Braunschweig. Bahnhofsnähe. Stadthalle. Geduckt gedrungenes Stahlbeton-Ensemble aus den 70er Jahren. Erwartet werden Norbert Blüm, Oskar Lafontaine, Ottmar Schreiner u.a. Politprominenz, die sich hier an der Oker sonst nur selten sehen lässt. Zusammengeführt hat die unterschiedlichen politischen Charaktere die der Partei DIE LINKE nahe stehende Rosa-Luxenburg-Stiftung und das Motto der Veranstaltung: „WÜRDE IM ALTER, Nein zur Rente ab 67!“.
Der große Saal wirkt weihnachtlich. Dafür sorgen das ganze Jahr über wirklich hässliche, mit hunderten von Glühbirnen gespickte Prachtleuchter, die wie überreife Weintrauben metertief von der Wabendecke hängen. Oskar Lafontaines Platz ist ganz vorne in der ersten Reihe unter einem dieser Leuchter. Die zwei Reihen hinter ihm wurden schon Stunden vor Veranstaltungsbeginn von seinen Braunschweiger Genossen besetzt. Rechts neben Lafontaine hat Norbert Blüm, 16 Jahre Minister unter Helmut Kohl, Platz genommen. Blüm setzt sich umstandslos auf sein „Reserviert für ...“-Namensschild. Das Papier knistert leise bei jeder unruhigen Bewegung. Die Fotografen haben Aufstellung genommen. Lafontaine muss eine Menge Knipser an Peter Sodann abgeben. Der sitzt rechts von Blüm, ist der Überraschungsgast des Abends und aussichtsloser Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Jetzt, kurz vor der Veranstaltung, sieht es allerdings aus, als hielte er ein präsidialverdächtiges Nickerchen. Blüm schaut kurz etwas besorgt zu ihm rüber, bei den über 60-jährigen ist das wohl so: Da gibt man aufeinander Acht, aber Entwarnung, der Alters-Kommissar ist wohlauf.
Auf der weiten Bühne, die sonst ganzen Orchestern Platz bietet, stehen ein paar einfache Tische für die spätere Diskussionsrunde. Eine Diaprojektion gegen die Bühnenrückwand verkündet das Motto des Abends. Rechts außen ein schlichtes Pult, drei Mikrofone.
Die schon lange im Vorfeld geplante Veranstaltung steht am Veranstaltungstag allerdings spürbar im Schatten der Ereignisse um die Finanzkrise. Das öffentliche Interesse hat sich deutlich verschoben. „Rente mit 67“ gehört zu den Aufmachern von gestern. Ob es auch wieder einer von morgen sein wird, werden die Medien neu verhandeln müssen. Um die Niedersachsen heute bei der Stange zu halten, ist also ein ordentlicher Spagat nötig zwischen LVA und Hypo-Real-Estate. Erwartungsgemäß meistert Lafontaine das umstandslos. Nach einer maximal fünfminütigen Aufwärmphase ist er bereits in seinem Element. Der Vorsitzende der Partei DIE LINKE spricht ohne Manuskript. Vielleicht hatte er sogar eines zum Thema Rente, aber Ereignisse der vergangenen Wochen dürften ihm das ordentlich zusammengestrichen haben. Lafontaine beginnt in Amerika. Und das sicher, nicht weil man heute Halloween feiert, sondern weil dort in wenigen Tagen der Präsidentschaftswahlkampf entschieden wird. Lafontaine kritisiert die anrüchige Rekordspendensammlung beider Bewerber, die auch vor Unternehmen der Wall Street nicht haltgemacht haben. Jetzt wäre die applausversprechende Halloween-Frage nach „Süßem oder Saurem“ ein Volltreffer, diese Pointe lässt sich der 65-jährige allerdings entgehen.
Nach Oskar haben es Folgeredner naturgemäß schwer. Albrecht Müller (SPD) empört sich über eine Verstrickung der Schröderregierung mit dem Finanzdienstleister AWD bei der Einführung der privaten Rentenversicherung. Lafontaine bleibt auch sitzend hellwach. Immer wieder gleicht er die zentralen Botschaften der Rede Müllers mit der Reaktion der Zuhörer ab. Dafür dreht er sich ohne aufzustehen erstaunlich leger aus der Hüfte, schaut mit fragend geneigtem Kopf über seine rechte Schulter und schenkt seinen Hinterbänklern sein siegesgewiss-verschmitztes Lächeln. Solche Kontaktaufnahmen kommen an. Der politische Widerkehrer aus dem Saarland bleibt auch passiv immer aktiv. Begabung, Professionalität und Durchhaltevermögen bescheinigen ihm auch seine politischen Gegner. Wird er allerdings allzu überzeugend, schimpfen sie ihn „Populist.“
Die Provinz zwischen Harz und Heide ist für linke Veranstaltungen kein ruhiges Pflaster. Hier im ehemaligen Zonenrandgebiet fuhr man Schulklassen jahrzehntelang an die Selbstschussanlagen der DDR-Grenze. Der Schock sitzt tief. Demokratie und Sozialismus werden hier noch über Jahre hinaus instinktiv auch damit in Verbindung gebracht werden.
Die Braunschweiger Stadtverwaltung hat 400 beantragte Plakataufhängungen zur Veranstaltung im Vorfeld auf 200 zusammengestrichen und zusätzlich aus „mangelndem öffentlichen Interesse“ mit 900 Euro Gebühren belastet. Jürgen Sperber, Pressesprecher der Stadt Braunschweig: “Die Stadt verfährt bei Sondernutzungen für Werbung generell sehr restriktiv. Dies gilt besonders dann, wenn sich die Werbung wie in diesem Fall äußerst negativ auf das Stadtbild auswirkt.“ Das sehen die Vorsitzenden der LINKEN in Braunschweig, Gisela Ohnesorge und Gerald Molder natürlich anders:
„Dass an einer solchen Veranstaltung kein öffentliches Interesse bestehe, ist geradezu absurd. Vielmehr kommt hier die LINKE ihrer Willensbildungspflicht als Partei im Sinne des Grundgesetzes nach.“ Ob es nun an der mangelnden Bewerbung liegt, dass der große Saal der Stadthalle mit knapp 800 Besuchern bei weitem nicht bis auf den letzten Platz gefüllt ist, bleibt spekulativ. Sicher ist, dass Rententhemen in Braunschweig überdurchschnittliches Interesse erwarten können: Im Frühsommer folgten dem Aufruf „Rentner machen mobil!“ zuletzt bis zu tausend Rentner auf Montagsdemos durch die Stadt. Auch die örtliche Tageszeitung bleibt restriktiv, die Veranstaltung wird im Vorfeld nicht einmal besprochen.
Norbert Blüm ist Redner Nr. 3. Eine seltsame Stimmung kommt auf. Selbst die linken Genossen in den vordersten Reihen werden nostalgisch. Mitgefühl mit den Unterdrückten, Verlierern und Geschlagenen gehört zu den Grundprinzipien linker Politik: Das ist bei Blüm dann allerdings zu viel der Ehre. Blüm war immerhin 16 Jahre lang der treueste Gefolgsmann Helmut Kohls: Er hat es verstanden, 16 Jahre Minister zu bleiben und es rückwirkend so aussehen zu lassen, als hätte er 16 Jahre gelitten. Das Gegenteil ist wahr: Blüm verband eine tiefe Männerfreundschaft mit Helmut Kohl. Erst nach dem Machtwechsel und im Rahmen der Parteienspendenaffäre kündigte er ihm 2000 diese Freundschaft. Das politische Gedächtnis ist eben kurz und die linke Sache scheint jetzt jede prominente Stimme zu brauchen. Der gemeinsame Nenner an diesem Abend: die Rente. Ein Thema, das wie kein anderes mit Norbert Blüm in Verbindung gebracht wird. „Denn eines ist sicher: Die Rente!“ verkündete er dereinst auf tausenden von bundesdeutschen Liftfasssäulen und heute wieder auf der Bühne der Stadthalle in Braunschweig. Mit einem Zusatz allerdings: ... wenn nicht Schröder, Riester und Rürup aus der Rente eine staatlich subventionierte „Ölquelle für die Versicherungsindustrie“ gemacht hätten, wie Albrecht Müller schon zuvor zusammengefasst hatte. Blüm ist sauer. Die Wangen glühen dunkel. Seine legendären rhetorischen Wechsel aus Empörung und Larmoyanz sind schärfer den je. Lafontaine schlägt sich erfreut auf die Schenkel und reibt sich die Hände. Mit Blüm hat er einen mit nach Braunschweig gebracht, der begeistern kann. „Jeder, der das Beinchen heben konnte, hat noch einmal auf Norbert Blüm gepisst“ solche Sätze kommen an. Blüm gefällt sich in dieser Rolle. Als er sich wieder zwischen Sodann und Lafontaine quetscht, hätte es keinen gewundert, wenn sich die ehemaligen Kontrahenten noch ein „Give-me-five!“ gegönnt hatten: Aber das bleibt Gott sei Dank aus.
Peter Sodann bedient dann noch gekonnt die ihm zugedachte Rolle als spleenigster Kandidat aller Zeiten und erzählt einen Witz, der wesentlich länger ist als die Lacher, die er sich verdient.
Die anschließende Podiumsdiskussion fällt denkbar mager aus, zu emotional waren die Redebeiträge; zu abschließend die Forderungen aller Redner nach einer würdigen Versorgung der Alten. Eine anregende Diskussion lebt von gegensätzlichen Meinungen: Da man sich aber weitestgehend einig ist, geht am Ende jeder, wann es ihm passt. Das Publikum versteht: Über zwei Stunden Politspeerfeuer erschöpft ebenso wie es begeistern kann.
Ein abschließendes gemeinsames „Glück auf,“ vielleicht mit Harzer Bergmannskapelle und bühnentauglichen Verbrüderungsgesten über alle Parteigrenzen hinweg, hätte den Braunschweigern aber sicherlich noch gut gefallen. Aber da sind die Weintraubenleuchter schon wieder hell erleuchtet und viele Fragen offen geblieben.
Zum Autor:
Alexander Wallasch, Jahrgang 1964, ist Autor, Journalist und Texter. Sein Roman
„Hotel Monopol“ (Alexander Wall) beschreibt ein „erschreckend lebendiges Panoptikum“ (
DIE WELT), bevölkert von Menschen auf ihrem Weg nach ganz unten.
Wallasch ist
Kolumnist für SUBWAY (z.B.
Amy Winehouse und die Flaschentaucher). Für die TAZ entdeckte er
Andreas Baaders Plattenliste und besuchte
einen Bauern, der überhaupt keine Frau sucht. Der fünffache Familienvater findet etwas anderes als eine linke politische Positionierung fast unanständig.