Prager Frühling, Magazin für Freiheit und Sozialismus (www.prager-fruehling-magazin.de)

Der „Prager Frühling“ und die Erinnerung

Lena Dorn

Erinnerungen, die wach gehalten werden wollen, brauchen Personen oder Gruppen, die sich ihrer annehmen. Beim „Prager Frühling“ kommt immer wieder die Frage auf: Wer kann aus welchen Gründen an ihn anknüpfen, inwiefern ist er als Bezugspunkt und für unser Verständnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Geschichte der politischen Linken relevant?

Erinnerungskultur ist ein Oberbegriff für verschiedene „Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“[1]. Da man nie an alles erinnern kann, treffen Akteur_innen der Erinnerungskultur erstens eine Auswahl, und zweitens verbinden sie die Notwendigkeit des jeweiligen Erinnerns in der Öffentlichkeit zumeist mit Themen, an die Menschen auch heute anknüpfen können. Wie und woran erinnert wird, ist somit Ausdruck von einem Bedürfnis innerhalb gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Erinnerungskultur ist immer auch Interpretation und legitimiert gelegentlich — darauf verweist der Begriff „Geschichtspolitik“ — politische Ideen oder sogar konkrete politische Forderungen. Erinnerungskultur ist daher immer wieder umkämpft. Auch an den so genannten „Prager Frühling“ wird in verschiedener Weise erinnert, es gibt Mythisierungen und Alltagserinnerungen, Kunstausstellungen und Gedenken im öffentlichen Raum. Insgesamt aber sind die Auseinandersetzungen auf dem Feld der Erinnerungskultur in Bezug auf den Prager Frühling — so meine These — von drei Tendenzen geprägt.

Erstens handelt es sich um eine gesellschaftliche Bewegung, die durch den Einmarsch mehrerer Staaten des Warschauer Pakts[2] gewaltsam abgebrochen wurde – woraufhin bis 1989 sowjetische Soldaten im Land blieben. Die Errungenschaften, etwa die Abschaffung der Zensur, wurden rückgängig gemacht. Aufgrund dieser Zäsur, oder Diskontinuität, ist die Diskussion über bleibende Verdienste der damaligen Reformen schwieriger als etwa in Bezug auf die westdeutsche 68er-Bewegung. Ihre Verdienste, Fehler, Bedeutung usw. werden anders als der Prager Frühling im Feuilleton breit diskutiert. Zweitens ist das Erinnern an den „Prager Frühling“ stark vom Erinnern an sein Ende geprägt. Das hat damit zu tun, dass das Ende eindeutig ist, sowohl bezogen auf das Datum des Einmarsches der Truppen in der Nacht vom 20. auf den 21. August, als auch in Bezug auf die öffentliche Bewertung: Dieser Eingriff in die Souveränität wird einhellig verurteilt, fast ganz unabhängig von der jeweiligen politischen Bewertung der Diskussionen Anfang 1968. Mit der konsensualen Verurteilung des Einmarsches verbindet sich eine bestimmte Ästhetik, in deren Zentrum das Opfer-Gedenken steht. Sowohl der Opfer im Besonderen, die mit dem Ereignis verbunden sind, soll durch die traditionelle Kranzniederlegung am 21. August vor dem Gebäude des Rundfunks gedacht werden, als auch auf der allgemeinen Ebene lässt sich über Opfer sprechen: Die Tschechen und Slowaken sind hier Opfer des gewaltvollen Eingriffs einer Großmacht. Das Opfernarrativ kann hier also eine nationale Wirkung entfalten.

Drittens scheint ein nachhaltiges gesellschaftliches Interesse für den „Prager Frühling“ dadurch verkompliziert zu sein, dass seine Charakterisierung als „reformkommunistisch“ (oder auch sein Streben nach dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, so die Wortschöpfung von Radovan Richta) und seine umstrittene politische Ausrichtung an vielen Ecken und Enden Ablehnung oder zumindest Verunsicherung hervorruft. Die sich weiter verhärtende Blocklogik ließ nach 1968 nur zwei mögliche Narrative zu. Zwischen „Gut“ und „Böse“ gibt es kein Drittes. Karel Kosík, Petr Uhl oder Robert Kalivoda sind nicht zuletzt deshalb heute kaum noch bekannt.

Der „Prager Frühling“ widersetzt sich einfachen Narrativen

Die Schwierigkeiten der politischen Anknüpfung (oder Indienstnahme) fangen bei der politischen Einordnung an. Die zwei durchgesetzten Deutungslinien verdrängen hier einen differenzierten Zugriff. Der antikommunistische Blick kann den „Prager Frühling“ nur dann gutheißen, wenn er in ihm das erste Hinarbeiten auf ein liberales westliches Demokratiemodell liest, also die kommunistischen Diskussionen weglässt bzw. als rein strategisch versteht. In der realsozialistischen bzw. parteikommunistischen Perspektive ist der „Prager Frühling“ abzulehnen, weil er von der sowjetischen Parteilinie abweicht. Auch sie streicht Teile der Diskussion weg, indem sie sie schlicht als reaktionär bezeichnet.

Für westliche linke Kritiker_innen des Realsozialismus war der Einmarsch ebenfalls ein herber Schlag. Für sie fällt später zudem die Möglichkeit weg, an eine nationale Kränkung zu erinnern. Gibt es keine andere Version, eine solche politische und gesellschaftliche Enttäuschung zu erinnern oder zu bearbeiten? Die Parteisozialist_innen der Sowjetunion (und ihre Genoss_innen) setzten ihre Definition mit Waffengewalt durch. Für viele andere Sozialist_innen und Kommunist_innen verunmöglichte dies einen Pfad, an den sie zuvor noch geglaubt, den sie zuvor noch gesehen hatten.

Das Narrativ, in dem der Prager Frühling ein Aufbäumen gegen die Diktatur war, welches seine logische Folge in der kapitalistischen Liberalisierung der 1990er Jahre finden würde, ist in der deutschsprachigen Diskussion das vorherrschende. Das aktuelle Buch von Martin Schulze Wessel, eines der wenigen Bücher zum Jubiläum, ist eine erkenntnisreiche Aufarbeitung der Vorgeschichte und Bedingungen der tschechoslowakischen Entwicklungen in den 1960er Jahren und interpretiert insbesondere die Rolle von Erinnerung bzw. Vergangenheit und Vorstellungen von Zukunft erhellend, und es ist unbedingt zur Lektüre zu empfehlen. Aber auch er kommt in seinem Fazit diesem Narrativ gefährlich nahe: Wer den Prager Frühling erlebt hatte, so schreibt er, „konnte selbst in der bleiernen Zeit der Normalisierung nicht mehr annehmen, dass diktatorische Ordnungen für die Ewigkeit gemacht sind.“[3]

Schulze Wessel plädiert zu Recht für eine erneuerte und größere Anerkennung der Bedeutung des Prager Frühlings, aber denkt diese doch von den Verhältnissen der 90er Jahre aus. Er verliert dadurch den Blick auf Veränderungen, die hätten eintreten können, wären sie nicht frühzeitig gestoppt worden. Aber kann man überhaupt auf Veränderungen blicken, die nicht eingetreten sind? Man kann zumindest die reale Möglichkeit ernst nehmen und die Situation untersuchen, in der sie aufkommen konnte.[4]

Im nationalen Narrativ setzt sich, wie bereits angedeutet, die Opfererzählung durch. Die realsozialistische Zeit ist dann ein homogener Block der Unterdrückung, der Totalität und Diktatur. Davon zeugt auch das tschechische „Institut für das Studium totalitärer Regime“ (Ústav pro studium totalitních režimů), das 2007 gegründet wurde und das Gesetz 181/2007 umsetzen soll.[5] Dieses Gesetz bestimmt, dass Schritte eingeleitet werden sollen, um die historische Bildung zu fördern und ein Verständnis der „totalitären Regime“ zu erweitern. Die Zeiträume des Totalitarismus auf dem Gebiet des heutigen Tschechien sind im Gesetz eindeutig benannt: 30. September 1938 bis 4. Mai 1945 und 25. Februar 1948 bis 29. Dezember 1989. Die „Ära Dubček“ mit den Reformen des Jahres 1968 ist laut Gesetz also selbst totalitär.

Die gangbaren Wege, einen ernsthaften Bezug zu den gesellschaftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen des Prager Frühlings herzustellen, sind somit in vielfacher Hinsicht verstellt. Die Streite verschiedener kommunistischer und sozialistischer Denker_innen in den 1960er Jahren über den politischen Weg, den man gehen will, wurden gleichsam durch die Macht der geschichtlichen Entwicklung und ihrer Akteur_innen in eine Richtung aufgelöst.

Das Versprechen der Transnationalität – und die fortschreitende Suche nach der historischen Möglichkeit

Erinnern vollzieht sich entlang des Bedarfs der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation. Wir sind zurzeit konfrontiert mit einer neuen Wucht des Nationalen im politischen Diskurs und den politischen Entscheidungsmechanismen. Sie ist auch in den europäischen Erinnerungskulturen nicht zu übersehen, die mit Identitätsdebatten eng verknüpft sind. Für die Vorstellung eines nationalen Kollektivs ist die Herstellung und inhaltliche Füllung einer gemeinsamen Vergangenheit sogar ein ganz zentraler Faktor. Für jede nationale Erzählung werden bestimmte Ereignisse besonders erinnert und dabei spezifisch gedeutet (vgl. das Opfernarrativ). Andere werden vergessen. Auch individuelles Erinnern strebt nach einem Rückhalt durch eine Verknüpfung mit der Großen Geschichte.

Es kann selbstverständlich immer andere Deutungen von Ereignissen, Personen oder Prozessen geben. Erinnern handelt aber davon, sich kollektiv zu verstehen. Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit einer vergangenen Konstellation in Verbindung zu bringen heißt, von einer Relevanz für eine größere Gruppe von Menschen auszugehen; man behauptet oder fordert eine Bedeutung, die über den konkreten Zeitpunkt und die damals Betroffenen hinausgeht. Das „Transnationale“ an sich ist kein Kollektiv und kann auch keines werden. Transnationales Erinnern scheint zwar zu versprechen, über die Nation hinauszugehen, zählt aber nationale Narrative dann oft nur auf und bringt sie bisweilen in Konkurrenz zueinander. In diesem Sinne tendiert das Transnationale hier oft dazu, das Erinnern wiederum in nationalen Narrativen stillzustellen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum es den neuen nationalistischen Gruppen ziemlich leichtfällt, sich transnational zu vernetzen und zu organisieren.

Wie erinnern? Als Heldengeschichte mit Fahnen oder als Suche nach der historischen Möglichkeit?

Martin Schulze Wessel und andere haben Recht damit, dass die großen kollektiven Utopien, die über die Nation hinauswiesen und trotzdem eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft erschufen, zerbrochen sind. Umso mehr wird Erinnern zurzeit ins Nationale eingeebnet. In diesem Zusammenhang scheint es gewinnbringend, nach tatsächlich grenzüberschreitenden Ideen zu suchen, die anders kollektiv sein können, so wie es zum Teil in feministischen Allianzen geschieht.

Der Prager Frühling könnte dabei ein Anknüpfungsfeld für eine politische Linke sein, die weder einen politischen Bezug an den Realsozialismus für tragbar, noch die warenproduzierende Gesellschaft für das Ende der Geschichte hält. Das Suchen müsste weitergehen. Die Prager Historikerin Kristina Andělová schreibt: „Nach den historischen Möglichkeiten zu fragen heißt nicht, eine kontrafaktische Geschichte zu erschaffen, oder zu erforschen, was geschehen wäre wenn es sich anders entwickelt hätte. Die Suche nach der Möglichkeit bedeutet Respekt gegenüber der Realität, jedoch ohne den realistischen Blick auf die historischen Ereignisse, der sie als notwendig und unausweichlich begreift.“[6]

Vielleicht kann ein angemessenes Erinnern an den Prager Frühling keines sein, dass sich den Formen der aktuellen nationalen und transnationalen europäischen Erinnerungskulturen angleicht und ihn dadurch stillzustellen droht. Vielleicht gibt es ein anderes Erinnern, das in Auseinandersetzung mit den Formen der tschechoslowakischen künstlerischen und intellektuellen Debatten neue Möglichkeiten in unserer Gegenwart freilegt.

Lena Dorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BTHA-Forschungsverbund „Grenze/n in nationalen und transnationalen Erinnerungskulturen“

 

[1]   Christoph Cornelißen: Erinnerungskulturen, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012 http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Cornelißen

[2] Beteiligt waren die „Warschauer Fünf“, ohne Rumänien und Albanien. Soldaten der NVA der DDR operierten abgesehen von einer kleinen Gruppe im Führungsstab nicht auf dem Gebiet der Tschechoslowakei. Es standen aber Einheiten an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze bereit.

[3] Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling: Aufbruch in eine neue Welt, 2018, S. 286

[4] Zur Suche nach der historischen Möglichkeit: Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman, 2017, sie schreibt in Bezug auf 1917 über die „These, dass die Revolution als Öffnung der Geschichte verschiedene Richtungen hätte einschlagen können“ S. 23 – und Kristina Andělová: Hledání dějinné možnosti (dt. etwa: Das Suchen der historischen Möglichkeit), A2, 12, 15.8.2018, S. 18-19

[5] Das Gesetz auf Tschechisch: http://www.sagit.cz/info/sb07181

[6] Kristina Andělová: Hledání dějinné možnosti, A2, 12, 15.8.2018, S. 19, Übers. L.D.

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