Burn-out den Verhältnissen
… oder die Revolution kommt immer zu spät
Es war kein „Glanzstück“, so Norbert Lammert über die Arbeit jenes Verfassungsorgans, dessen Präsident er ist. (1) Der Anlass dieser ungewöhnlichen Selbstkritik: Im Herbst 2010 hatte der Bundestag in wenigen Tagen das Gesetz zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten, das Gesetz zur Einrichtung eines Energie- und Klimafonds und die Haushaltsbegleitgesetze durchgepeitscht. Das Parlament habe sich, so Lammert, dem Zeitdruck der Regierung einfach unterworfen, habe Zusammenhänge zwischen den Gesetzen „ausgehandelt“, statt sie zu erörtern. Man sei den Anforderungen einer sorgfältigen Gesetzgebungsarbeit nicht gerecht geworden. Allerdings kam der Zeitdruck der Regierung nicht von ungefähr. Auch sie stand damals mächtig unter Druck. Neben der Bewältigung der Folgen von Fukushima und der Revolten in Nordafrika musste der kurz vorher errichtete Euro-Rettungsschirm schon wieder erweitert werden. – Auch wenn es nicht immer so turbulent zugeht wie in jenem Herbst 2010, so leidet der Politikbetrieb ganz offensichtlich unter einem enormen und wachsenden Zeitdruck. Deshalb ist zu fragen, welche Konsequenzen dieser Zeitdruck hat, woher er kommt und was gegen ihn getan werden kann.
Der Zeitdruck belastet neben der Gesundheit und dem Familienleben der PolitikerInnen vor allem die Qualität der Politik.(2) Es dürfte der Parlamentsarbeit zum Beispiel kaum förderlich sein, wenn aus Zeitmangel Reden immer häufiger nicht mehr vorgetragen und debattiert, sondern nur mehr zu Protokoll gegeben werden. Ein schlechtes Licht auf die Qualität der Parlamentsarbeit wirft es auch, wenn Gesetze in immer kürzeren Abständen wieder korrigiert werden müssen, weil sich unter Zeitdruck Fehler eingeschlichen haben. Oft beginnt die wirkliche Diskussion im Parlament und in der Öffentlichkeit erst, wenn die Gesetze schon verkündet sind, weil plötzlich Perspektiven auftauchen, die im Eifer des Gefechts gar nicht wahrgenommen worden waren. Besonders gravierend ist, dass unter Zeitdruck der Zeithorizont schrumpft, der in die Betrachtung einbezogen wird. Und noch etwas: Parlamente müssen ja nicht nur die Regierung kontrollieren und Gesetze machen, sondern sie sind auch dafür zuständig, dass die politischen Entscheidungen den Bürgern vermittelt werden. Auch diese Bildungsaufgabe erfordert ihre Zeit. Insgesamt verdichtet sich bei vielen Beobachtern der Eindruck, die Politik erschöpfe sich immer mehr in der kurzatmigen Reparatur, sie gestalte immer weniger das Gemeinwesen nach einem vorher durchdachten Konzept. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa nennt eine solche unter dem Beschleunigungsdiktat stehende Politik „situativ“.(3)
Wer definiert eigentlich jene Situationen, auf die die Politik ständig reagiert? Wenn Politiker Unternehmen „systemrelevant“ und politische Maßnahmen „alternativlos“ nennen und eine „marktkonforme“ Demokratie fordern, bringen sie den inneren Zusammenhang zwischen Politik und Zeit auf den Punkt: Unter dem Kommando ökonomischer Zwänge wird die Demokratie geopfert und Zeitdruck spielt dabei die zentrale Rolle. Das kann an der Zeithierarchie der Politischen Ökonomie des globalisierten Kapitalismus deutlich gemacht werden.
Fragen wir zunächst nach den spezifischen Geschwindigkeiten jener Prozesse, in denen individuelles Handeln im Kontext von Ökonomie und Politik koordiniert, also synchronisiert wird. Ganz oben in der Zeithierarchie finden wir jene Bewegungen, die auf den Märkten für Geld bzw. Kapital stattfinden. Hier werden, weitestgehend losgelöst von Raum und Zeit, gigantische Werte in Sekundenbruchteilen um die Welt gebeamt. Deutlich langsamer sind die Bewegungen der Waren, noch langsamer die der Arbeitskräfte, am langsamsten die der Naturressourcen. Gemeinsam ist den ökonomischen Synchronisationsprozessen jedoch, dass sie indirekt, nämlich durch Märkte gesteuert sind. Das verleiht ihnen, trotz aller Abstufungen, ein respektables Tempo. Denn Märkte reduzieren Qualitatives auf Quantitatives und erzeugen so eine enorme Reduktion von Komplexität. Was auf Märkten allein zählt, sind die Preise. Und die sind schnell verglichen, ganz gleich, ob sie Arbeit, Güter oder Kapital betreffen. Wo sich jedoch Menschen in ihren Handlungen ohne Märkte, also auf direkte Art und Weise miteinander koordinieren wollen, wird alles komplizierter. Denn dann muss Vieles erst geklärt werden, und dazu müssen die Akteure miteinander reden, einander zuhören, nachdenken: Was brauchen wir? Was können wir? Wie wollen wir uns selbst, unsere soziale Mitwelt und unsere natürliche Umwelt behandeln? Kurz: Wie wollen wir eigentlich leben? Solche Fragen, die die Qualität des Lebens und die Werte, an denen es ausgerichtet ist, betreffen, erspart sich die Logik der Märkte. Das macht sie überlegen – zunächst.
Nicht nur moralisch, auch räumlich ist die Marktökonomie mittlerweile bekanntlich weitestgehend unbegrenzt, sie agiert global. Anders die Politik, die ständig an Grenzen stößt. So setzt sich die Zeithierarchie der Märkte fort in einer Zeithierarchie der Politik. Ganz oben angesiedelt ist jene politische Ebene, die den ultraschnellen Finanzmärkten am nächsten kommt: auf globaler Ebene der Weltwährungsfonds und die Weltbank, auf nationaler Ebene die Notenbanken und die Finanzministerien. Dort versuchen Technokraten und Politprofis das „sachlich“ Erforderliche ohne große Umwege in die Wege zu leiten und sich dabei von politischen Präferenzen möglichst wenig irritieren zu lassen. Ganz unten angesiedelt ist jene Ebene, die durch und durch in der Lebenswelt der Menschen verwurzelt ist: die Ebene der Kommunen, die sich ihren Standort nicht aussuchen und nicht mit Abwanderung drohen können. Zwischen oben und unten und den vielen Zwischenebenen wird unablässig und mit großem Aufwand um Kompetenzen und Ressourcen gestritten. Langfristig, das zeigt die Geschichte der politischen Institutionen, wiederholt sich dabei, was aus der Ökonomie bestens bekannt ist: die Umverteilung von Macht und Geld von unten nach oben. So mag es nicht verwundern, wenn viele Kommunen genauso vor dem finanziellen Kollaps stehen wie viele periphere Länder ihre politische Souveränität schrittweise aufgeben müssen. Die Zeithierarchie von Ökonomie und Politik bestimmt weitgehend, wer den Takt schlägt und wem er geschlagen wird. „Die Kapital- und Finanzströme umkreisen den Erdball auf der Datenautobahn – und die Menschen hetzen hinterher“, schrieb Norbert Blüm vor über 10 Jahren.(4) Da sitzen Menschen und ihre politisch verfassten Gemeinwesen in aller Regel am kürzeren Hebel.
Die hier skizzierte Zeithierarchie von Ökonomie und Politik ist freilich ambivalent. Auch wenn angesichts der immer größeren Räume, über die Arbeitsteilung und Kommunikation synchronisiert werden müssen, die Nutzung indirekter Mechanismen unverzichtbar sein mag, so darf ein außerordentlich wichtiger Umstand nicht übersehen werden: Mit Markt und Demokratie stoßen zwei konträre Legitimationsprinzipien aufeinander. Auf Märkten gilt „Wer zahlt, schafft an“, je mehr Kaufkraft und Kapital, desto größer die Chancen, die eigenen Interessen durchzusetzen. In der Demokratie gilt „One man, one vote“, jeder Bürger hat dieselben Möglichkeiten, auf die Gestaltung der allgemeinen Angelegenheiten Einfluss zu nehmen. Dieser Gegensatz der legitimatorischen Grundlagen ist von historischer Bedeutung. Während der Markt das Recht des Stärkeren kultiviert, basiert die Demokratie auf jenem Verständnis vom Wesen des Menschen, das mit der europäischen Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert als normatives Fundament unseres Gemeinwesens allgemein anerkannt wird: die Würde des Menschen, jedes Menschen, ohne Unterschied.
In einer „marktkonformen“ Demokratie verdrängt die indirekte Synchronisation menschlichen Handelns (durch Markt und Kapital) die direkte (durch Kommunikation und Beschluss) und zwingt Letzterer ein spezifisches Zeitdiktat auf. Schlimmer noch: Wegen der dem Kapitalismus eigenen Dynamik des Produzierens um der Produktion Willen (Marx) handelt es sich um einen sich selbst verstärkenden Prozess. Er entspricht ziemlich genau dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben, wer fast nichts hat, dem wird auch das Wenige noch genommen. Die viel zitierten ökonomischen „Sach“zwänge sind in Wahrheit menschengemacht. Marx hat die spezifische Form der Vergesellschaftung im Kapitalismus als Verkehrung von Mensch und Sache, als Fetischismus der Warenwelt treffend analysiert. Dieser Fetischismus ist der Kern der „Sach“zwänge, der zentrale „Sach“zwang ist heute das Wirtschaftswachstum. Und wie die Fetische unserer archaischen Vorfahren so verlangt auch unser Wachstumsfetisch nach Opfern. Ein solches ist die Demokratie.
Genauso wenig wie auf automatisierte Synchronisationsmittel ganz verzichtet werden kann, darf ihnen allein das Feld überlassen werden. Das Primat der Politik muss gewährleistet bleiben. Nur so können die Errungenschaften der Aufklärung – Menschenwürde und Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat – bewahrt werden. Was also tun? Ein hervorragendes Mittel zur Begrenzung und schließlich Umkehrung der Zeithierarchie der globalisierten Politischen Ökonomie wäre eine Politik, die den Umgang mit Zeit als Querschnittsaufgabe angeht: eine „Zeitpolitik“. Sie könnte die Spielregeln unseres Gemeinwesens so umgestalten, dass für alle wichtigen Prozesse – das Lernen, Arbeiten und auch die Suche nach den Spielregeln selbst – die Zeit zur Verfügung steht, die diese Prozesse benötigen. Wegweisende Konzepte hierfür hat die seit zehn Jahren bestehende Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik bereits erarbeitet.(5)
Wenn wir unsere Geschicke weder individuell noch kollektiv dem Diktat von Geld und Kapital überlassen wollen, müssen wir nach einem zum Geld alternativen Maßstab suchen. Und dieser Maßstab könnte in der Tat die Zeit sein. Sie ist älter und universeller als das Geld. Sie spielt in unserem Leben eine wahrhaft fundamentale Rolle: im Umgang mit der natürlichen Umwelt, der sozialen Mitwelt und uns selbst.(6) Was heißt das konkret im Bezug auf den Umgang mit uns selbst? Einatmen und Ausatmen, Anstrengung und Ruhe, Tun und Lassen – unser gesamtes Leben als körperliche Wesen vollzieht sich in Zyklen und diese lassen sich nur in engen Grenzen verzögern und beschleunigen. Entsprechendes gilt für unser soziokulturelles und unser personales Wesen. Der Mensch ist als einzige Spezies darauf angewiesen und dazu befähigt, zu reflektieren, das Bewusstsein also nach hinten und nach vorne zu beugen und zu prüfen, was er tut. Eingreifen und Begreifen sind jene Zyklen, denen wir unsere Fähigkeit zur Autonomie verdanken. Je schneller wir in die Welt eingreifen und je weiter die Folgen unserer Eingriffe reichen, desto intensiver müssen wir uns sogar um das Begreifen bemühen. Familien und Schulen, Betriebe und Parlamente brauchen deshalb Räume und Zeiten des Innehaltens, des Nach- und Vorausdenkens, des Kritisierens und der Entwicklung von Visionen. Die atemlose Ökonomie muss durch eine „atmende“ Demokratie(7) begrenzt – und letztlich überwunden werden.
1) FAZ vom 1.11.2010.
2) Z.B. Markus Heindl, Entscheidungsprozesse in Politik und Verwaltung unter Zeitdruck: Ursachen, negative Konsequenzen und Gegenmittel, in: Michael Görtler / Fritz Reheis (Hg.), Reifezeiten. Zur Bedeutung der Zeit in Bildung, Politik und politischer Bildung, Schwalbach/Taunus 2012, S. 117-134.
3) Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt/Main 2005.
4) SZ vom 21.3.2002.
5) www.zeitpolitik.de
6) Fritz Reheis, Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung (1996), 3. Auflage, Darmstatt 2008, und ders., Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus, München 2003.
7) Der Begriff ist eine Analogiebildung zum „atmenden Lebenslauf“, den Karin Jurczyk unlängst vorgeschlagen hat, um die Notwendigkeit des Wechsels zwischen Zeiten der Reproduktionsarbeit (Kindererziehung, Pflege etc.) und Zeiten der Produktionsarbeit (Erwerbsarbeit, Karriere etc.) im Lebenslauf deutlich zu machen.
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