Strike forward
Streiks und die Politik der sozialen Reproduktion
In den 1950er und 1970er Jahren erschütterte eine Welle antikolonialer Kämpfe und die Entstehung von unterschiedlichen Bewegungen gegen Krieg, Rassismus und Kapitalismus die Welt. Diese Bewegungen eröffneten auch politische und soziale Räume für eine Wiedergeburt der feministischen Bewegung als Teil eines allgemeinen Radikalisierungsprozesses. Das Abflauen dieser Bewegungen in den 1980er Jahre brachte einen Bedeutungsverlust des Begriffs der Klasse in feministischen Auseinandersetzungen mit sich und markierte den Aufstieg eines liberalen Karrierefeminismus. Die weit verbreiteten radikalen Orientierungen schwanden parallel zu den Massenbewegungen, welche die bestehende Ordnung in Frage gestellt hatten. Kampflustige antirassistische und antikapitalistische Strömungen in der feministischen Bewegung verschwanden zwar nicht gänzlich. Aber der Kontext in dem sie handelten, wandelte sich grundsätzlich und brachte neue Herausforderungen mit sich.
Das neue feministische Interesse an marxistischer Gesellschaftskritik
In den letzten Jahren hat sich dies geändert. Debatten in und außerhalb der Linken waren nach der Finanzkrise von 2008 auch durch ein erneuertes Interesse an marxistischer Kritik geprägt. Auch in feministischen Auseinandersetzungen haben marxistische Analysen und Debatten über soziale Reproduktion an Sichtbarkeit und Bedeutung gewonnen. Dieser Strang feministischer Theoriebildung konzentriert sich auf den strukturellen Zusammenhang von kapitalistischer Akkumulation und patriarchaler Unterdrückung sowie die kapitalistische Organisation sozialer Reproduktion. Im Gegensatz zu Ansätzen, die dem Kapitalismus die Fähigkeit zusprechen, patriarchale Traditionen und Gesellschaftsstrukturen aufzulösen, verstehen marxistische Feminist*innen die globale Unterdrückung von Frauen als Gegenwartsphänomen und nicht als Anachronismus. In dieser Perspektive sind sogenannte „traditionelle“ Formen der Unterdrückung untrennbar mit den neueren Formen, die aus kapitalistisch produzierten Ungleichheitsverhältnissen resultieren, verschränkt.
Selbst in Ländern, in denen vorindustriellen Produktionsweisen vorherrschen, stehen diese unter dem Druck, welcher aus der Integration in die globale kapitalistische Ordnung resultiert. Effekte wie koloniale und imperialistische Herrschaft, die Plünderung natürlicher Ressourcen durch die entwickelten kapitalistischen Länder sowie der Einfluss des globalen Marktes haben einen erheblichen Einfluss auf die sozialen und familiären Beziehungen, die Produktion und Verteilung von Gütern regeln und für Wandel und Verschärfung der Ausbeutung von Frauen sowie geschlechterbezogener Gewalt verantwortlich sind. In diesem theoretischen Zugang spielt der Begriff der sozialen Reproduktion eine wichtige Rolle. Mit sozialer Reproduktion meinen Feminist*innen soziale Praktiken und die Arten der Arbeit, welche der Reproduktion des Lebens und der sozialen Beziehungen dienen. Soziale Reproduktion beinhaltet die Arbeit von bezahlten und unbezahlten Hausarbeiter*innen, Care-Arbeiter*innen, Krankenpfleger*innen und Bildungsarbeiter*innen sowie die Art und Weise wie diese Arbeiten gesellschaftlich organisiert werden. Darüber hinaus umfasst der Begriff die gesellschaftlichen Beziehungen die den Zugang zu den Mitteln der Reproduktion wie Unterkunft, Energie, Essen, Schulen, Kleidung regeln wie die Organisation und Prägung von Sexualität durch Kultur und Gesellschaft.
Soziale Reproduktion und Geschlecht
Soziale Reproduktion ist ein feministisches Thema, weil Tätigkeiten in diesem Feld hochgradig vergeschlechtlicht sind. Zwar hängt das Verhältnis in welchem Arbeiten der sozialen Reproduktion marktförmig, durch den Wohlfahrtsstaat oder durch die Familie erbracht werden von konkreten Mustern kapitalistischer Entwicklung und ihrer Krisen sowie von kontingenten Dynamiken sozialer und feministischer Kämpfe ab. Unabhängig von ihrer jeweiligen Form werden diese Arbeiten weiterhin überwiegend von Frauen oder feminisierten Subjekten ausgeübt. (Letzteres meint Personen, deren Tätigkeiten sozialer Reproduktion den gleichen symbolischen Abwertungen und Ausbeutungsstrukturen unterworfen sind wie Frauen.)
Im Kapitalismus ist die soziale Reproduktion der Warenproduktion untergeordnet. Das bedeutet, dass die Reproduktionsstrategien von Individuen und Haushalten durch Klassenverhältnisse und den Schwankungen im Akkumulationsprozess geformt werden. In diesem Zusammenhang wird vergeschlechtlichte Unterdrückung durch die inhärenten Ungleichheiten im kapitalistischen Akkumulationsregime hergestellt und aufrechterhalten. Diese strukturellen Mechanismen ähneln sich, verbinden sich aber mit Traditionen und überlieferten Formen der Geschlechterherrschaft: Daher unterscheidet sich die Unterdrückung von Frauen geographisch und entlang der Kategorien Klasse und race.
Das politische Potential einer Theorie der sozialen Reproduktion zeigt sich an der neuen Welle feministischer Mobilisierungen der vergangenen zwei Jahre. Es gibt schließlich einen Zusammenhang zwischen den politischen und sozialen Forderungen sowie den Formen der Mobilisierungen der neueren feministischen Bewegung sowie den zentralen Leitsätzen eines Feminismus der sozialen Reproduktion.
Streiks feministisch erweitert
Die feministische Weiterentwicklung des Streiks sowohl als Form des Kampfes als auch als politische Identität zielt darauf, unbezahlte Arbeit von Frauen sichtbar zu machen und soziale Reproduktion als zentrales Kampffeld zu etablieren. Wegen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf dem Arbeitsmarkt arbeitet eine Vielzahl von Frauen in prekären und rechtlich nicht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Um beispielsweise undokumentierte oder erwerbsarbeitslose Frauen einzubeziehen, muss der Begriff des Streiks so ausgedehnt werden, dass er nicht mehr nur Streiks am Arbeitsplatz umfasst, sondern auch unbezahlte soziale Reproduktionsarbeit. Das können Teilzeitstreiks, Aufrufe zu einem früheren Arbeitsschluss an den Arbeitgeber, Boykotte und andere Protestformen sein, die den geschlechtsspezifischen Charakter sozialer Beziehungen berücksichtigen. Streik ist deshalb ein Sammelbegriff für unterschiedliche Aktionsformen geworden, weil er die Bedeutung von weiblicher Arbeit und das Selbstbild als Arbeiter*innen betont — unabhängig von der jeweiligen Form der Arbeit.
Jüngere feministische Mobilisierungen sind sich der Notwendigkeit eines Aufbaus solidarischer Beziehungen und kollektiver Aktionen zunehmend bewusst, handelt es sich doch um die einzige Möglichkeit die permanenten Angriffe auf weibliche Körper, auf unsere Freiheit und Selbstbestimmung durch imperialistische und neoliberale Politiken abzuwehren.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir ein besseres Bewusstsein über die Spreizung sozialer Bedingungen von Cis- und Transfrauen in Bezug auf Klasse, Ethnizität, race, Lebensalter, Behinderung und sexueller Orientierung gewonnen. Die Herausforderung für eine neue feministische Bewegung ist, diese Unterschiede in Forderungen, Aktions- und Organisationsformen nicht unsichtbar zu machen, sondern im Gegenteil, diese ernst zu nehmen. Dafür ist es notwendig die inneren Zusammenhänge von verschiedenen Formen der Unterdrückung aufzuzeigen und die Unterschiede, welche durch diese Unterdrückungsformen geschaffen werden zu einer umfassenderen Kritik kapitalistischer und hetero-patriarchaler Verhältnisse zusammen zu setzen
Cinzia Arruzza ist Professorin an der New School for Social Research in New York. Jüngst erschien von ihr „Feminismus und Marxismus: Eine Einführung“ im ISP-Verlag. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Stefan Gerbing.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter.