»Es geht nicht um Tüchtigkeit, sondern auch um Gelegenheit«
Redaktionsgespräch über Ordnungskämpfe & die Konjunktur des neuen zivilen Ungehorsams
- Rasande Tyskar
- CC BY-NC 2.0
Im Redaktionsgespräch haben wir mit Aktivist*innen von Campact, Deutsche Wohnen & Co enteignen, Students for Future und Welcome United über strategische Herausforderungen, Ordnungskämpfe und die Rolle neuer sozialer Bewegungen diskutiert und gestritten. Eine Langfassung des Gesprächs gibt es auch als Podcast.
pf: Hallo zusammen, stellt Euch doch bitte erstmal kurz vor.
Mario Neumann: Ich bin im Netzwerk Welcome United aktiv. Wir haben mehrere migrantische, antirassistische Paraden und Aktionen organisiert. Was vielleicht den meisten in Erinnerung ist, war unsere Beteiligung an der #unteilbar-Demonstration in Dresden.
Susanna Raab: Wir sind als Deutsche Wohnen & Co enteignen gerade dabei einem Volksentscheid in Berlin durchzuführen. Wir wollen die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen. Wir unterstützen darüber hinaus Mieter & Mieterinnen von Deutsche Wohnen und anderen Wohnungsunternehmen in ihren Mietenkämpfen.
Katharina Stierl: Ich bin Katharina aus Leipzig. Ich bin dort im sds aktiv und außerdem bei Students for Future. Wir planen gerade eine Klimastreikwoche, in der wir die Uni lahmlegen und zu einer Klima-Uni machen, in der nur Veranstaltungen zu Klimagerechtigkeit und Klimakrise stattfinden.
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Christoph Bautz: Ich komme ursprünglich aus der Jugendumweltbewegung und habe vor mittlerweile 15 Jahren mit Freunden die Kampagnen- und Bewegungsorganisation Campact angeschoben. Wir wollen die Potenziale des Internets nutzen, um Menschen den Weg zum politisch Aktivwerden zu ebnen. Wir denken Online- und Offlineprotest zusammen, arbeiten in Bündnisstrukturen mit klassischen Verbänden und mit einem aktionistischen Spektrum.
Katja Kipping: Ich bin Katja Kipping und habe die prager-frühling-Redaktion mitgegründet. Ich bin seit ein paar Jahren Parteivorsitzende von DIE LINKE: Zu meinem politischen Selbstverständnis gehörte immer auch in verschiedenen außerparlamentarischen Initiativen und Bewegungen aktiv zu sein und den Austausch zu suchen.
pf: Susanna, ihr stellt auf radikale Weise die Eigentumsfrage, trotzdem gibt es in der Stadtgesellschaft eine Zustimmung wie kaum je zuvor. Was glaubst Du, woran das liegt?
Susanna: Wir konzentrieren unsere Kampagne auf große Wohnungsunternehmen wie Deutsche Wohnen, Akelius und andere. Wir haben uns ganz bewusst die Deutsche Wohnen als Hauptadressatin ausgesucht. Als größte Vermieterin in Berlin macht sie seit Jahren Schlagzeilen mit Mietsteigerungen, unterlassener Instandhaltung und Nutzung von Modernisierung als Verdrängungsinstrument, um Mieter und Mieterinnen aus ihren Wohnungen rauszukriegen und diese dann teurer vermieten zu können. Es gibt schon seit vielen Jahren Initiativen, die sich in den Siedlungen der DW organisieren und aktiv sind. Daraus entstand die Idee: Lasst uns ganz klar fordern, diese großen Unternehmen zu enteignen. Die Eigentumsfrage haben nicht wir uns ausgedacht, aber das Neue ist der ganz konkrete Vorschlag wie man das auch umsetzen kann.
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pf: Katharina du bist bei Students for Future, hast aber auch Erfahrung mit gewerkschaftlichen Kämpfen. Wie stark unterscheiden sich diese Kämpfe?
Katharina: Ich war vor dem Studium Krankenschwester und habe im Krankenhaus gearbeitet und habe da gewerkschaftliche Kämpfe kennen gelernt, ich habe Organizing gemacht und eine Kampagne zum Thema Entlastung begleitet. Der Unterschied zur Uni: Studierende sind oft nur drei Jahre da. Und es gibt das Auf und Ab mit Prüfungsphasen, in denen es kaum Kapazitäten gibt. Und es kommen immer wieder junge Leute nach. Was ganz anders ist: Wenn man Leute in Gewerkschaften organisiert, hat das unmittelbar mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen zu tun. Bei Students for Future kämpfen wir erst mal für ein Riesenziel: die Klimakrise aufhalten.
pf: Mario, auf Eurer Website findet sich der schöne Slogan: „From solidarity to politics.“ Wie kommt man vom einen zum anderen und was hat das mit Eurer Tour durch Sachsen auf sich?
Mario: Wir wollten dahin gehen, wo Alltagskämpfe und Alltagssolidarität stattfindet und versuchen daraus eine Politik des Alltags zu entwickeln. Wir haben zwei Erfahrungen gemacht. Das eine ist, dass es eine eigene politische Macht dieser alltäglichen Praxen gibt. Also dass man nicht nur sagen kann, da passiert irgendetwas, das muss sich auch in Regierungspolitik oder Parteipolitik übersetzen, sondern es ist selbst eine Kraft, die täglich die Gesellschaft verändert. Migration spielt darin eine zentrale Rolle. Wir würden sagen, dass man ausgehend von diesen alltäglichen Kämpfen auch eine neue Form der Politik entwickeln kann. .. und unsere zweite Erfahrung aus Sachsen ist, dass Sachsen schlimmer und gleichzeitig viel schöner ist, als alle denken.
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pf: Christoph, seit ihr Campact gegründet habt, hat sich einiges verändert. Eure Kampagnen basieren dennoch klassisch auf Massenmobilisierung und den Appell an eine diskursive Vernunft politischer Entscheidungsträger. Wie verändert die aktuelle Zuspitzung gesellschaftlicher Debatten Eure Arbeit?
Christoph: Es gibt natürlich in den letzten Jahren eine massive gesellschaftliche Zuspitzung, in den letzten zwei, drei Jahren hat die autoritäre Rechte einen Lauf. Doch seit einem Jahr kommt die progressive Linke wieder in die Offensive. Für mich war der #unteilbar-Moment im letzten Oktober ein Kipppunkt, aber auch die Proteste um den Hambacher Wald. Wir setzen wieder Themen und hechten nicht nur denen der Rechten hinterher. Im Hambacher Wald hat ein aktivistisches Spektrum sich mit dem Besetzen von Baumhäusern der Zerstörung des Waldes und der Klimazerstörung mit dem eigenen Körper entgegengestellt. Auf der anderen Seite waren sehr viele Menschen bis tief ins bürgerliche Spektrum in ganz kurzer Zeit mobilisierbar. Es gab eine Melange ganz traditioneller Waldspaziergänge und zivilem Ungehorsam — in den Wald gehen, in den man momentan nicht rein darf. Und es gab Hunderttausende, die sich im Netz solidarisiert haben.
Katja: Die vielen Beispiele aus der Praxis bestärken mich in der These, dass es mit eine neue Welle der Zivilcourage und der Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam gibt, die widerständig und trotzdem anschlussfähig sind und an Ankerpunkte im Alltagsverstand anknüpfen. Wenn nur noch Reiche im Stadtzentrum leben können, muss man was machen. Wenn Menschen ertrinken, muss man die retten. Dafür muss man keine Linke sein, sondern das hat mir meine Oma beigebracht. Zur Situation gehört aber auch, dass wir eine gesellschaftliche Polarisierung haben, die Chancen für eine grundlegende sozialökonomische Wende, aber auch für einen Rechtsruck mit einem Erstarken faschistischer Strömungen eröffnet. Mit starken sozialen Bewegungen sind wir etwas besser gewappnet für diesen Kampf.
Christoph: Hambacher Wald oder Fridays for Future haben gezeigt wie schnell sich ein gesellschaftlicher Diskursraum verschieben kann. Das Ambitionsniveau, auf dem Klimapolitik diskutiert wird, orientiert sich nicht mehr allein an vermeintlicher Vermittelbarkeit, sondern an dem, was Klimaforschung als notwendig erachtet. Wenn man das Klimapaket sieht, ist das bitter. 1,4 Millionen sind auf der Straße und dann kommt dieses Klimapaketchen. Deswegen müssen wir an beidem arbeiten: An Bewegung auf der Straße und anderen politischen Mehrheiten in der Regierung, die das übersetzt. Die einzige Regierungskonstellation, wo am Ende progressive Inhalte in großem Umfang durchgesetzt werden, ist am ehesten R2G, G2R oder wie auch immer das dann heißt.
pf: Susanna, Du hast beim Mietenvolksbegehren mit einem schwarz-roten Senat in Berlin verhandelt, jetzt mit einem rot-rot-grünen. Teilst du diesen Optimismus?
Susanna: Man muss sehen, dass unsere Initiative gerade Aufwind erfährt und die Mietenbewegungen in den letzten Jahren enorm gewachsen sind. Jetzt an eine rot-rot-grünen Koalition so eine Forderung zu stellen, ist eine andere Situation als beim Mietenvolksentscheid. Das merken wir auch an der Reaktion der Parteien. Uns wurde von der Linken ziemlich schnell Unterstützung zugesagt, auch die Grünen haben sich relativ schnell dazu geäußert. Die SPD hat gerade auf ihrem Landesparteitag entschieden, sie machen da nicht mit. Gleichzeitig wollen wir schon noch ein bisschen mehr sehen als Unterstützungszusagen. Als es zum Beispiel um die Kostenschätzung ging, waren wir doch sehr erstaunt, dass aus einem Ressort, das von der Linken geführt wird, so eine hohe Summe genannt wird. Wenn man mit 36 Milliarden kommt, die das kosten soll, dann ist das nicht gerade eine Unterstützung, sondern etwas, das das Volksbegehren als unmöglich erscheinen lassen soll. Jetzt, wo die SPD sich dagegen ausgesprochen hat, wird die Auseinandersetzung noch einmal spannender. Wir erwarten schon auch von der Linken, dass sie klarer Stellung bezieht und auch in Konflikt mit dem Koalitionspartner geht.
Katja: Wir schwanken jetzt im Gespräch zwischen Berliner und Bundesebene. Im Bund brauchen wir auf jeden Fall andere Mehrheiten – und zwar links der Union. Aber das alleine ist keine Garantie, dass Veränderungen durchgesetzt werden. Es gibt tausend Dinge, die das blockieren können. Das beginnt mit dem Beharrungsvermögen der Bürokratie, das geht weiter mit den Koalitionspartnern. Manchmal ist es auch die eigene Bequemlichkeit oder die Angst vorm medialen Sturm. Da gibt es ja tausend Gründe, die gar nicht immer bösartige sein müssen, aber dazu führen, dass eine Regierungsmehrheit noch nicht automatisch zu den notwendigen Änderungen führen. Mein Anspruch an mich und meine Partei ist, das trotzdem zu tun. Das Beste ist immer, wenn es konfliktbereite Bewegungen gibt, die permanent treiben und progressive Kräfte in den Staatsapparaten, die darum wissen, dass sie manchmal unterschiedlichen Rationalitäten folgen aber die gemeinsam über sich hinauswachsen können. Deswegen bin ich Anhängerin des strategischen Ansatzes des „Regierens in Bewegung“. Es gab eine Zeit, kann man ja mal selbstkritisch sagen, mit Blick auf meine Partei, wenn Kritik aus den Protestbewegungen gab, haben wir Energie darauf verwendet, uns dagegen zu immunisieren und das zurückzuweisen. Ich glaube das war ein Fehler. Wir haben daraus wir gelernt.
Mario: Ich muss jetzt mal ein bisschen Salz in die Bewegung-Suppe streuen. Das eigentliche Problem der politischen Linken löst sich daran nicht, sondern es tritt dort eigentlich erst so richtig zutage. Das eine sind die gesellschaftlichen Dynamiken, die zu Diskursverschiebungen führen. Die kommen aber an Grenzen bei den politischen Institutionen. Die eigentliche Gretchenfrage ist: Wie bricht man die Blockade politischer Veränderung durch die politischen Institutionen auf?
Und der andere Fehler liegt bei der Frage, was ist eigentlich politische Macht und wie funktioniert politische Veränderung. Es gibt die Behauptung, dass die Menschen immer auf eine Weise ohnmächtig sind und auf das Handeln der Parteien und Regierungen angewiesen sind. Dann appelliert man, macht Petitionen, mobilisiert zu Demos … und es verändert sich eigentlich nix. Es ist aber genau umgekehrt: Die erfolgreichen Bewegungen und Kämpfe der letzten Jahre sind nicht über die Parlamente, sondern an ihnen vorbei erzielt worden. Der Feminismus, die migrantischen Kämpfe, all das hat sich im Alltag vollzogen.
Katharina: Das sehen wir bei Students for Future auch. Es sind 1,4 Millionen Menschen auf die Straße gegangen und es passiert nichts. Politikerinnen und Politiker nicht auch nur ansatzweise etwas für eine sozialökologische Transformation tun und nur sagen, dass es total super ist, dass die SchülerInnen auf die Straße gehen. Dabei geht es um mehr als Umweltschutz und Klimaschutz, sondern um Klimagerechtigkeit und da fehlen mir einfach von der Politik im richtige Antworten darauf, bisher kommen immer nur leere Phrasen.
Mario: Ich bin ein großer Freund von einer starken linken Partei und von Linksregierungen. Ich glaube auch nicht, dass es da eine Konkurrenz zwischen Bewegung oder Partei gibt. Aber man muss schon die Frage stellen, wie funktioniert Veränderung. Die funktioniert nur, wenn man die Regeln des institutionellen Politikkreislaufs bricht. Wir müssten dafür eine zweite Diskussion führen, die in Deutschland total falsch läuft und auf der Annahme beruht: Neoliberalismus sei die Abwesenheit des Staates. Nein: Staat und Regierung sind aktiver Teil neoliberaler Herrschaft. Die Art ihrer Regierung funktioniert über staatliche UND institutionelle Politik. Und zwar auch über Einbindung und das Mantra, dass man sich an sie zu wenden hat. Auch wenn wir linke Regierungen auf eine Weise gut finden, sollten wir uns nicht daran beteiligen, den Leuten immer wieder zu sagen, dass dies der Weg sei, bloß um sie dann zu frustrieren.
Katharina: Das Beispiel Lausitz ist für mich immer eins, wo Politik versagt. Das heißt auch, dass Linke dort keine richtigen Alternativen bietet. Menschen die dort in der Kohleindustrie arbeiten, den wird auch von Ende Gelände quasi gesagt: „You need a greener Job“. Die wissen aber ganz genau, dass ihre Jobs endlich sind. Die wissen das auch, dass das das bald vorbei ist. Aber die wissen, es gibt dort keine überzeugenden alternativen Pläne und Konzepte. Ich wünschte mir, dass eine Linke das abfängt …
Katja: Ich glaube nicht, dass wir ein Mangel an Konzepten haben. Entscheidend ist: Viele bezweifeln, dass das überhaupt eine Durchsetzungperspektive hat. Wenn ich in der Lausitz über Beschäftigungsgarantiert oder bei meinen Terminen vor dem Jobcenter mit Hartz-IV-Betroffenen über die sanktionsfreie Mindestsicherung rede, dann denken die: „Klingt gut, kriegt ihr aber doch ohnehin nicht durchgesetzt.“ Und, dass wir es gerade nicht durchgesetzt kriegen, nehmen sie dann auch übel, obwohl wir das immer wieder im Bundestag einbringen. Deswegen glaube ich, braucht es schon ein Zusammenspiel zwischen guten Ideen und Konzepten, die dann in eine große Transformationerzählung eingebettet sind und der Möglichkeit einer Durchsetzung. Sonst ist in der Lausitz die Leugnung des Klimawandels psychologisch der einfachere Schritt sich den Tatsachen zu verschließen, als zu hoffen, dass irgendwas durchgesetzt wird.
Katharina: Vielleicht gibt es tolle Konzepte, aber bei den KollegInnen in der Braunkohle kommt das nicht an. Es bleibt ja die Frage, wie kommt man da ran? Die IG BCE ist jetzt nicht gerade eine linke Gewerkschaft. Aber auch da gibt es ja Leute, die empfänglich sind. Es gab Leute, die sich beim letzten Klimacamp in der Lausitz von der IG BCE zum Klimacamp gestellt haben und offen mit den Aktivistinnen und Aktivisten diskutiert haben. Genau dort wünsche ich mir irgendwie eine Verbindung. Wie können wir das denn schaffen, dass hier tatsächlich ein gemeinsames Projekt entsteht. Wie schaffen wir eine richtige Alternative, von Überleitungstarifverträgen oder was auch immer?
Katja: Naja, man könnte eine Beschäftigungsgarantie aussprechen … aber wir diskutieren die ganze Zeit über einen Punkt wo vermeintlich Soziales und Ökologisches der Wahrnehmung nach im Widerspruch stehen. Bei Campact testet ihr ja immer Themen, bevor es zu einem Aufruf wird. Gibt es erfolgreiche Beispiele, wo ihr das zusammenbringt: Soziales und Ökologisches?
Christoph: In unsere Verteilern kommen viele durch ökologische Kampagnen. Es ist eine große Herausforderung sozialpolitische Leuchtturmprojekte zu etablieren. Wir haben ja zum Beispiel #umfairteilen mit initiiert, mit einem Bündnis von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden. Es ist uns aber nicht gelungen das wirklich so runter zu brechen, dass daraus eine Bewegung hervorgegangen wäre. Da haben wir immer wieder Schwierigkeiten. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass wir nicht nur Konzepte haben, sondern Leuchttürme im sozial- und wirtschaftspolitischen Bereich. Wir sollten immer wieder schauen, ist es die Mietenfrage, die Bürgerversicherung reloaded, ist es ein Mindestlohn, von dem man wirklich leben kann, ist es eine andere Rentenpolitik mit Verhinderung von Altersarmut. Wo sind die Leuchttürme im sozialpolitischen Bereich, wo Leute sich dahinter stellen und ein gesellschaftlicher „drive“ entsteht.
Susanna: Noch mal zur Situation im Bundesland Berlin, wo es ja sowohl eine rot-rot-grüne Regierung gibt und wir einen sehr konkreten Vorschlag haben, wie in der Mietenpolitik etwas anders laufen kann. Hier stellt sich ja nicht die Frage, wo sind die Konzepte. Ich sehe in Berlin immer noch nicht so richtig, dass das aufgegriffen und wirklich umgesetzt wird. DIE LINKE könnte jetzt sagen, okay wir gehen da jetzt in den Konflikt mit der Koalition und meinen es Ernst und versuchen das so weit voran zu bringen wie es geht. Woran hapert's da?
Christoph: Man muss doch umgekehrt schon sagen, dass alles was jetzt mit dem Mietendeckel kommt, schon relativ revolutionär ist. Ihr habt nicht eins zu eins Eure Forderung durchgesetzt, aber ihr habt dieses ganze Thema Mieten total auf die Agenda gesetzt und jetzt mit dem Mietendeckel ein Vorbild geschaffen, das in vielen anderen Städten auch aufgegriffen werden kann.
Katja: DIE LINKE Berlin mit der Landesvorsitzenden Katina Schubert hat sich sehr darauf bezogen und es gab einen ganzen Landesparteitag, wo man gesagt hat: Wir wollen genau das. Und man hat das sogar auch noch eingebettet in den Ansatz „rebellische Stadtpolitik“. Was jetzt passiert ist ein Kräftemessen in der Koalition. Und je mehr Konflikte auf der Straße sind, je mehr Zuspruch es für die Forderungen gibt, umso besser sind die Chancen. Natürlich ist es auch so — beim Thema „Mieten“ zum Glück nicht — aber es gibt andere Themen, wo man sagen muss: Da ist DIE LINKE wie jede andere Zusammenkunft von vielen Menschen ein umstrittenes und auch ein umkämpftes Feld mit unterschiedlichen Ansätzen. Bei der Mietenfrage ist es zum Glück nicht so. Was mich umtreibt, ist: So groß die Begeisterung für die Klimafrage ist, es wird ganz schnell eine krasse Gegenbewegung kommen. Erinnert Euch an den Sommer der Migration. Bis zur BILD und zur Bundesregierung waren alle dafür, Geflüchtete willkommen zu heißen. Innerhalb weniger Monate ist das ins komplette Gegenteil gekippt. Ich hatte das Gefühl, jede Talkshow, die ich sehe, ist Teil einer kollektiven Hexenaustreibung. Als ob dieses Gefühl „Ihr seid willkommen“ und „Wir sind für Unteilbarkeit von Menschenrechten“ ausgetrieben werden müsste. Wir müssen aufpassen, dass beim Klimaschutz nicht das Gleiche passiert. Deswegen finde ich spannend, wie kriegst du soziale und ökologische Fragen zusammen. Ich denke an Verkehrspolitik. Wenn du Bus und Bahn ausbauen willst, muss du BusfahrerInnen besser bezahlen. Denn da ist jetzt schon Personalmangel. Wenn mehr Leute fahren sollen, musst Du ÖPNV zum Nulltarif anbieten …
Katharina: Das ist eine Debatte, die ich auch total spannend finde. Im kommenden Jahr steht eine riesige Tarifrunde im Nahverkehr an, wo in allen Bundesländern gleichzeitig gestreikt werden kann. Da sind Students for Future auf jeden Fall dran. Wir hatten am Wochenende ein bundesweites Vernetzungstreffen, wo wir uns dafür entschieden haben, das auch zu unterstützen. Wir haben aber z.B. auch eine Vollversammlung gemacht an der Uni. Da waren 1.400 Studierende. Das war total erfolgreich und wir haben dazu einen Betriebsrat von den Verkehrsbetrieben eingeladen. Der hat uns gesagt, wenn ihr Nulltarif fordert, dann machen meine KollegInnen da nicht mit, weil die alle sagen: Das wird irgendwie bei mir gekürzt. Seitdem reden wir stärker von Ausbau und verbesserten Arbeitsbedingungen.
Mario: Mich überzeugt diese Diskussion nicht, angesichts dessen, was gerade passiert. Tatsächlich noch mal das Beispiel Deutsche-Wohnen-enteignen, wo man sagen kann: Es gibt eine große Mehrheit und die übersetzt sich nicht automatisch in Politik. So einfach ist Demokratie nicht. Die zentrale Frage ist die der politischen Durchsetzung. Wir alle müssen uns glaube ich die Frage stellen, ob wir letztlich deswegen auch nur mittelmäßig erfolgreich sind, weil die Leute sagen: Es bringt nichts. Die einen sagen: Unterschreibt unserer Petition! Die nächsten: „Geht wählen!“ Wir sagen: „Demonstriert mit uns!“ Ihr sagt: „Geht zum Volksentscheid!“ Und wir alle tun darin die Aufgabe, die man uns lässt. Wir erfüllen das, aber es gelingt keine Antwort auf das wirklich riesige Bedürfnis nach einer substanziellen Veränderung. Das zweite: Es wird die ganze Zeit gedacht: Das und das geht nicht, es geht nur langsam, es geht gar nicht oder die SPD muss erst noch mal reden. Das stimmt alles, aber in Chile hat man das auch 25 Jahre gesagt und innerhalb von zwei Tagen geht auf einmal alles.
Christoph: Die Frage ist, wie sind linke Bewegungen für disruptive Situationen wie der Fukushima-Moment aufgestellt. Als damals eine schwarz-gelbe Regierung den Atomausstieg, so unzulänglich er war, kippte, wurde dies nach Fukushima innerhalb von zwei Monaten zurückgenommen. Das ging ja nur, weil es in dem Moment eine machtvolle Anti-Atom-Bewegung gab, welche die Bevölkerung hinter sich hatte, die auf die Straße drängte und die Regierung in die Enge trieb. Umgekehrtes Beispiel ist die Finanzkrise, wo es ja auch Occupy gab, aber eben nicht die breite Bündnisfähigkeit. Beim Thema Finanzmarkt gab und gibt es extreme Akteursarmut und gerade keine ausdifferenzierte Bewegung. Es hat große Debatten gegeben, politisch geändert hat sich nichts. Das zeigt nochmal: Wir müssen sehr stark bündnisfähig denken. Wir müssen für disruptive Momente aufgestellt sein.
Susanna: Ich finde Unterschriften für ein Volksbegehren sammeln auch nicht die geilste Aktivität, die ich in meinem Aktivistinnenleben gemacht habe. Aber ich glaube tatsächlich, wir sind das erste Mal in der Situation, wo Immobilieninvestoren ernsthaft Angst haben, weil es an ihre Gewinne geht. Weil in Frage gestellt wird, dass mit einem Grundbedürfnis von Menschen so viel Rendite gemacht wird. Weil es in Berlin unglaublich viele Menschen betrifft und immer mehr Leute auch sehen, dass es tatsächlich eine reale Chance gibt, dieses Verhältnis umzudrehen. Viele Leute sagen ja, es geht nicht nur darum denen ein bisschen weniger Gewinne zu geben, sondern es geht darum, dass wir den Wohnungsmarkt komplett umdenken müssen. Dass wir ihn als Gemeingut verstehen, über das wir selbst mitentscheiden. Es muss nicht immer um die Straße gehen, ich glaube es gibt viele verschiedene Formen. Die können auch ineinander greifen. Wir müssen das noch viel verschränkter denken.
Mario: Trotzdem: Es ist schon was Neues, dass sich in den Unterbrechung auf der Straße ein neuer politischer Raum öffnet. Ich würde dafür plädieren, dass man dieses Moment, die Notwendigkeit von Unterbrechung mitdenkt. Man kann das für 1968 zeigen, man kann das in den jüngsten Aufständen in Spanien und Griechenland und jetzt in Chile sehen: Es gibt immer auch das Moment, sich über die Linke und über die Gewerkschaften hinweg zu setzen. Das ist total wichtig dafür, dass diese Aufbrüche passieren. Ich war letztes Jahr in Paris. Die Wut auf die Gewerkschaften ist riesig gewesen. Man hat gesagt: Ihr habt uns 15 Jahre erzählt, wir sollen das und das machen und am Ende habt ihr eigentlich nur euren politischen Erfolg, eure Karrieren, eure Jobs gesichert. Für uns hat das alles nichts gebracht. Diesen Punkt muss man irgendwie mitdenken. Toni Negri hat ein Tagebuch zu den Gelbwesten geschrieben, weil er in Paris lebt. Er sagt: Die Lehre aus den ganzen Protesten der letzten Jahre ist: Die Leute auf der Straße sind nicht wütend, sie sind schlau. Das Einzige was funktioniert ist, dass man die Mächtigen zwingt.
pf: Wir nähern uns dem Ende. Ich glaube strategische Gemeinsamkeiten und Differenzen sind deutlich geworden. Zum Abschluss zur Taktik: Was wird für Eure politischen Kontexte im nächsten Jahr relevant?
Christoph: Was passiert mit der GroKo. Wir haben noch zehn Jahre, um diese Klimakrise in den Griff zu bekommen. Zwei Jahre Stillstand wären dramatisch. Deswegen heißt das für mich ganz stark auf die SPD einzuwirken, diese GroKo zu verlassen - und den Weg frei zu machen, die beim Klimaschutz ernst macht.
Katharina: Bei Students for Future sind wir vor allen Dingen dabei, die Bewegung weiterhin größer zu machen, die Gewerkschaften einzubinden. Ich würde sagen, bei mir ist die Frage von politischen Mehrheiten erstmal noch nicht die primäre Frage.
Susanna: Bei uns sind es verschiedene Baustellen. Einerseits der Mietendeckel, der jetzt kommen wird. Den sehen wir auch als Erfolg der Mietenbewegung und gleichzeitig ist es auch der Versuch, unseren Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Da ist schon die Frage: Wie gehen wir damit weiter um? Der Mietendeckel ist ein Schritt nach vorne, aber auch eine zeitlich begrenzte Maßnahme. Wir bleiben deswegen bei der Vergesellschaftungforderung. Gegen uns formiert sich zudem gerade eine massive Gegenkampagne auf Seite des Kapitals, also der Immobilienlobby. Der Verband der Wohnungs- und Immobilienunternehmen sammelt gerade 1,6 Millionen Euro für eine Kampagne gegen den Mietendeckel und gegen uns. Gerade wegen der sich stark formierenden kapitalstarken Gegenmobilisierung find ich auch noch mal eine wichtige Frage: Wie wird sich Rot-rot-grün dazu verhalten.
Mario: Welcome United ist ja keine Organisation, sondern ein Bewegungsnetzwerk. Die Leute darin machen ganz unterschiedliche Sachen. Was weiterhin die Frage bleibt, ist diese ganze nationalistische Kiste, die nicht mehr der Realität entspricht und auf die es endlich mal eine politische Antwort braucht. Es bleibt die Frage nach sozialen Rechten und politischen Rechten jenseits der Staatsbürgerschaft. Wir leben schließlich in einem Land, wo Millionen Menschen diese Staatbürgerschaft nicht haben und in Städten, wo teilweise 20-30 Prozent der Bevölkerung sind. Ich glaube, wir haben auch eine neue Erfahrung mit den Klimaprotesten und den jüngsten Aufständen, die uns was sagt. Nämlich wie schnell es manchmal gehen kann und, dass — wie Machiavelli sagt — es nicht immer um die Tüchtigkeit geht, sondern auch um die Gelegenheit.
Moderation & Aufzeichnung: Stefan Gerbing
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