In den kommenden Wochen sieht sich Großbritannien mit den Konsequenzen einer der wohl folgenschwersten politischen Entscheidungen seiner jüngeren Geschichte konfrontiert. Mit der Brexit-Kampagne, dem Votum und den anschließenden Verhandlungen durch die konservative Regierung von Theresa May haben die Brit*innen einen Pfad betreten, der aus den bisherigen vertraglichen Verbindungen mit der Europäischen Union herausführt. Dabei gibt und gab es durchaus gute Gründe dafür, dass viele Gewerkschafter*innen, Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen in Großbritannien einer umfassenden Integration in die EU skeptisch gegenüberstehen. Denn solange das Demokratiedefizit der Europäischen Union fortbesteht, lässt sich eine progressive Agenda innerhalb der EU nur schwer umsetzen. Dieses Defizit, das sich maßgeblich durch die Abwesenheit eines effektiven demokratischen Systems der Gewaltenteilung auszeichnet, lässt sich – grob gesprochen – als Resultat einer ökonomischen, nicht aber einer politischen Integration fassen.
Der Schwäche der europäischen Linken
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde in den 1950er Jahren mit dem Ziel der abstrakten Freiheit und Gleichheit des Warenmarktes gegründet. Spätestens ab den 1980er Jahren zeigte sich indes, dass zwar die ökonomische, absehbar aber nicht die politische und soziale Freiheit und Gleichheit realisiert werden würden. Die Kombination aus niedrigen Wachstumsraten und steigender Inflation hatte in eine tiefe Krise des keynesianischen Regulationsmodells geführt und verhinderte in den folgenden Jahrzehnten eine kontrazyklische Investitions- und Lohnpolitik, das heißt eine Investitionspolitik, die versucht aktiv Krisenentwicklungen abzumildern. Bis heute haben daher sozialdemokratische und sozialistische Umverteilungsmodelle an politischer Legitimation verloren. Dies wirkte sich nicht zuletzt auch auf linke Ansätze einer proeuropäischen Politik aus. Das Feld wurde so neoliberalen und –konservativen Wachstumsmodellen überlassen.
Vor dem Hintergrund der politischen Schwäche der (west-)europäischen Linken in den vergangenen vierzig Jahren und der daraus resultierenden schwachen Ausprägung sozialdemokratischer Elemente in den Apparaten der EU, spielen linke Politiker*innen und Ökonom*innen heute mit dem Gedanken eines sogenannten „Lexit“, eines linken Exit aus dem Euro. Sie erhoffen sich von einer politischen Renationalisierung Handlungsspielräume für soziale Umverteilungsprogramme. Dies erklärt auch die Ambivalenz der britischen Labour Party in ihrer Position zum Brexit. Statt sich konsequent für eine soziale Demokratisierung der Europäischen Union einzusetzen, hielt sich insbesondere der linke Flügel in der Frage lange bedeckt. Dies scheint sich nun geändert zu haben.
Auf die Verhandlungen der britischen Regierung mit der Europäischen Union reagiert Momentum, die Plattform des sozialistischen Flügels um Labour Chef Jeremy Corbyn, mit der Forderung nach einem erneuten Referendum, das die Ergebnisse des ersten Votums umkehren soll. So sprachen sich in einer Umfrage im letzten Halbjahr 2018 etwa 53% der befragten Momentum Mitglieder – mit Einschränkungen – für ein erneutes Referendum aus. Doch das ist ein Spiel mit dem Feuer. Denn Referenden stellen aus verschiedenen Gründen problematische Formen demokratischer Willensbildung dar.
Resonanzverstärker für autoritäre Sehnsüchte
Ergebnisse der quantitativ-empirischen Demokratieforschung zeigen, dass Referenden – aber auch andere Formen direkter Demokratie kaum geeignet sind, um der klassen-, race- und geschlechterspezifischen Selektivität moderner Staatsapparate, wonach etwa die Interessen von migrantischen Arbeiterinnen tendenziell keinen Eingang in politische Entscheidungen finden, entgegen zu wirken. Referenden etablieren sich tendenziell im Sinne der weißen männlichen Facharbeiterschaft und des kleinbürgerlichen Milieus mit Abstiegs- und Proletarisierungsängsten.
Dabei nimmt der kurze Rausch des Jubels „Wir sind das Volk“ im Referendum scheinbar den Charakter einer demokratischen Entscheidung an. Der vergemeinschaftenden Jubel dient indes nicht selten als Resonanzverstärker für autoritäre Sehnsüchte. Der Kick, der aus dem kollektiven Machtrausch der situativen Gruppenbildung folgt, kann allerdings nur kurz über tieferliegende Ängste und Probleme hinwegtäuschen. Bald setzen Ernüchterung und Aggression ein. Die erlebte Enttäuschung darüber, dass der „Volkswille“ nicht unmittelbar umgesetzt wird, treibt zur Suche nach Schuldigen, die den demokratischen Akt der Ermächtigung gestört oder gar manipuliert hätten. Zudem entsteht die Sehnsucht nach erneuter Gruppenbildung, die die Enttäuschung über die schwindende Machterfahrung kompensiert. Dieses Wechselspiel von Feind- und Gruppenbildung macht Referenden und andere Formen direktdemokratischer Versprechen für politische AkteurInnen so attraktiv – sie lassen sich als Ticket zur schnellen Ermächtigung und der Machtdemonstration ziehen.
Es kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen, dass sich Forderungen nach Referenden in den letzten Jahren als Kampffeld der populistischen und völkischen Rechten fest etabliert haben.[1]
Referenden stärken die Exekutive
Dabei ist entscheidend, dass in komplexen, antagonistischen und pluralistischen Gesellschaften Referenden die Tendenz haben, sich in autoritäre Entscheidungen der Exekutive zu transformieren. Denn das – in Referenden notwendig als undifferenziertes Ganzes erscheinende – „Volk” beansprucht sich durch „Volksabstimmungen“ unmittelbar als Souverän zu inszenieren und so in eine direkte Kommunikation mit der Exekutivmacht zu treten. Sie gehen implizit mit dem Versprechen einher, dass die Ergebnisse der „Volksabstimmung“ auch unmittelbar Auswirkungen auf das Regierungshandeln haben. Dieses Versprechen kommt auf der Ebene politischer Legitimation einer defacto Entmachtung des Parlaments gegenüber der Exekutive gleich.
Durch die beanspruchte unmittelbare Kommunikation mit der Regierung nehmen sie nur scheinbar den Umweg über Parteiensysteme und Parlamente und sind damit nur scheinbar demokratisch legitimiert. Denn das Parlament – als widersprüchlicher Kommunikationsraum – erscheint als hinderlich, als überflüssiger Filter für den bereits gebildeten „Volkswillen“. In diesem Sinne können Referenden den historischen Fortschritt der Parlamentssouveränität innerhalb des Gefüges von checks and balances aushöhlen – weshalb Referenden in den meisten Demokratien formal auch keinen bindenden Charakter haben. So sind es im Fall des Brexit auch nicht etwa in erster Linie Parteien und Interessengruppen, die den Streit über die soziale Bedeutung des Referendums austragen, sondern konkurrierende Exekutivapparate, sowohl auf Seiten der EU als auch auf Seiten Großbritanniens.
Dies ist keineswegs spezifisch für das Brexit-Votum, sondern liegt strukturell in dem Versuch begründet „das Volk” unmittelbar mit „dem Staat” kommunizieren zu lassen. Dabei ist diese Kommunikation zwischen „Volk“ und „Exekutive“ notwendig dysfunktional und offen für willkürliche Interpretationen. Denn es ist kaum möglich bei Referenden ausdifferenzierte politische Fragestellungen zu erarbeiten. Sie erschöpfen sich in der Regel in „Ja-oder-nein“-Abfragen zu komplexen Sachverhalten. Der Zuruf durch „das Volk” kann so immer nur ein uneindeutiges Raunen, ein kollektives Seufzen einer nicht näher differenzierten Masse sein. Partikulare und meist gegensätzliche Interessen entlang der Achsen Klasse, Geschlecht und race werden in der allgemeinen Fragestellung unsichtbar, weshalb Referenden politische Aushandlungsprozesse in der Regel nur simulieren.
Zwischen Pest und Cholera
Mit Referenden, wie etwa dem Brexit-Referendum, werden auf verschiedenen Ebenen implizit (teilweise aber auch explizit) Kernelemente moderner Demokratien angegriffen, ohne, dass sie im Gegenzug ein adäquates Mittel zur notwendigen sozialen Demokratisierung krisengeschüttelter kapitalistischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert darstellen können. Wenn also als Lösung für das aktuelle Brexit-Debakel in Großbritannien von progressiven Kräften, wie etwa Momentum, ein neues Referendum gefordert wird, dann bekämpfen die AktivistInnen Pest mit Cholera. Ihr Streit mag zwar effektiv sein, um die akute Bedrohung, die vom Brexit-Votum ausgeht, zu begrenzen und damit als fortschrittlich erscheinen. Aber ein Festhalten an Referenden beschwört und stärkt die Geister, die Momentum zu bekämpfen beansprucht.
Sowohl aus strategischer, als auch aus demokratietheoretischer Perspektive sollten sich sozialistische und sozialdemokratische Bewegungen und Parteien bei ihrer Arbeit nicht auf den Ruf nach Referenden einlassen. Stattdessen wäre dafür zu plädieren, dass das britische Parlament und die sozialistischen und sozialdemokratischen Abgeordneten verantwortlich und responsiv agieren, ohne erneutes Referendum die Aktivierung des Artikel 50 des Vertrags von Lissabon zurücknehmen und damit den Brexit-Prozess rückgängig machen – auch wenn es ein unpopuläres Vorgehen wäre. Nur so könnte die Parlamentssouveränität gegen ihre Aushöhlung verteidigt werden und damit eine demokratische und progressive Perspektive aufrecht erhalten werden. Hierzu müssten Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen den Streit um soziale Freiheit und Gleichheit mit dem Streit für eine transnationale demokratische Perspektive verknüpfen. Ein erster Schritt wäre die soziale Demokratisierung der Europäischen Union.
Felix Sassmanshausen ist ein Politikwissenschaftler aus Leipzig.
Anmerkungen
[1] Dabei können diese sich auf die dezisionistische Theorie des Vertreters der konservativen Revolution Carl Schmitt berufen, der wahrscheinlich in den kommenden Jahren mit der Etablierung rechtspopulistischer und völkischer Parteien, Thinktanks und Stiftungen auch ein gut finanziertes wissenschaftliches Revival erleben wird. Schmitt machte gegen moderne Massendemokratien die Idee der Akklamation - der Abstimmung durch den jubelnden Zuruf durch „das Volk” - stark. Er propagierte dieses Mittel gegen die „Verweiblichung“ des Parlamentarismus im Übergang zu modernen Massendemokratien im endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in denen auch proletarische Interessen erstmals Eingang in die politischen Systeme fanden.