Der folgende Blick auf die aktuelle Wirtschaftskrise geht aus vom Jahr 1968. Aus dieser historischen Position, ihren Folgen und den Fehlern der Linken, ergibt sich Aufschlussreiches für eine neue, transformatorische Linke. Wie könnte radikale Realpolitik heute aussehen? Was würde es also bedeuten, „alle Verhältnisse so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus darstellten“ (Adorno) und – das ist letztlich entscheidend - dies in politische Praxis umzusetzen? Der drohende Kollaps des Finanzsystems macht dies heute zu einer praktischen Frage.
Die 68er Jahre als Ausgangspunkt für den Blick auf die Krise
Das Jahr 1968 bietet sich in doppelter Hinsicht als Ausgangspunkt für einen transformatorischen Blick auf die Krise an: Zum einen markiert es Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Finanzkrise, die mit der Aufkündigung des Goldstandards und der Staatsverschuldung durch den Vietnamkrieg ihren Anfang nahm. Und zum anderen, weil die 68er Jahre den Versuch eines neuen, emanzipatorischen, anti-modernen Denkens darstellen, wie es sich in der kritischen Theorie und den neuen sozialen Bewegungen manifestierte.
Die 68er Jahre lassen sich lesen als der zweite große transformatorische Ausbruchsversuch nach der Oktoberevolution - und möglicherweise stehen wir heute vor dem dritten.
Ein gescheiterter Versuch, der „Systemkonflikt“ und die Neue Linke
Bemerkenswert für die heutige Linke ist an 1968 nicht zuletzt, dass die Revolten sowohl im kapitalistischen Westen wie im sozialistischen Osten hervor brachen. Dafür lieferte die „Neue Marx-Lektüre“, ausgehend von der kritischen Theorie, zumindest die Grundlage einer Erklärung: Die Marxsche Analyse im Kapital wurde an einem zentralen Punkt falsch interpretiert. Der Wert - verdinglichte abstrakte Arbeit – ist keineswegs das, was zu guten alten Zeiten des „einfachen Warentausches“ noch das bewusste und gerechte Maß für den Wert der Arbeit darstellte und nun in der kapitalistischen Moderne durch Preisschwankung und Spekulation verfälscht wird. Umgekehrt erfasst Marx mit dem Begriff des Werts gerade die innerste Logik entwickelter kapitalistischer Akkumulation. In den staatssozialistischen Ländern des Ostblocks wurde das kapitalistische Wertgesetz lediglich auf staatlicher Ebene organisiert, statt es dem Markt zu überlassen - aus der „Kritik der Politischen Ökonomie“ wurde eine Politische Ökonomie der „nachholenden Modernisierung“. Der Spagat zwischen der staatssozialistischen Aufholjagd in der Weltmarktkonkurrenz einerseits und dem „kommunistischen“ Glücksversprechen auf Bedürfnisorientierung andererseits war aber nicht ewig durchzuhalten. Der „dritte Weg“ der westlichen Sozialdemokratie hatte ab Ende der 60er Jahre übrigens ein sehr ähnliches Problem.
Und es ist übrigens kein Zufall, dass sich das „Ende des Kommunismus“ '89 einreiht in eine Serie von krisenhaften Zusammenbrüchen weltweit – wie dem dem Dow-Jones-Crash im Oktober '87 oder der Japankrise ab '91.
Hier wie dort traten zudem die negativen Folgen der kapitalistischen Moderne immer stärker zutage. Ob es die atomare Bedrohung von Kubakrise bis Tschernobyl war, die nicht enden wollende Kette brutaler Kriege von Vietnam bis Afghanistan, die Kämpfe um Sexualität, Drogenkonsum oder Wohnraum oder die unbeantwortete Frage nach den Bedingungen des deutschen Faschismus, sie alle schufen neue soziale Bewegungen jenseits des Klassenkonfliktes. Ihre Themen drehten sich nicht mehr zentral um die Frage der Ausbeutung, sondern der Entfremdung - nicht so sehr die klassenkämpferische Anerkennung im Kapitalismus, sondern das Erschrecken über dessen Folgen stand auf der Tagesordnung.
Fordismus, Kriegs-Keynesianismus und Golddeckung am Ende
1968 war aber auch das Jahr, in dem der „militärisch-industrielle Komplex“ der markt-kapitalistischen Hegemonialmacht USA zum ersten Mal nach '45 ernsthafte Probleme bekam. Der Vietnamkrieg wurde trotz militärischer Dominanz im Pazifik und industrieller Überlegenheit finanziell, militärisch wie ideologisch zum Desaster.
Zu Beginn des Jahres 1968 war zudem das Vertrauen in die Stabilität des Dollars bereits deutlich angeschlagen, bis dann im August 1971 die Golddeckung offiziell aufgehoben wurde. In jeder anderen Nationalökonomie hätte sich das Ankurbeln der Druckerpressen durch Inflation bemerkbar gemacht. Nur waren die USA und die bis dahin garantierte Golddeckung der Maßstab für das weltweite System stabiler Wechselkurse, bekannt als Bretton Woods. 1973 schließlich war damit auch Schluss und die Inflation stieg auch in den USA stetig. Genau darauf war die neoliberale Wirtschaftstheorie die Antwort: Sie verlagerte die fiktive Geldschöpfung vom Staat auf die Finanzmärkte. „Heute ist nur noch wenigen Menschen bewusst, dass das meiste von dem, was wir als Globalisierung oder Neoliberalismus bezeichnen, seinen Ursprung in einer Währungskrise der Siebzigerjahre hatte.“ (Frank 2009) Was war passiert? Trotz der Arbeitskraft-intensiven US-Kriegsmaschinerie und dem Massenkonsum der Nachkriegszeit verebbte der fordistische Boom. Denn der rasant zunehmende technische Fortschritt – marxistisch Produktivkraftentwicklung – brachte eine größere Arbeitsplatzersparnis als durch Expansion kompensiert werden konnte. Das Ende des fordistischen Akkumulationsregimes zeigte sich nicht untypisch mit der beginnenden Finanzialisierung - die im Grunde bis heute anhält.
Keynes 2.0? - Entkopplung statt Staatsverschuldungsblase
Seit 10 bis 30 Jahren kämpft die breite Linke nun gegen die neoliberalen Kürzungen im Sozialsystem, Privatisierungen und dem Abfall der Löhne. Warum sind wir aktuell eigentlich so optimistisch, dass dies nun in einem zugespitzten Krisenverlauf so grundlegend anders wäre?
Eine derartige Hoffnung übersieht, dass die sozialstaatlichen Reformen der 70er Jahre nicht nur die Revolte der 68er und wilde Streiks, sondern auch den realsozialistischen „dritten Verhandlungspartner“ im Rücken hatten. Zudem befanden sich Arbeitslosenzahlen, Staatsverschuldung und Bruttoinlandsprodukt nicht ansatzweise in der heutigen Schieflage.
Die Lehre aus der Krise der 70er Jahre und der neoliberalen Antwort kann nicht deutlich genug betont werden: Sowohl durch staatliches deficit spending (Keynes) als auch über die deregulierten Finanzmärkte (Neoliberalismus) „kann der Tag, an dem die Fülle des Kapitals auf die Fülle der Produktion störend einwirkt, aufgeschoben werden.“ (Keynes 1936) Dieser Tag scheint nun gekommen, nachdem die Kette der Umschuldungen beim Risikoversicherer AIG im September 2008 gerissen ist. Der Staat als lender of last resort springt wieder ein. Aber nur, um genau das fortzusetzen, wofür die nun Finanzmärkte kritisiert werden – völlig überbewertete Wertpapiere aufzukaufen statt sie der fälligen Entwertung zu überlassen.
Selbst wenn also eine sicher wünschenswerte Umverteilung von oben nach unten politisch durchgesetzt werden könnte, warum die freiwerdenden Gelder mit „Konjunturprogrammen“ verschleudern, anstatt Projekte zu finanzieren, die wir auch jenseits des Kapitalismus noch gebrauchen können? Statt weiterem Wachstum stünde jetzt nämlich umgekehrt eine möglichst sanfte Entwertung an.
Der vorgeschlagene „Infrastruktursozialismus“ geht da genau in die richtige Richtung. Allerdings nur wenn er nicht auf einen „öffentlichen Beschäftigungssektor“ reduziert wird. Es sei daran erinnert, dass Lohnarbeit keineswegs etwas darstellt, was vor dem Kapitalismus zu retten ist, sondern im Gegenteil zu seiner innersten Logik gehört. Die darauf aufbauende Entkopplung von Lohnarbeit und Existenzsicherung, worauf das bedingungslose Grundeinkommen zielt, hat allerdings noch den Pferdefuß der geldförmigen Auszahlung in einem einzigen Nationalstaat.
Die Radikalisierung der liberalen Agenda – und was wir daraus lernen können
Wir sollten uns fragen, was die neoliberale Agenda nach '68 so erfolgreich gemacht hat und daraus lernen – strategisch, nicht inhaltlich. „Wie alle erfolgreichen politischen Kräfte in demokratischen Gesellschaften nahm der Thatcherismus viele grundlegende Werte und Bestrebungen, die wir alle haben (Werte wie Freiheit und individuelle Rechte, Streben nach Wohlstand und Fortschritt), bündelte sie zu einer Reihe von operationellen Prinzipien (in ihrem Fall eindeutig das Prinzip des ungezügelten Marktes), und setzte dann, Schritt für Schritt, mit Entschlossenheit und großem Selbstvertrauen, dieses operationelle Prinzip mit Blick auf die Erfüllung der Werte und Bestrebungen in jedem Politikbereich um.“ (Tsakalotos 2009) Wie sähe eine neue linke „Radikalisierung der Agenda“ also aus? Welche Strategie sollte sich eine Linke im 21. Jahrhundert zu eigen machen, um den Herausforderungen der Krise gewachsen zu sein?
Zum einen muss sie konsequent transnational orientiert sein. Das sich jeder nationalen Einbettung widersetzende globalisierte Kapital lässt sich nur auf dieser Ebene wirksam bekämpfen. Jede Re-Nationalisierung birgt zudem die große Gefahr einer Vereinnahmung oder gar querfrontlerischen Bündnisfähigkeit mit reaktionären Kräften. Zum anderen muss sie die Vision einer post-kapitalistsichen Produktionsweise entwerfen, die die Überbetonung der Arbeit und den unökologischen Wachstumszwang überwindet und dabei auf rassistische wie sexistische Ausgrenzung verzichten kann. Dazu abschließend drei exemplarische Beispiele möglicher Transformations-Projekte.
Beispiel Opel.
Was produzieren die nochmal? Ach ja, Autos – diese CO2-Schleudern mit Erdöl-basierter Verbrennungstechnik, die zu hundert-tausenden die Asphalt-Wüsten unserer Städte verstopfen und als Hauptteilnehmer im Individualverkehr tausende von Todesopfern jährlich fordern. Die Frage scheint offensichtlich, was wir mit einer solchen Produktionsstätte in einer menschlichen Gesellschaft anstellen könnten. Ließe sich, so wäre hier die Frage, die Produktion auf Busse für einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr umbauen? Lässt sich der Verbrennungsmotor zum Minikraftwerk umfunktionieren? Welche Zukäufe wären für einen Antrieb durch Brennstoffzellen nötig? Und warum sollte eine Arbeitnehmerbeteiligung in Kooperation mit linken Landesregierungen nicht genau darauf drängen statt mit Lohnverzicht wieder „wettbewerbsfähig“ werden zu wollen und das im Zweifel gegen die Kolleg_innen aus Antwerpen oder Saragossa?
U-topie trotz Bilderverbot.
Auch wenn einiges dafür spricht, dass wir kein „richtiges Leben im Falschen“ (Adorno) auf dem Reißbrett erdenken können, so zeigen sich doch bereits in kleinen Reformvorschlägen die Unterschiede in linken Sozialismus-Vorstellungen. Deshalb ist es dringend geboten, auch mal den großen Wurf zu wagen: Wie wäre es z.B. mit einem weltweiten Räte-System, welches alles auf der möglichst niedrigsten Ebene berät (Subsidiaritätsprinzip), und das auf der Basis einer global vernetzten Produktionsgemeinschaft. „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen.“ (MEW19) Die technische Entwicklung von Internet und Kybernetik macht die Kommunikation über Bedürfnisse und entsprechend geplanter Produktion ähnlich in einem Kibbuzim möglich - weltweit.
Guter Rat muss nicht teuer sein.
Sämtliche Demokratisierungen in Politik wie Ökonomie, seien es Genossenschaften, Beteiligungshaushalte, Betriebsräte oder Wohnprojekte, teilen sich das Problem mit dem kapitalistischen Außen. Statt aber wie gewohnt um Anerkennung innerhalb der Verwertungslogik zu kämpfen, muss es nun darum gehen gerade gegen diese, eine abgekoppelte Reproduktion außerhalb zu organisieren. Aus der Not, das dies in einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeiten nie vereinzelt zu machen ist, kann dann eine Tugend werden, nämlich der Erkenntnis, dass wir alle gemeinsam in der kapitalistischen Scheiße stecken.
Dazu muss die Linke aber wohl erst die Ent-Täuschung überwinden, dass das unreflektierte Mitspielen nach den Regeln von Verwertung und Repräsentation nie zum Sieg von Bedürfnisprimat und Selbstermächtigung führen wird. Erst wenn wir aufhören, nach den Regeln zu spielen, können wir das Spiel gewinnen.
P.S. noch ein kleines Rätsel mit auf den Weg:
Wie verbindet man ein Quadrat aus 3x3 Punkten mit 4 Linien ohne abzusetzen?
(Auflösung unter AG68.twoday.net)
Literatur:
Ingo Elbe: Marx im Westen. Die Neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Berlin 2008.
Stefan Frank: Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise. Saarbrücken 2009.
John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. München/Leipzig 1936
Karl Marx: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. MEW 23
Euclid Tsakalotos: Radikalisierung der Agenda. Die Antwort der Linken auf die Krise. In: transform! Europäische Zeitschrift für kritisches Denken und politischen Dialog. 04/2009
Zum Autor:
Bernd Barenberg hat seine Abschlussarbeit (M.A.) über Marx' Kapital geschrieben und ist Mitglied im Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie in verschiedenen linken Zusammenhängen auch international aktiv.