Essen und gegessen werden
Erst so ein Fressen und dann auch noch Moral!
Es gibt kein Entrinnen. Wer für Lebensmitteleinkäufe durch die Regalreihen der Supermärkte wandelt, der oder dem strahlen von immer mehr Produkten Qualitätsstandards in Form von Labels (für bio, fair trade, gentechnik-frei etc.) entgegen. Die Einführung dieser Qualitätsstandards ist ein zentrales Merkmal der heutigen Nahrungsmittelindustrie. Gleichzeitig hat sich diese Entwicklung quasi hinter dem Rücken einer kritischen Öffentlichkeit vollzogen. Labels und Standards werden von so unterschiedlichen Akteur_innen wie Regierungen, Unternehmen, Umwelt- und entwicklungspolitischen NGOs als Lösung für das Problem betrachtet, nachhaltige Produktion mit nachhaltigem Konsum zu verbinden. Standards tragen demnach zu einer Entfetischisierung von Waren bei, da sie diesen ein Gesicht und den Kund_innen einen Einblick in den Produktionsprozess geben. Dies ermögliche jedem/r Einzelnen/r, durch sein/ihr Kaufverhalten einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des Marktes zu nehmen, so die Befürworter_innen von Standards.
Dieser Sichtweise stehen jedoch immer mehr kritische Analysen zur Rolle von (Bio-)Standards entgegen:„Rhetorically, standards create a problem and provide an answer to it, while at the same time placing consideration of the effects of those standards in wider socioeconomic contexts out of the bounds of discussion.“ (1)
Aus dieser Perspektive verdecken Biostandards mindestens ebenso viel wie sie offen legen und entpuppen sich damit als trojanische Pferde: Ihre Einführung hat wichtige Verschiebungen im Nahrungsmittelsektor zur Folge, die man den Biostandards selbst nicht ansieht. Denn Biostandards sind nicht nur passive Instrumente, die uns Konsument_innen die „Natürlichkeit“ des Produktionsprozesses garantieren. Vielmehr sind Biostandards aktiv an der Produktion dieser „Natürlichkeit“ sowie neuer gesellschaftlicher Verhältnisse beteiligt. Diese betreffen sowohl die Machtverhältnisse innerhalb des Produktionsprozesses, als auch das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Regulierung des Nahrungsmittelsektors.
Der Biolandbau war ursprünglich als Gegenbewegung zur konventionellen Landwirtschaft entstanden. Durch den Aufbau möglichst geschlossener Betriebskreisläufe und die Erschließung neuer Absatzwege wollten sich landwirtschaftliche Betriebe aus der vielseitigen Abhängigkeit – von Betriebsmitteln wie Dünger oder Spritzmittel auf der einen sowie der Vermarktung über den Großhandel auf der anderen Seite – befreien. Die ersten Standards im Biobereich setzten sich die Biobäuerinnen und Biobauern bzw. deren Verbände selbst, um sich nach außen hin gegenüber der konventionellen Landwirtschaft abzugrenzen und sich vor Betrugsvorwürfen zu schützen. Sie stellten also einen Akt der Selbstermächtigung dar. Als Nationalstaaten und die EU einige Zeit später gesetzliche Richtlinien für den Biolandbau erließen, wurde damit der Biolandbau zwar einerseits offiziell anerkannt, andererseits bereits unter eine Marktlogik subsumiert. Der gemeinsame EU-Biostandard von 1991 diente explizit der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes für Bioprodukte und legte die Ökologisierung der Nahrungsmittelproduktion in die Hände des Marktes, wobei das individuelle Einkaufverhalten zu einer demokratischen Abstimmung über die Zukunft der Landwirtschaft (konventionell oder biologisch) erhöht wurde.
Es stellt sich – neben vielen anderen Problemen des Konzepts der Konsument_innendemokratie – allerdings die Frage, wie frei die Wahl, die wir beim Einkaufen treffen, überhaupt ist. Denn aufbauend auf den staatlichen Standards haben in den letzten Jahren die Handelsketten eigene Biostandards sowie weitere Qualitätsstandards entwickelt. Diese Standards sind de jure zwar freiwillig. Da Handelsketten jedoch in vielen Fällen darüber entscheiden, welche Produkte überhaupt auf den Markt kommen, sind sie de facto für die meisten Produzent_innen bindend. Dies kommt einer Privatisierung des Lebensmittelrechts und der Entscheidung darüber, was biologische Produktion bedeutet, gleich, die jeglicher demokratischer Legitimität entbehrt. Gleichzeitig entstehen neue Abhängigkeiten im Produktionsprozess: Handelsketten, die an einem Ende der Wertschöpfung angesiedelt sind, können über ihre Standards direkt in die Produktion am anderen Ende der Wertschöpfung eingreifen. Die Rolle der Bioverbände als Schnittstelle zwischen Produzent_innen und Markt ist mittlerweile weitgehend marginalisiert. Handelsketten organisieren die Wertschöpfungsketten an ihnen vorbei. Die Verhandlungsmacht der Biobäuerinnen und Biobauern wird zusätzlich dadurch geschwächt, dass Handelsketten die eigenen Standards dazu nutzen, Produzent_innen exklusiv an sich und damit einen einzigen Aufkäufer zu binden.
Unternehmen rühmen sich, durch die Einführung von eigenen Biolabels einen wertvollen Beitrag zur Ökologisierung der Nahrungsmittelproduktion beizutragen. Damit sehen sie zum einen darüber hinweg, dass Bioprodukte nur eine kleine, wenn auch äußerst lukrative Geschäftsnische darstellen (Bioprodukte haben europaweit einen Marktanteil von unter fünf Prozent). Zum anderen sind Standards alleine keine geeigneten Mittel, eine Ökologisierung der Produktion zu unterstützen. Die ständig steigenden Anforderungen an die Betriebe, die meist einseitig auferlegt werden, führen immer mehr zum Ausscheiden kleiner Betriebe sowie der Spezialisierung der Höfe auf einzelne Betriebszweige (z.B. Gemüseanbau), was dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft entgegensteht und den verstärkten Zukauf von Düngemittel nötig macht. Die jährlichen Kontrollen der einzelnen Standards mithilfe immer längerer Checklisten fördern zudem, was Michael Powers als „rituals of verification“ bezeichnet: Was bei den Kontrollen zählt, ist die Übereinstimmung mit technischen Vorgaben und Aufzeichnungspflichten, nicht die betriebliche Realität als solche.
Biostandards stellen in der Regel also nur eine scheinbare Transparenz der Produktionsbedingungen her. Ebenso wenig ist eine Ökologisierung der Nahrungsmittelproduktion unter Anleitung der Supermärkte zu haben. Ökobashing ist deswegen trotzdem nicht angesagt. Denn mittlerweile gibt es genügend alternative Möglichkeiten, sich mit biologischen Lebensmitteln einzudecken: Die Spanne reicht hier vom Kauf von Produkten, deren Labels nach wie vor in Produzent_innenhand sind (wie Demeter oder Ökoland), bis hin zum Engagement in Food Coops. Davon würde nicht nur die Umwelt profitieren, sondern auch die Menschen, die diese Lebensmittel produzieren.
Fußnote:
(1) Dunn, Elizabeth (2003). Trojan pig: paradoxes of food safety regulation. Environment and Planning A 35 (8), 1493–1511; 1501
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