißt das, dass man dementsprechend weniger Politik für diejenigen macht, bei denen am Tag der Geburt klar ist, dass sie zu 99 Prozent ein Leben auf der Sonnenseite der Gesellschaft führen werden.”

Nachdem wir uns darauf geeinigt haben, dass linke Politik ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit für diejenigen schaffen will, die nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft leben, stellt sich nun die Frage, ob unser politischer Rahmen – ‚die Gesellschaft’ – der nationale ist, oder der globale. Dazu Korte: „Als Linke machen wir Politik für die Menschen dort unten, für die Menschen ohne Lobby (egal woher sie kommen), für die Arbeiterklasse und für die, die durch die Verhältnisse gedemütigt und zugerichtet werden.”

Sozial geht nur international

Natürlich ist es so, dass in einer in Nationalstaaten unterteilten Welt der Klassenkampf „der Form nach“ national ist, wie Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms klarstellt. Jedoch muss er im Inhalt global sein, was wiederum bedeutet, dass sein ethischer Kompass ein globaler sein muss – denn es ist ja egal, woher die Menschen kommen, die Gerechtigkeit kann nicht der großen Geburtenlotterie überlassen werden. Und warum diese Privilegierung eines internationalistischen Anspruchs über einen eher national deklinierten? Weil es eben darum geht, mit denen und für die Politik zu machen, die „am meisten darauf angewiesen sind“, denen es am dreckigsten geht, die hier keine Lobby haben. Die zentrale Determinante von Lebenschancen in der heutigen Welt ist nämlich nicht die Frage, in welche Klasse man in einem gegebenen Land geboren wird, sondern in welches Land man geboren wird. Selbstverständlich gibt es in Deutschland ganz massive Ungleichheit, Ausbeutung und Armut. Im globalen Vergleich ist Armut hierzulande kaum mit Armut in Ländern wie Südafrika, Brasilien, oder Bangladesch zu vergleichen. Eine (für das Jahr 2007 berechnete „Weltungleichheitsskala“) zeigt, „dass praktisch alle Einkommensgruppen in den europäischen Ländern dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung zuzurechnen sind“. Darüber hinaus ist „die Ungleichheit zwischen den reichen und den armen Ländern größer noch als die Ungleichheit zwischen den Reichsten und den Ärmsten in den ungleichsten Ländern der Welt“. Auch die Möglichkeit des Zugriffs auf natürliche Ressourcen, von Bodenschätzen hin zu Kohlenstoffsenken, ist global ungleicher verteilt, als national, liegt doch „der Ressourcenverbrauch der ärmeren und ärmsten Haushalte in unseren Breitengraden noch weit über dem für das Gros der Bevölkerung im globalen Süden üblichen Maß.“[1]

Und wem das alles zu statistisch, zu wenig polit-ökonomisch gedacht ist, der sei daran erinnert, dass ‚der Neoliberalismus’ nicht bloß aus Prekarisierung, Finanzialisierung und Privatisierung bestand – sonst wäre er in den 1980ern und 90ern kaum in der Lage gewesen, eine mehr oder minder hegemoniale gesellschaftliche Stellung zu erringen. Der neoliberale Deal im globalen Norden bestand darin, die Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat und die Arbeiter*innenklasse durch Zugang zu billigem Geld und vor billigen Konsumgütern zumindest teilweise zu kompensieren.[2] D.h., dass wie schon zu Kolonialzeiten, die verschärfte Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Süden die Möglichkeitsbedingung eines Klassenkompromisses im globalen Norden war – auch in Deutschland.

Ausbeutungsverhältnisse nicht gegeneinander ausspielen

Nochmal: das bedeutet nicht, Armut, Ausbeutung und Unterdrückung in Deutschland kleinzureden’ – wie mittlerweile bekannt, liegen wir in Bezug auf mehrere Metriken der Ungleichheit und Armut im OECD-Vergleich ganz weit vorne. Es bedeutet aber, dass der ethische Maßstab linker Politik in Deutschland nicht ausschließlich die Armut von Menschen in Deutschland sein kann. Schlicht, weil mit schlimmen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung im globalen Maßstab  der relative Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland ermöglicht wird. Der ethische Maßstab linker Politik muss das Los der „Verdammten der Erde“ sein, nicht bloß das Los der Verdammten eines kleinen, im Verhältnis sehr wohlhabenden Erdteils. Wir erinnern uns, der marx’sche kategorische Imperativ lautet, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – und das sind eben globale, nicht nationale Verhältnisse. Das bedeutet natürlich nicht, dass der strategische Maßstab linker Politik immer ein globaler sein kann, denn wie oben ausgeführt, ist der Kampf in der Form national. Es bedeutet aber, dass die notwendige strategische Verortung im nationalen Rahmen – z.B. die Suche nach Wähler*innenstimmen, die nun einmal national (oder, im Rahmen der EU, supranational aber doch begrenzt) verteilt werden – nie der ethischen Verortung übergeordnet werden kann. Tut man dies, landet man schnell bei der Logik, die zur Bewilligung der Kriegskredite führte.

Internationale Gerechtigkeitspolitik im nationalen Kontext

Im Übrigen ist es mitnichten so, dass zwischen Gerechtigkeitspolitik im Rahmen des national konstituierten Wohlfahrtsstaates und globaler Gerechtigkeitspolitik ein notwendiger Widerspruch besteht. Einfache Politiken wie Ausbau der Care-Ökonomie, kostenloser ÖPNV, eine Energiewende mit gerechter verteilten Kosten, all dies würde national wie global mehr Gerechtigkeit schaffen – von einer Reichensteuer und anderen effektiven Umverteilungsmaßnahmen ganz zu schweigen. An einigen Punkten jedoch gibt es für Linke Widersprüche, die nicht einfach vermittelt werden können: wir können nicht gleichzeitig auf den sozial-ökologischen Umbau setzen, der übrigens mehr ist, als ein bloßes Mittel, den Grünen Wähler*innen abspenstig zu machen, und dabei die Arbeitsplätze in der Braunkohle zu verteidigen. Wir können nicht von der Verkehrswende reden und gleichzeitig die Facharbeitsplätze bei VW in Wolfsburg verteidigen. Ja, das sind Bevölkerungsschichten, die traditionell vermehrt die LINKE oder die SPD gewählt haben, und jetzt drohen, zur AfD überzulaufen. Aber niemand kann wirklich glauben, dass ein Wolfsburger VW-Facharbeiter im globalen Maßstab zu denen „ganz unten“ gehört, dass er es ist, der am meisten auf Hilfe angewiesen ist. Dass es trotzdem ‚gerechte Übergänge’ für die Beschäftigten hierzulande geben sollte, ist klar – nur können wir unsere globale Gerechtigkeitspolitik nicht von der Existenz dieser Perspektive abhängig machen.

KlimaGerechtigkeit

Wenn linke Politik also notwendigerweise globale Gerechtigkeitspolitik ist, dann landen wir schnell beim Klimaschutz als einem zentralen linken Politikinhalt, denn der Klimawandel ist keine Umweltkrise im traditionellen Sinne: Er ist eine massive Gerechtigkeitskrise. Es geht dabei um Menschenleben, nicht um Eisbären und Pinguine. Am Klimawandel leiden immer am meisten die, die am wenigsten zu ihm beigetragen haben. Diejenigen, die am meisten beigetragen haben, haben die Ressourcen, sich vor seinen Auswirkungen zu schützen: Bangladesch säuft ab, Holland baut schwimmende Städte.

Und wer glaubt, Deutschland sei jetzt schon Klimavorreiter: Wir verbrennen hierzulande mehr vom dreckigsten aller fossilen Energieträger (der Braunkohle), als jedes andere Land der Welt, mehr als China, mehr als Indien. Noch immer werden ganze Dörfer dieser vorsintflutlichen Energieumwandlung geopfert, z.B. Proschim in der Lausitz, oder Pödelwitz in Sachsen, beides ‚Frontline Communities’, die von der Zerstörung der Umwelt direkt betroffen sind. Darüber hinaus wurde „die Energiewende im Strombereich stark gebremst, die soziale Schieflage in der Finanzierung nicht korrigiert. Die Arbeitsplätze im Bereich erneuerbarer Energien sind häufig prekär und schlecht bezahlt. In der Verkehrspolitik gehört Deutschland mit seiner einflussreichen Autoindustrie, die vorwiegend im sogenannten Premiumsegment produziert, zu den destruktivsten Ländern weltweit. Ob EU-Abgasrichtlinien, Dieselgate, Feinstaubbelastung oder fehlendes Tempolimit auf Autobahnen – eine Verkehrswende liegt in weiter Ferne. Das kapitalistische Wachstum in Deutschland basiert auf einer nicht verallgemeinerbaren imperialen Lebensweise. Deutschland ist kein grünes Vorzeigeland, sondern ein erheblicher Teil des globalen Klimaproblems.”[3]

Diese Fragen anzugehen, das wäre linke Politik auf der Höhe der Zeit, das wäre linke Politik, die dem ethischen Anspruch der politischen Strömung genügt, die sich damals von der historischen Sozialdemokratie entlang der Streitfrage des Internationalismus trennte. Luxemburg und Liebknecht hatten damals schon recht, und heute würden sie wieder auf der Seite der Internationalist*innen stehen, egal, wie schwierig der Weg zu einer sozial-ökologischen Transformation aussehen mag. Denn das ist linke Politik für diejenigen ohne Lobby, für die, die am meisten darauf angewiesen sind.

Tadzio Müller ist Referent Klimagerechtigkeit und Energiedemokratie der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

 

[1] Stephan Lessenich, 2016, Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin: Hanser. S. 20-21; 109.

[2] Turbulence, 2009, “Life in limbo”. Nr. 5. http://www.turbulence.org.uk/index.html@p=345.html.

[3] Tobias Haas, 2017, “Mythos Klimaretter Deutschland”. Berlin: RLS. https://www.rosalux.de/publikation/id/37973/vom-mythos-des-klimaretters/. S. 18.

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