Katja Kipping: Du hast eine Bühnenfassung von dem auch in der Linken in Deutschland viel diskutierten Buch Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ entwickelt, die zur Zeit in der Schaubühne läuft. Gibt es Interpretationen von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, die Dich ärgern?
Thomas Ostermeier: Ja natürlich. Der ärgerlichste Fehler, der auch von Linken gemacht wird, ist Identitätspolitik gegen die soziale Frage auszuspielen. Die Behauptung, die Linken hätten sich zu viel mit Identitätspolitik beschäftigt und nun muss mal Schluss damit sein, dass man über Unisex-Toiletten und Feminismus redet … sowas ärgert mich und es ärgert auch Didier. Er erwähnt das in jedem Gespräch. Man muss für beides kämpfen und beides verknüpfen. Dass sich „Rückkehr nach Reims“ besonders der Klassenfrage widmet, lässt nicht den Umkehrschluss zu, dass deswegen alle anderen Fragen unwichtig seien. Zudem stecken auch in seinem Buch ganz viele identitätspolitische Fragen. Seien es die Referenzen an James Baldwin und den Kampf der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung oder an Didiers eigene Geschichte als homosexueller Mann.
Kipping: Behauptungen à la „Wenn der Feminismus zu laut wird, schreckt dass die Arbeiterklasse ab“ sind also eher eine Projektion der eigenen Vorurteile?
Ostermeier: Ich glaube, dass Eribons Buch sehr gut ein Manko von Teilen linker Theorie beschreibt: Indem man die Arbeiterklasse als Vorhut einer zukünftigen, besseren Gesellschaft sieht, wird die Arbeiterklasse mythologisiert. Auch bevor Eribons Familie und viele andere im Norden Frankreichs begannen Front National zu wählen, auch als sie noch überzeugte Kommunisten waren, dachten sie frauenfeindlich und homophob. Diese Zerrissenheit zwischen der Verklärung der Arbeiterschaft durch seine trotzkistische Partei und der Distanz zu seiner eigenen Familie aus der Arbeiterklasse versteht Eribon mit dem Abstand von 30 Jahren. Das kann man eben auch nicht generalisieren im Sinne von: Feminismus ist ein Schreckwort, mit dem man die unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung für seine politische Sache verliert. Ich glaube es gibt — vielleicht weniger offen — in allen Klassen Frauenfeindlichkeit.
Kipping: Einer der positiven Effekte von „Rückkehr nach Reims“ ist hierzulande, dass auf einmal Klassenfragen überhaupt wieder thematisiert werden. Wenn man aber fragt: „Sind sie Teil der Arbeiterklasse?“, sagen Leute immer noch eher: „Ich bin Angestellte oder ich bin Pfleger*in.“ Das Problem bleibt, dass sich mit dem Begriff Arbeiterklasse nicht alle, die dazu gehören, gemeint fühlen. Wie lässt sich das ändern?
Ostermeier: Ich halte mich da an die Marx‘sche Definition: Wenn ich nicht mehr als meine Arbeitskraft zu verkaufen habe, um für ein Dach über dem Kopf und für Essen auf dem Tisch zu sorgen, gehöre ich dazu. Wenn ich kein Eigentum an Kapital oder Produktionsmitteln habe, bin ich Arbeiterklasse. Vielleicht ist der Begriff schwierig, weil er historisch belastet ist und manche sofort an die DDR denken. Das ist ein historisches Erbe, das der Begriff auch mitbringt. Ich mag den Begriff trotzdem, weil ich mich daran freue, wie die Leute zusammenzucken. Ich war neulich vom Handelsblatt zu einem Gespräch über Macht eingeladen. Da war unter anderem die Schriftstellerin Thea Dorn. Ich sprach dort auch über die Linke – die gesellschaftliche Linke, nicht die Partei. Frau Dorn war furchtbar irritiert: Was denn ‚die Linke‘ sei? Sowas gäb‘s doch gar nicht mehr. Eribon sagt dazu: „Wenn Leute davon reden, dass es Rechts und Links nicht mehr gibt, dann ist es immer ein von der Rechten installierter Diskurs.“ Sieht man ja auch bei der Realpolitik von Macron, der den alten Rechts-links-Gegensatz hinter sich gelassen haben will und dabei ganz klar rechte Politik macht: Sozialabbau und rassistische Politik gegen Geflüchtete plus Interessenspolitik für die besitzende Klasse Frankreichs.
Kipping: So lange man bei Klassenkampf an SED und an Freiheitsbeschränkungen dachte und nicht an kämpferische Emanzipation war das ein Problem für die Linke. Das hat sich verbessert. Trotzdem bleibt die Schwierigkeit: Bei Arbeiterklasse denken alle an den Arbeiter im Blaumann bei VW am Fließband und die Krankenpfleger*innen im weißen Kittel fühlen sich nicht angesprochen. Ich verwende ja den Marx‘schen Klassenbegriff wie Du, ich würde immer noch dazusagen: auch Erwerbslose, Soloselbstständige, Prekarisierte, Illegalisierte, Laptop-Arbeiter*innen und Fabrikarbeiter — sie gehören alle dazu. Ich habe neulich mit Frigga Haug darüber diskutiert, provokativ von der „Klasse der Enteigneten“ zu sprechen. Denn das haben alle, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, gemeinsam: Sie werden permanent enteignet. Um die Früchte ihrer Arbeit, um das, was ihnen zusteht, gebracht. Man sieht das beispielsweise an den explodierenden Mieten. Da werden alle enteignet, egal ob sie in Hartz IV sind oder über ein mittleres Einkommen verfügen. Wenn die Miete höher ist als das, was du bekommst, musst du dir das Wohnen vom Munde absparen. So lässt sich der Enteignungsbegriff nämlich auch verstehen: Wir Linke stellen die Eigentumsfrage, aber die Enteignung der Massen findet nicht durch uns statt, sondern durch die Kapitalseite.
Ostermeier: Aber was ist euer politisches Projekt dahinter?
Kipping: Zunächst: Verbindungen herstellen. In der politischen Praxis entsteht Solidarität ja oft gerade da, wo die, die noch nicht direkt betroffen sind, merken: sie könnten betroffen sein. Der Pflegenotstand trifft nicht nur die Beschäftigten, sondern alle, die ins Krankenhaus müssen und alle mit pflegebedürftig werdenden Eltern. Alle, die keine Millionär*innen sind, sind auf ein funktionierendes Pflege- und Gesundheitswesen angewiesen. Es geht uns darum, die verbindenden Interessen in den Mittelpunkt zu stellen, die sonst immer gespalten werden.
Ostermeier: Nun ist Klasse aber das eine, Klassenkampf noch mal was anderes. Wir haben ja derzeit keinen Klassenkampf …
Kipping: … Wir haben einen Klassenkampf von oben.
Ostermeier: OK, aber keinen Klassenkampf der Arbeiterklasse von unten.
Kipping: Wir erleben zumindest eine Zunahme von Kampfeslust. Am Beispiel der Pflege: Leute in diesen Berufen arbeiten da aus tiefster Überzeugung, weil sie Menschen helfen wollen. Sie waren bisher deshalb ein wunderbares Opfer für Ausbeutung. Jetzt signalisieren mir immer mehr Pflegende, dass sie sich das nicht mehr gefallen lassen. „Die Profite steigen doch, warum soll ich das jetzt ausbaden? Die Patient*innen können nichts dafür, wir wollen sie nicht im Stich lassen. Aber so geht es eben nicht weiter.“ Zurückgefragt: Wie sähe aus deiner Sicht Klassenkampf im 21. Jahrhundert aus?
Ostermeier: Wir stehen an keinem Punkt, wo wir die Überwindung der Klassengegensätze erleben. Aber wenn wir sie einmal erleben, werden jene, denen das Kapital gehört, das nicht so einfach hergeben. Das sieht man bei Siemens: Unglaubliche Dividende dieses Jahr, gleichzeitig werden tausende Arbeitsplätze im Osten Deutschlands gestrichen. Bisher wurde sowas immer damit begründet, dass es der Wirtschaft schlecht geht. Jetzt geht es ihr gut und trotzdem werden Tausende gefeuert. Das ist so ein himmelschreiendes Unrecht! — Parallel sitzt Siemens-Chef Joe Kaeser neben Donald Trump in Davos und macht mit ihm auf „best friend“. Die Verkommenheit kennt offenbar keine Grenzen mehr und das ist dann auch ein Signum dafür, dass wir uns warm anziehen müssen, wenn die Konflikte einmal aufbrechen.
Kipping: Bevor diese Konflikte offen ausbrechen, werden die Herrschenden auf eine andere Strategie abstellen: auf Verunklarung, Diffamierung und Spaltung. Es gibt ja Kämpfe. Nicht nur bei den Pflegekräften, sondern auch bei Amazon, Deliveroo und andernorts. Die gilt es zu stärken und die müssen vor allem zusammengeführt werden. Das ist das klare Ziel der Linken. Rosa Luxemburg hat das „die Maulwurfsarbeit“ genannt. Sie hat der Linken ins Stammbuch geschrieben, dass sie Maulwurfsarbeit machen muss. Wenn es zu Streiks kommt, auch über den jeweiligen eigenen Horizont hinaus denken, ist die Arbeit, die ansteht und die man auch von Gewerkschaften fordern muss. Wir unterschützen den jeweiligen Kampf, denken zugleich über ihn hinaus.
Ostermeier: Dazu gehört aber auch, die Geschichte von Bewegungen besser zu erzählen. Nicht immer nur als Geschichte von Niederlagen. Ich habe mit Alain Badiou darüber diskutiert und damals gesagt: „Was bringt‘s denn weiterzumachen – Occupy hat nichts gebracht, Arabischer Frühling, Taksim, Gezi - alles gescheitert. Da hat mir dieser ältere Herr ganz schön den Kopf gewaschen. Was das für ein furchtbar naiver Ansatz von politischer Veränderung sei? Die Geschichte von gesellschaftlicher Veränderung sei immer erst die Geschichte vom Scheitern und wer sich davon frustrieren lasse, sei nicht für Veränderung gemacht. Man kriegt sie nicht geschenkt, sie geschieht nicht von heute auf morgen.
Kipping: Was ist denn der größte Erfolg von bisherigen Klassenkämpfen?
Ostermeier: Alles, was wir leben: Vom Frauenwahlrecht bis zum Betriebsverfassungsgesetz. Auch wenn wir die 35-Stunden-Woche noch nicht haben — Arbeitszeitregelungen, Mutterschutz, Sozialversicherung, einfach alles, was die Situationen der Arbeitenden verbessert, ist ein Erfolg und wurde erkämpft.
Oder wenn ich an die Geschichte von Willi Hoss in Stuttgart und dessen „plakat-Gruppe“ denke. Da haben sich Anfang der 1970 auf einmal die ausländischen Arbeitnehmer organisiert, während die deutsche Arbeiterschaft sich nicht dafür interessiert hatte, dass diese Arbeiter bisher keine Arbeitnehmer*innenvertretung hatten, weil keiner ihre Sprache sprach. Die stellten erstmals eine eigene Liste auf und jeder hatte im Betrieb auf einmal Ansprechpartner, die Griechisch, Türkisch oder Italienisch sprachen!
Kipping: Gute Gelegenheit über euer Stück zu reden. Die Geschichte von Willi Hoss wird in deinem Eribon-Stück miterzählt und von seiner Tochter, Nina Hoss, vorgetragen. Wie entstand die Idee, die Geschichte des grünen Urgesteins Hoss da einzubringen?
Ostermeier: Erstmal ist er für uns kein grünes Urgestein. Im klassischen Kleinbürgertum war immer die Erzählung: „Die Grünen sind sowieso alles verkappte Kommunisten.“ Ich finde es witzig, dass es im Fall von Willi Hoss sogar stimmt.
Hoss ist vor allem ein Kommunist im zwanzigsten Jahrhundert, der zwei Jahre lang in Kleinmachnow auf die Parteihochschule und dann nach Westdeutschland ging, um den Kommunismus aufzubauen. Doch er war nicht nur im klassischen Sinne ein umtriebiger Kommunist, sondern 1968 auch einer, der aus der Klasse kam, für die er gekämpft hat. Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Und vor diesem Hintergrund ist es wichtig, auch die Geschichte der historischen „Verlierer“ und ihre Siege zu erzählen.
Einer der Vorwürfe von Nina Hoss Vater an die Studenten von 1968 besteht in einem Zitat eines kommunistischen Parteiführers: „Geht nach Hause, Studenten, morgen seid ihr unsere Bosse und erzählt uns, wie wir mit weniger auskommen und mehr arbeiten müssen.“
Ich finde den Weg, den Hoss genommen hat interessant. Als Schweißer hat er im Rheinland an den riesigen Rheinbrücken, mit dem Kopf nach unten hängend unter gefährlichsten Bedingungen die Schweißnähte erneuert. Sein großer traumatischer Moment ist dann, dass seine kommunistische Partei, die DKP, ihn für seine Kritik am Schweigen zum sowjetischen Einmarsch in Prag von 1968 ausschließt. Und da schließt sich wieder der Kreis: Die Rückschläge hat er nicht als Niederlage erlebt, sondern als Ansporn, aus den Widersprüchen der Geschichte der Linken im zwanzigsten Jahrhundert zu lernen und weiterzugehen. In dieser Biographie ist auch der Umgang mit den Sündenfällen im zwanzigsten Jahrhundert interessant.
Mit diesem Erbe müssen wir als Linke ja auch umgehen. So wie ihr als Linkspartei damit umgehen müsst, dass ihr die Nachfolgepartei der SED seid. Nicht im Sinne individueller Verantwortung, sondern als Frage: Wie positionieren wir uns? Wie erzählen wir diese Geschichte? Übernehmen wir Verantwortung?
Kipping: Als ich damals in die PDS eingetreten bin, wurde mir sehr oft diese Frage gestellt: „Wie kann man in eine Partei mit dieser Geschichte eintreten?“ Für mich war folgendes entscheidend: Ich finde es redlicher, sich einer kollektiven Vergangenheit zu stellen und sich dabei die Frage zu stellen, wie konnte es passieren, dass so hehre Ansprüchen sich in der Praxis in Unrecht verkehrten? Welche Lehre, kann man ziehen, damit das nicht wieder passiert? Eine zentrale Schlussfolgerung für mich lautet, dass Grund- und Freiheitsrechte nie wieder auf dem Altar vermeintlich höherer Ziele geopfert werden dürfen. In der DDR wurde Widerspruch immer mit der Frage abgewürgt: „Willst du den Weltfrieden gefährden?“ Heute klingt etwas Ähnliches an, wenn über Terrorismusabwehr geredet wird.
Deswegen will ich ein klares Streiten für Freiheits- und Grundrechte — in dem Wissen, dass diese einer materiellen Unterfütterung bedürfen, damit sie nicht nur auf dem Papier existieren.
Ostermeier: Noch mal zurück zur Geschichte von Ninas Vater. Ich hatte mir immer gewünscht, dass man sie auf der Bühne verarbeitet und mir war nie klar, wie das gehen sollte.
Das Interessante an der Hoss’schen Familiengeschichte ist ja auch, dass Nina eben nicht da herkommt, wo 90 Prozent der Schüler*innen der bundesdeutschen Schauspielschulen herkommen: Aus diesem wohlgenährten Milieu, wo man sich leisten kann, weil die beiden anderen Kinder Medizin studieren, dass dann eine sowas Verrücktes wie ein Klavier- oder Schauspielstudium machen kann.
Das ist eine dieser Geschichten, die in den Medien selten erzählt werden. Es ist eben nicht die klassische Aufsteiger*innen-Geschichte, die sich als Erfolgsmodell des Kapitalismus oder des Neoliberalismus verkaufen lässt. Im Sinne, jeder hat die Chance. Sie sollte aber erzählt werden als Geschichte im Sinne von: Das ist auch Deutschland. Es gibt auch ein deutsches Milieu, das sich ganz selbstverständlich im Grillgeruch des Kleingartenvereins versammelt, ohne ausländerfeindlich oder rassistisch zu sein.
Das Proletariat oder die Unterprivilegierten kommen in unseren Medien oft als fettsüchtige, frauenfeindliche, alkoholkranke oder Kindesmissbrauch betreibende Monster vor. Ein anderes Gesicht der Arbeiterklasse bekommt man im Fernsehen nicht zu sehen.
Das wäre aber wichtig, Geschichten der einfachen Menschen nicht nur, wie in den Polizeiberichten, Geschichte von individuellen Tragödien zu erzählen. Sondern klar zu machen, dass es eine Arbeiterklasse gibt, die nicht defizitär ist. Dass es Biographien in diesen Arbeiterklasse gibt, wo Menschen arm sind, sich aber nicht frauenfeindlich, nicht rassistisch, nicht homophob artikulieren, sondern solidarisch mit Ausländern, Geflüchteten und Transgendern sind.
Kipping: Noch ein Thema, das uns in der Redaktion oft umtreibt, ist das Verhältnis von Politik und Kunst. Der Prager Frühling wurde schließlich nicht zuletzt durch die Kafka-Konferenz inspiriert … Das Verhältnis von Kunst und Politik ist ja von oft ertragreichen Spannungen aber auch von schmerzhaften Missverständnissen geprägt.
Ostermeier: Würdest du das so beschreiben?
Kipping: Ich würde sagen, dass es ohne ästhetische und kulturelle Revolutionen auch keine politischen Revolutionen geben kann. Oder um Heiner Müller zu zitieren: „Die Zeit der Kunst ist eine andere als die Zeit der Politik. Das berührt sich nur selten. Und wenn man Glück hat, entstehen Funken.“ Ich füge hinzu: Zeiten von Umbrüchen sind Zeiten des Funkenflugs.
Ostermeier: Ich finde zunächst mal wichtig, dass sich eine Linke nicht der Avantgarde-Feindlichkeit verschreibt. Das ist ein Problem linker Kulturpolitik. Das sage ich nicht, weil ich hier extrem privilegiert am Ku‘damm sitze und ein gutes Auskommen habe, sondern aus einer echten Sorge heraus. Ich glaube, dass auch in linker Kulturpolitik immer schon der Samen des Reaktionären schlummert. Ich würde immer Stadtteilpolitik, Stadtteilfeste, Stadtbüchereien und Musikschulen verteidigen. Aber ich verteidige nicht einen häufigen Kurzschluss eines muffligen Sozialismusverständnisses, dem avantgardistische Kunst nur als die Darlings der Kulturbourgeosie erscheint. Ich finde es total wichtig, dass sich von Luigi Nono über Malewitsch und Meyerhold die Avantgarde der Kunst mit der Avantgarde der Politik verbindet.
Ein Künstler wie Luigi Nono, war ja ein erklärter Klassenkämpfer, gleichzeitig künstlerisch ein totaler Avantgardist, dessen Kunst so dekonstruktivistisch und formalistisch ist, dass sie zunächst der Arbeiterklasse nicht immer näher zu bringen ist. Es geht darum, dass man sie nicht deswegen drangibt, sondern eine Gesellschaft schafft, in der alle die Leistung dieser Kunst verstehen und vielleicht sogar genießen können. Wenn das Bürgertum, das in weiten Teilen ziemlich beschränkt ist, das kann, dann kann das die Arbeiterklasse schon lange. Wenn man sie in einen gesellschaftlichen Umstand bringt, das erleben zu können.
Kipping: Das erinnert mich an Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstandes“ ... Drei junge kommunistische Arbeiter stehen nach einem harten Arbeitstag vor dem Pergamonaltar und versuchen, sich diese Kunst anzueignen. Mit dem Wissen, was an Unterdrückung in diesem Werk steckt. Und trotzdem, ist diese kulturelle Aneignung – allen Widerständen zum Trotz – Teil ihrer revolutionären Praxis.
Doch Eröffnen wir zum Abschluss noch mal den Blick: Wo siehst Du gegenwärtig ermutigende Ansätze, wo was in Bewegung kommt?
Ostermeier: Ich finde, das Denken von Didier Eribon, Edouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie in Frankreich sehr spannend. Die drei geben mir Hoffnung. Sie stellen sich ja bewusst in die Tradition von Bourdieu. Dass sie genau diesen Faden aufnehmen und nicht etwa den von Baudrillard, der mal gesagt hat: „der Irakkrieg hat gar nicht stattgefunden“, und dann in der völligen Verirrung gelandet ist, macht mir Mut. Mir macht Mut, dass sie an eine materialistische Tradition anknüpfen, der es um Klasse und um Gesellschaft geht. Sie haben den Mut zu sagen: „Ich komme aus der Armut. Mein Vater liegt krank und arbeitsunfähig im Bett, weil das französische Sozialsystem ihn nach einem Arbeitsunfall gezwungen hat weiter zu arbeiten und das hat ihm den Rest gegeben.“ Sie sagen solche Sätze mit Bestimmtheit und benennen: „Das ist ganz konkrete soziale Gewalt.“ Geoffroy de Lagasnerie denkt in „Verurteilen“ über das Gefängnissystem nach und analysiert das amerikanische Gefängnissystem als Markt, in dem sehr viel Profit gemacht wird. Er zeigt, dass wenn Gefängnisse in privatwirtschaftlicher Hand sind, auf einmal die Zahlen der Verurteilten hoch gehen. Er zeigt, wie stark Systeme des Strafens und Verurteilens mit dem Neoliberalismus verbunden sind.
Ich freue mich über die Passage bei Eribon, in der er zeigt, wie Kultur heute als Distinktionsmittel innerhalb der bürgerlichen Klasse fungiert. Dass man die neueste Opernsängerin kennt und sich leisten kann, nach Mailand zu fliegen, um sie dort in einer Aufführung zu sehen. Wie man sich von anderen in der bürgerlichen Klasse dadurch abgrenzen kann, dass man die Interpretationen in ihren feinen Abstufungen genau wahrnehmen kann. In anderen Traditionslinien französischer Philosophie wird diese Frage überhaupt nicht mehr gestellt. Es geht nur noch um Dekonstruktion von Formen, Narrationen und Subjekten. Nicht mehr darum, in welchem Feld und in welcher Klassensituation sich diese Fragen stellen.
Wenn du mich also nach Hoffnung fragst: Mich macht extrem hoffnungsfroh, dass mit der Krönung von Macron ein anti-macronistisches Trio auftritt, das sich nicht nur in der Polemik ergeht, sondern sehr genau hinschaut. Das macht mir Hoffnung.
„Rückkehr nach Reims“ ist noch bis zum 16. Mai in der Schaubühne zu sehen.