Am Donnerstag, den 15. Oktober 1975 traten elf Sprecher_innen der algerischen Arbeitsmigrant_innen vor das Verwaltungsgebäude des Gaskombinats Schwarze Pumpe. Sie forderten neben einer Lohnerhöhung für alle Arbeiter_innen, die Überarbeitung der Wohnheimordnung sowie sich selbst vertreten zu können. Alle Forderungen wurden abgelehnt oder an andere Instanzen verwiesen. Daraufhin legten alle rund 500 algerischen Arbeiter_innen ihre Arbeit nieder. Als auch am Montag niemand zur Arbeit erschien, machten die Verantwortlichen weitgehende Zugeständnisse. Der Historiker Harri Waibel bezeichnet diese Vorkommnisse in den 1990ern als „ersten erfolgreichen Streik in der Geschichte der DDR“(Harry Waibel, 1995).
Ausgrenzung und Paternalismus — Vertragsarbeiter_innen in der DDR
Dass die DDR Arbeitende anwarb ist wenig bekannt. Die massenhafte Migration von DDR-Bürger_innen nach Westdeutschland führte zu einem Arbeitskräftemangel, der durch die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland ausgeglichen werden sollte. Die DDR legte als erster RGW-Mitgliedsstaat Entwürfe zur grenzüberschreitenden Arbeiter_innenanwerbung vor, die jedoch zunächst abgelehnt wurden, da Parallelen zum sogenannten westdeutschen Gastarbeitersystem vermieden werden sollten. Diesem sprach man eine lückenlose Kontinuität mit dem NS-Zwangsarbeitssystem zu.
So schreibt das Zentrum der Migrationsforschung in der DDR in ihrer Schriftenreihe „Fremdarbeiterpolitik im Imperialismus“ über die Arbeitsmigration der Bundesrepublik: „Als sei Nürnberg nie gewesen, als wäre nie völkerrechtlich die Zwangsarbeitspolitik des deutschen Imperialismus verurteilt worden, werden seit Mitte der 50er Jahre durch das Monopolkapital der BRD und seinen Staat die reaktionären Traditionen imperialistischer Fremdarbeiterpolitik fortgeführt. Vorgenommene Modifizierungen können nicht das Wesen dieser Kontinuität überdecken“[1]
Eine der Legitimationsstrategien der DDR-Regierung für die Anwerbung von Arbeiter_innen funktionierte über die Inszenierung dieser als Solidaritätsaktionen. So wurde die Einreise von Arbeiter_innen aus zum Beispiel afrikanischen Staaten medial als Beweis für die internationale Solidarität unter sozialistischen Bruderstaaten vermittelt. Der Aufenthalt der Arbeitenden sollte eine praktische und ideologische Ausbildung beinhalten, jedoch nach vier Jahren strikt beendet werden, sodass sie, so die offizielle Erklärung, ihre Fähigkeiten in die Stärkung des Sozialismus in ihren Herkunftsländern investieren konnten.
Diese paternalistisch-kolonialrassistische Legitimationsstrategie ermöglichte es der DDR das sogenannte Rotationsprinzip rigoroser durchzusetzen als in der Bundesrepublik. Das bedeutete: Arbeiter_innen sollten nur für einen begrenzten Zeitraum von meist vier Jahren in der DDR arbeiten. Heiraten war nicht vorgesehen, sowohl das Ministerium für Inneres der DDR als auch die Regierungen der Entsendeländer, mussten diesen zustimmen. In der Praxis bedeutete dies, dass Ehen zwischen Arbeiter_innen aus europäischen Entsendeländern wie Polen und DDR-Bürger_innen zwar oft erlaubt, Ehen zwischen deutschen und algerischen Paaren jedoch von DDR-Seite blockiert wurden. Dies galt auch dann, wenn migrantische Arbeitende Kinder mit DDR-Bürger_innen bekamen.
Im Zuge der sogenannten Wiedervereinigung beider deutscher Staaten wurden legale Möglichkeiten gesucht, die sich zu dem Zeitpunkt in der DDR aufhaltenden Arbeitsmigrant_innen abzuschieben. Verträge wurden kurzerhand gekündigt und einige Migrant_innen versuchten nach einer Flucht nach Westdeutschland, Asyl zu beantragen und dadurch einen sicheren Aufenthalt zu erlangen. Andere Arbeitsmigrant_innen konnten durch eine Selbstständigkeit ihren Aufenthalt sichern und eröffneten sowohl kleine Imbisse, als auch große Import-Export-Zentren. Teilweise zogen sozialistische Entsendeländer wie China, Kuba und Nordkorea ihre Arbeitenden selbst ab.
Zwischen Ausbeutung und Ausweisung — migrantische Arbeiter_innen in der BRD
Nur drei Jahre vor dem Streik der algerischen Arbeitenden in der DDR schreiben migrantische Arbeiter_innen in Frankfurt am Main „Wir haben die Wahl zwischen Ausbeutung und Ausweisung“ auf ihre Transparente. Die Protestierenden forderten unter dem Motto „Wir sind keine Sklaven!“ die Legalisierung von Arbeitenden aus der Türkei. Nicht nur der Aufenthalt der Illegalisierten war gefährdet; Arbeitgeber bezahlten ihnen nur den halben Lohn, machten keine Sozialabgaben und erlaubten keine Pausen. Migrantische Kämpfe in der BRD und der DDR sind nicht teil deutsch-deutscher Geschichtsschreibung. Die wilden Streiks der 60er, 70er, die Hausbesetzungen und Demonstrationen, damals noch durch Medien und Politik diskreditiert, sind heute weitestgehend in Vergessenheit geraten. Nur wenige Widerstände waren wirksame Medienspektakel wie der Fordstreik von 1973, bei dem 10.000 türkische Arbeitsmigrant_innen die Arbeit niederlegten. Verschiedene Faktoren haben die Unsichtbarkeit der Proteste begünstigt: Internationale Aufmerksamkeit für Streiks und Proteste von Arbeitsmigrant_innen waren von Seiten der Regierung sowohl für die BRD, als auch die DDR nicht gewollt. Die Entsendeländer reagierten nicht selten mit politischen Konsequenzen (wie etwa der Abzug aller algerischen Arbeiter_innen in der DDR auf Grund von rassistischen Überfällen). Die Proteste machten zudem untragbare Arbeitsbedingungen sichtbar, die in Zeiten des Kalten Kriegs politisch gut nutzbar waren. Der Vorwurf der DDR, das westdeutsche Gastarbeitersystem weise eine lückenlose Kontinuität zur NS-Zwangsarbeit vor, wurde auch Linken in der Bundesrepublik erhoben, wenn etwa auf die Wohnbedingungen der Arbeitenden hingewiesen wurde. Der VW-Generaldirektor in Wolfsburg reagierte pragmatisch, indem er alle Betriebsabteilungen bat, Worte wie Lager und Baracke zu vermeiden: „Das Wort Lager könnte Assoziationen hervorrufen, die wir im allseitigen Interesse vermeiden wollen“.
Widerspenstige Praktiken
Die Suche nach spektakulären migrantischen Streiks und Protesten verdeckt noch heute eine kontinuierliche Geschichte von eigen-sinnigen Praktiken gegen die absolute Vereinnahmung von Arbeitsmigrant_innen in beiden deutschen Staaten. Dabei sind es vor allem die alltäglichen Widerstandspraktiken und eigensinnigen Handlungen, die es sich lohnt, in den Blick zu nehmen. In der DDR war das Recht zu streiken seit 1968 nicht mehr verfassungsrechtlich verankert. Nach der Zerschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 gingen die Streiks in allen Betrieben zurück. Für Arbeitsmigrant_innen konnnte widerständiges Verhalten nicht nur den Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Gefängnisstrafe bedeuten. In der DDR waren jegliche Arbeitsverträge an den Aufenthaltsstatus geknüpft, sodass die Abschiebung von widerständigen Arbeitenden die Regel war. Trotzdem dokumentiert der Werkdirektor des Gaskombinats Schwarze Pumpe im November 1974, wie algerische Arbeiter_innen die Abschiebungsdrohung umkehren. Algerische Arbeiter_innen hatten die Möglichkeit ihren Lohn teilweise direkt an ihre Familien in Algerien transferieren zu lassen. Die Kombinatsakten des VEB in Schwarze Pumpe dokumentieren, wie die Transferzahlungen monatelang nicht an die Familien der Arbeitenden ausgezahlt wurden. Als Reaktion darauf drohten sie prompt selbst mit der Rückreise. Das setzte die Kombinatsleitung immer mehr unter Druck. Während die Kombinatsakten sonst ausschließlich Defizite der ideologischen Erziehung der Arbeiter_innen als Grund für widerständiges Verhalten anführen, wurde nach dieser Drohung plötzlich ein anderer Ton angeschlagen. Im Kombinatsbericht über die Arbeitenden wurde, um die Forderungen zu erklären, die persönliche Geschichte eines Arbeiters angeführt, dessen Familie wegen der verspäteten Zahlungen obdachlos wurde.
Und auch dann, wenn die DDR ihre Arbeitenden abschob, ging auch dies nicht immer widerstandslos von statten. Verfrühte oder erzwungene Rückreisen mussten selbst bezahlt werden, jedoch ging dies nur, wenn die Arbeitenden sie auch zahlen konnten, sodass es der DDR nicht immer gelang, die Arbeitenden ihre eigenen Abschiebungen zahlen zu lassen. Berichte darüber, wie Arbeiter_innen Möglichkeiten fanden, restriktive Wohnheimsregelungen anzugreifen oder sich gegen rassistische DDR-Bürger_innen zu wehren, häufen sich in den Akten. Detaillierte Beschreibungen der Kombinatsleitung „zur Lage der ausländischen Arbeiter im VEB“ dokumentieren, wie ein algerischer Arbeiter 1974 die Krankenhauseinrichtung zerstört und schreit „Ihr seid alle Rassisten!“. Sie beschreiben, wie algerische Arbeiter_innen das Küchenpersonal des Kombinats mit Essen bewerfen, um sich gegen ihre rassistischen Beleidigungen zu wehren.
Alltägliche Widerstandspraktiken sollen nicht unreflektiert gleichgesetzt werden mit militanten Protesten. Auch soll der Begriff des Widerstands nicht aufgeweicht und dadurch unbrauchbar gemacht werden.
Doch ist es eben aus der prekären Position, in der sich migrantische Arbeiter_innen aufenthalts- und arbeitsrechtlich befanden und befinden, folgerichtig, medienwirksame Proteste mit alltäglichen Widerstandstaktiken zusammen zu denken. Erst dadurch lässt sich der Blick öffnen für die Geschichte(n) all der migrantischen Kämpfe, die zu erzählen, längst überfällig ist.
Irina Nekrasow ist Kulturwissentschaftler_in und bei kanak attak
Leipzig aktiv.
[1] Elsner, Lothar (1979): DDR-Literatur über Arbeiterwanderungen und Fremdarbeiterpolitik im Imperialismus: Forschungsstand und Bibliographie. In: Ausländerbeschäftigung und Fremdarbeiterpolitik in kapitalistischen Ländern Europas nach dem 2. Weltkrieg (Fremdarbeiterpolitik im Imperialismus Bd. 5)