Heute ist der Wunsch nach Freiheit wieder besonders virulent. Doch nicht die Freiheit von Krieg, Ausbeutung oder physischer Gewalt ist der Grund, sondern eine weltweite Pandemie, die uns zwingt, unsere gewohnten Freiheiten, allen voran unsere Bewegungsfreiheit, massiv einzuschränken.
Auch Rosa Luxemburg hatte dem Wunsch nach Freiheit ihr Leben gewidmet. Geboren in Russisch-Polen zu einer Zeit als Zar Alexander II. noch sehr frei über die Unfreiheit aller anderen entschied und das zaristische Recht vorsah, dass die Frau dem Manne dienen und sie nach seinem Gefallen handeln müsse, lag es nicht fern, sich als gebildete junge Frau dem Ziel der Freiheit zu verschwören. Ihr frühes Studium der Schriften von Karl Marx führten nicht nur zu ihrem Engagement in der Arbeiterbewegung, sondern zunächst einmal zu ihrer politischen Flucht in die Schweiz. Hier konnte sie zumindest unverfolgt ihrer politischen Mission nachgehen. Immer wieder geriet sie mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der sie 1898 beitrat, in zentralen strategischen Fragen aneinander. Sei es, weil sie sich von Beginn an gegen jeden Nationalismus wandte oder weil sie sich mit einem der größten Parteistrategen, Eduard Bernstein, einen unerbittlichen Streit um die Frage „Sozialreform oder Revolution“ lieferte. Damals war sie gerade einmal 28 Jahre alt.
Das Rebellische lag ihr. Ihr Denken lag nicht selten quer zur Mehrheitsmeinung ihrer Partei. Heute schreiben sich sogenannte „Corona“-Rebellen die Attribute des unerschrockenen Widerstands gegen die vermeintliche Mehrheitsmeinung auf die Fahnen. Was hätte Rosa Luxemburg wohl heute zu den Querdenkern gesagt?
Wahrscheinlich hätte sie nur sehr wenig mit ihnen anfangen können. Zum einen hätte sie wohl kaum ausgehalten, hätten Nazis und andere rechte Gruppen denselben Demonstrationszug mit ihr geteilt. Zum anderen hätte sie dem Freiheitsbegriff von Querdenken hart widersprochen. Als jemand, die mehrere Male im Gefängnis saß, wäre es ihr wohl reichlich absurd vorgekommen, gegen pandemische Maßnahmen wie den Mund-Nasen-Schutz auf die Straße zu gehen. Sie hätte viel mehr an der Seite der italienischen Fiat-Arbeiter gestanden, die im Frühjahr 2020 dafür streikten, nicht mehr in die Fabrik zu müssen aus Angst vor Ansteckung. Wahrscheinlich hätte sie die Zeitungen geflutet mit Artikeln über unzureichende Infektionsschutzmaßnahmen bei Amazon und Tönnies, ungerechte Milliardenhilfen für Lufthansa oder ein Plädoyer für ein höheres Kurzarbeitergeld gehalten. Im Sinne der „revolutionären Realpolitik“, für die sie sich aussprach, hätte sie zum einem die grundlegende Gesellschaftsveränderung im Blick gehabt, aber auch die konkreten sozialen Nöte zu adressieren. Für uns bedeutet der Ansatz der revolutionären Realpolitik auf die heutige Situation übertragen, sowohl Druck zu machen für soziale Reformen wie einen Corona-Zuschlag auf Sozialleistungen als auch deutlich zu machen, dass wir grundlegend umsteuern müssen. Die richtigen Konsequenzen aus dem Corona-Schock ziehen bedeutet, nicht ein Zurück in die alte Normalität anzustreben. Schließlich beruhte diese auf der doppelten Ausbeutung von Mensch und Natur. Und genau dies macht uns anfällig für Krisen wie Pandemien.
Rosa Luxemburgs Mission wäre es gewesen, aufzuklären, nicht Fake News zu verbreiten. Und sie hätte sich gegen ein Zurück in die alte Normalität nach Corona gestemmt und für ein Ende des Krisenkapitalismus mobilisiert.
Denn das wäre für sie Freiheit gewesen: eine demokratische Gesellschaft jenseits kapitalistischer Ausbeutung und politischer Ausschlüsse. Dass so eine grundlegende Veränderung nicht allein durch Reformen zu erreichen ist, sondern einer Revolution bedarf, hat sie eindrücklich als zentrale Wortführerin des linken SPD-Flügels dargelegt. Sie schrieb 1918 für heute ganz passenderweise: „Wie gegen Krankheitsinfektionen und -keime die freie Wirkung der Sonnenstrahlen das wirksamste, reinigende und heilende Mittel ist, so ist die Revolution selbst und ihr erneuerndes Prinzip, das von ihr hervorgerufene geistige Leben, Aktivität und Selbstverantwortung der Massen, also die breiteste politische Freiheit als ihre Form – die einzige heilende und reinigende Sonne.“ (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 360, Fn.1)
Nun wissen wir heute, dass Sonnenstrahlen allein nicht gegen den Corona-Virus helfen, sondern Impfungen und Infektionsschutz. Nichtsdestotrotz wird hier der Kern ihres Freiheitsgedankens deutlich. Es ist die selbsttätige politische Einmischung eines jeden und einer jeden, „der Massen“ wie sie schreibt, also der lohnarbeitenden Klasse. Nun ist die politische Mitgestaltung der Bevölkerung nicht gerade Merkmal für die Politik in Zeiten der Pandemiebekämpfung in Deutschland. Als LINKE haben wir immer wieder darauf hingewiesen, dass die Parlamente bei zentralen Entscheidungen einbezogen werden müssen und dass politischer Protest auf der Straße auch möglich sein muss, wenn das sonstige soziale Leben runterfahren wird. Ein Lockdown der sozialen Kontakte darf nicht zu einem Lockdown für die Demokratie werden. Doch Politik in Zeiten einer Pandemie ist keine Politik auf Dauer. Wir sollten also unseren Blick auf jene lenken, die schon vor Corona nicht politisch mitbestimmen konnten und es auch danach nicht können werden – zumindest dann, wenn alles einfach nur wieder so wird wie vorher. Wenn die Corona-Maßnahmen aufgehoben sein werden, wird sich zeigen, wer dann noch für das Recht auf Asyl, für mehr Personal im Krankenhaus und ein öffentliches Gesundheitssystem oder für die Besteuerung der Reichen auf die Straße gehen wird. Wer seinen Wunsch nach Freiheit ohne Rücksicht auf diejenigen, die in unserer Gesellschaft am verwundbarsten sind, die Älteren und diejenigen, die nicht zu Hause bleiben und sich nicht ausreichend Hygieneartikel leisten können, durchsetzen möchte, der ist kein Freiheitskämpfer, der handelt schlicht egoistisch.
Das wäre ganz sicher nicht die Freiheit, die Rosa Luxemburg meinte und die immer nur die Freiheit der Andersdenkenden sein kann. Ganz im Sinne von Karl Marx, bei dem die Freiheit des Einzelnen die Bedingung für die Freiheit aller ist. Als Dialektiker ruft Marx hier nicht allein die Freiheit des Einzelnen an. Vielmehr geht es ihm um eine Freiheit, die sich der Abhängigkeit der Menschen voneinander bewusst ist, und umgekehrt eine Abhängigkeit, die sich der Autonomie der Individuen bewusst ist. Freiheit des Einzelnen und Freiheit aller kann eben nur ermöglicht werden, wenn wir in der kollektiven Verantwortung zur Bekämpfung der Pandemie und zum Schutz von Menschenleben, ja zum Schutz all derjenigen, die in den Krankenhäusern tagtäglich versuchen Leben zu retten, solidarisch sind. Diejenigen, die nur ihre eigenen Freiheiten einfordern, die frei davon sein wollen, sich impfen zu lassen, die frei darin sein wollen, ihre Maske nicht zu tragen oder überall hinreisen zu können, denen geht es nicht um eine gemeinsame Freiheit.
Es ist keine Überraschung, dass die von den Querdenkern und Impfgegnern eingeforderte Freiheit eine egoistische Freiheit ist. In der jahrzehntelangen Hegemonie des neoliberalen Kapitalismus wurde der Freiheitsbegriff bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Vom kollektiven Ruf nach „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution ist wenig übriggeblieben. Freiheit wurde übersetzt in Smartphone, Fernreisen und in jedem Fall einmalig sein. Freiheit wurde übersetzt in das Recht, ja geradezu die Pflicht, den Ellenbogen einzusetzen im Dienste des vermeintlichen Erfolgs. Infolgedessen galt dann: Wer im Hartz-IV-System gefangen ist, sei selber schuld. Immerhin ist jeder seines Glückes oder Unglückes Schmied. Als Linke sollten wir den Freiheitsbegriff weder aufgeben, noch der neoliberalen Interpretation überlassen.
Marx‘ und in seinem Sinne Luxemburgs dialektische Verhältnis von individueller Freiheit und kollektiver Abhängigkeit mündet in der Maßgabe, die Teilhabe aller an der Gesellschaft zu ermöglichen. Das heißt, die Mitbestimmung über das Gemeinwesen, kurzum gesellschaftlichen Zusammenhalt zu befördern. Es geht also um Zugänge. Nichts isoliert mehr als Armut. Das erkannte bereits Rosa Luxemburg und brachte „soziale Garantien des Lebens“ ins Gespräch. Soziale Garantien – dafür gilt es auch heute zu kämpfen, denn soziale Sicherheiten müssen für die Vielen garantiert sein, sonst bleiben die liberalen Freiheitswerte ein Privileg der Wenigen. Für viele ist genau das heute in der Corona-Krise spürbarer denn je.
Die Hegemonie des neoliberalen Freiheitsversprechens hat durch seine gescheiterten Krisenlösungsstrategien der vergangenen Jahre tiefe Risse bekommen. Die Sehnsucht nach alternativen Lösungen ist groß. Die Lösung kann nur heißen, dass wir auf eine andere Produktionsweise umstellen, jenseits des Kapitalismus. Eine Wirtschaftsweise, die auf Nachhaltigkeit und Demokratie beruht und nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Natur. Für so ein revolutionäres Vorhaben muss die Freiheit, also die Teilhabe aller an der Gesellschaft, zur Voraussetzung werden. So würden wir dem Erbe Rosa Luxemburgs wohl am ehesten gerecht werden. Beginnen wir damit heute.