Hilflos, kopflos, wehrlos – so der prägende Eindruck des bisherigen Agierens bzw. Schweigens der Gewerkschaften angesichts der Krise. Wirtschaftsinteressen diktieren unangefochten die Agenda des globalen Krisenmanagements, in dem jetzt die Weichen neu gestellt werden. Gewerkschaften spielen auf dieser Bühne keine Rolle. Im Folgenden sollen die absehbaren Folgen für die Lohnabhängigen, die bisherigen Reaktionsmuster der Gewerkschaften sowie mögliche strategische Auswege beschrieben werden.
Folgen der Krise für die Lohnabhängigen
Im stichwortartigen Überblick ergeben sich die folgenden Risiken für ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften, die sich gerade von einer Finanzmarkt- zu einer Weltwirtschaftskrise auswächst. In welchem Ausmaß was eintreten wird, inwieweit das internationale Krisenmanagement Folgen dämpft oder ihr Eintreten verzögert, kann derzeit niemand ernsthaft abschätzen. In welchen Dimensionen auch immer, zu erwarten sind:
· Rationalisierungen, Restrukturierungen und Firmenzusammenbrüche im Finanzdienstleistungssektor als unmittelbare, früher oder später einsetzende Krisenfolge
· Arbeitsplatzabbau und Rationalisierung im Öffentlichen Dienst, weil die öffentlichen Haushalte unter starken Druck geraten werden in Folge von
- Ausgabenexplosion wegen Krisenstabilisierungskosten
- Steuerausfällen durch Rezession und, wenn‘s ganz verrückt wird, auch noch durch Steuersenkungen,
- Zuschussbedarf aufgrund windiger Geschäftsmodelle á la cross-border-leasing
- Zuschussbedarf aufgrund von Spekulationsverlusten der Landesbanken
- Zinsbelastungen aus langfristigen Verschuldungen
· Folgen für die sozialen Sicherungssysteme, wo die Einnahmeseite entsprechend abrutschen wird, wo teilweise auch spekuliert wurde; Sparmaßnahmen in der Daseinsvorsorge möglicherweise mit punktuellen Ausnahmen wie Bildungsbereich
· Kurzarbeit, Personalabbau, Rationalisierungen und Restrukturierungen, mittelfristig sicher auch Firmenzusammenbrüche in den exportabhängigen Wirtschaftsbereichen wegen Kreditklemme und globalem Nachfragerückgang
· Öffentliche Investitionen werden in der Breite zurückgefahren, in Teilbereichen wie energetischem Sanierungsbedarf, erneuerbare Energien jedoch ausgeweitet. Unter dem Strich Arbeitsplatzverluste
· Die private Binnennachfrage wird stark rückläufig sein wegen Rezession und Krisenangst. Zu befürchten sind auch größere „Marktbereinigungen“ (Firmenzusammenbrüche) in Branchen, die stark vom privaten Konsum abhängen, wie der Einzelhandel.
· In vielen sozialen und kulturellen Bereichen, in (Sport-)vereinen, Stiftungen und Projekten, die sich zunehmend von Sponsoren abhängig gemacht haben oder gemacht worden sind, wird es zu Kürzungen kommen mit Folgen für die jeweiligen Ziele und die Beschäftigten.
· Es ist ein erheblicher Anstieg der Erwerbslosigkeit zu erwarten, der noch eskaliert wird, wenn weitere Arbeitszeitverlängerungen durchgesetzt werden sollten.
· Schon jetzt sind befristet Beschäftigte und LeiharbeiterInnen die ersten Opfer der Krise. Man würde ja „nur“ Zeitverträge auslaufen lassen, Zeitarbeit zurückfahren, keine Neueinstellungen vornehmen und ausgelagerte Aufträge wieder zurückholen. Krise in der Leiharbeitsbranche. Das Muster des Sozialabbaus und der Prekarisierung im Aufschwung droht sich um so stärker im Strudel nach unten zu wiederholen.
Auf diese Weise werden in allen ökonomischen Sektoren, die einen Firmen abstürzen, die stärkeren werden sich durchsetzen, einen Produktivitätssprung machen und den Boden für den nächsten Konjunkturzyklus bilden. Diese Marktbereinigungsprozesse werden über kapitalistische Konkurrenz auf allen Ebenen vonstatten gehen, zu einem wesentlichen Teil wieder über die Konkurrenz um den Preis der Arbeitskraft. D.h. mit dem Argument des ökonomischen Überlebens, d.h. der Androhung des Verlusts der Arbeitsplatzes werden Lohnabhängige in allen Branchen und weltweit in eine neue Runde der Konkurrenzkämpfe getrieben.
Die Gewerkschaften: wie 1929?
Die Gewerkschaften stehen dem Geschehen eher paralysiert gegenüber. Ist es schon in Aufschwungzeiten nicht gelungen, die neuen kapitalistischen Rahmenbedingungen durch neue Kampfformen und neue gewerkschaftliche Aufstellungen entsprechend den neu sortierten kapitalistischen Strukturen einzudämmen, kann dieser Mangel in der nun aufziehenden Krise zum Fiasko der Gewerkschaften werden. Viele Vergleiche mit 1929 sind fragwürdig, nur die Parallele hinsichtlich des Reaktionsmusters der Gewerkschaften ist leider höchst plausibel.
Bisherigen „Reaktionsmuster“ von ver.di, ähnlich bei fast allen Gewerkschaften:
· Die Organisation betreibt im wesentlichen business as usual. Wie gehabt Riesendebatten bei kleinsten Eingriffen in die innergewerkschaftliche Macht- und Ressourcenverteilung (Matrix) – mitten im aktuellen Geschehen – ein déjá-vu, für jeden, der einmal Protokolle von Gewerkschaftssitzungen oder Gewerkschaftszeitungen von 1929 und 1930 gelesen hat.
· Suche nach Auswegen aus der Gewerkschaftskrise durch Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Managementmethoden, erklärtermaßen ohne Bezug auf die äußere Wirklichkeit und die Besonderheit einer Gewerkschaft ( aktuell Papier Chance 2011[1]), gescheiterte Programmdebatte in ver.di
· In den ersten Wochen nach dem Crash keine politische Reaktion der Organisation als Ganzes, sattdessen wenige Pressemitteilungen aus dem Finanzdienstleistungsbereich von ver.di, in denen eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte gefordert wird – Ansätze die inzwischen von vielen Regierungen und dem IWF längst getoppt werden.
· Wirtschaftspolitische Positionierungen mit der Aussage: mit unserem 40 Mrd. Programm wäre das nicht passiert. Handlungsschwerpunkt Konjunkturprogramm für Deutschland jetzt! (s.u.)
· Rückzug aus den gewerkschaftlichen Ansätzen in der Weltsozialforumsbewegung (fast keine Unterstützung für ESF – Malmö trotz Gewerkschaftsrats-Beschluss), ähnliche Besorgnisse bei der IG Metall, Streichung von Globalisierungsseminaren auf Bundesebene
· Auf einem Treffen der wenigen verbliebenen Gewerkschaftshistoriker Ende Oktober 2008, also Mitten in der Krise, wird über Jubilarehrungen geredet, aber kein Wort über die Politik der Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise 1929 ff verloren, die sie letztlich die Existenz gekostet hat
· Von dezentralen Initiativen abgesehen, keine Ansätze für Mobilisierungsstrategien und keine erkennbaren Interventionen für unmittelbare Lohnabhängigeninteressen in der aktuellen Debatte[2] –Unwidersprochen sind die Börsenkurse öffentlicher Indikator für die Angst. Als schützenswerte Opfer finden sich „die Wirtschaft“, Handwerksbetriebe und Mittelstand und vor allem die Sparer auf der Bühne - ArbeitnehmerInnen nicht.
Die gewerkschaftliche Tarifpolitik droht vollends in die Defensive geraten. Die ersten Kollateralschäden der Krise haben wir bei der IGM vor dem Auftakt zur Tarifrunde erlebt, wo angesichts der Mobilisierungs- und Streikschwierigkeiten vor dem Hintergrund von Kurzarbeit und verlängerten Werksferien angeboten wurde, die 8%-Forderung auf 20 statt auf 12 Monate zu beziehen oder im Bankenbereich, wo ver.di aus ähnlichen Motiven eine Art Moratorium für die Gehaltstarifrunde angeboten hat. Zu befürchten ist, dass wieder betriebliche Standortbündnisse zu Lasten Dritter (Lohnabhängige in anderen Betrieben/Ländern der Branche, befristet Beschäftigte, Prekäre) die Antwort sein wird.
Gewerkschaften, denen man zwar abnimmt, das Richtige zu wollen (Zustimmung in Meinungsumfragen), die aber keine andere Antwort (und keine Vision) haben, als den Rückzug mit korporatistischen Bündnissen abzusichern, werden Mitglieder verlieren. Die Apparate werden so in eine dramatische Krise geraten – auch das eine Parallele zu 1929 ff, wo der ADGB von 1929 auf 1930 ein Drittel seiner Mitglieder verlor, Abbau und Gehaltskürzungen (-20%) beim Personal vornehmen musste und die Ausgaben für Arbeitskämpfe drastisch reduzierte. Die Zahl der Streikaktionen sank von 1929 bis 1931 um ein Drittel, die Zahl der Streikbeteiligten um 75%[3] - dies natürlich vor dem Hintergrund einer durch die verheerende Brüningsche Wirtschaftspolitik eskalierten Wirtschaftskrise. Die Interventionen heute sind immerhin kompetenter. Die bisherige Rolle der Gewerkschaften in der Krise ist beängstigend ähnlich.
Auch was die derzeit auf allen öffentlichen Kanälen geführte gesellschaftliche Debatte über die Krise betrifft, gelingt es den Gewerkschaften nicht, die affirmativen ideologische Kriseninterpretationen, nach dem Muster „ein paar charakterlose Gesellen im Finanzbereich..“ oder „ nur eine Vertrauenskrise auf den Märkten“ zu kontern.
Die große, sich jetzt entscheidende Frage ist, wer in den nächsten Jahren die Folgen dieser Krise zu tragen haben wird. Wird solchen affirmativen Erklärungen das Feld überlassen, präjudiziert dies die Abwälzung der Krisenlasten auf ArbeitnehmerInnen und sozial Schwache und die Einleitung eines neuen kapitalistischen Zyklus bei gleichen Machtverhältnissen. Nach vergleichbaren Krisen sind immerhin Bismarcksche Sozialgesetze, ein New Deal oder ein Rheinischer Kapitalismus rausgesprungen – so wie die Gewerkschaften bisher agieren und so wie die Kräfteverhältnisse heute aussehen, wird dergleichen diesmal nicht gelingen.
Sackgasse Nationalkeynesianismus
Die fast einzige gewerkschaftliche Argumentations- und Handlungsebene ist die Intervention auf der Ebene des Mitdiskutierens in der Wirtschaftspolitik. Grund der Krise ist in der vorherrschenden Lesart das Versäumnis einer nachfragestärkenden nationalen Wirtschaftspolitik. Der gigantische Börsencrash mit seinen absehbaren Auswirkungen auf die Realökonomie sei nicht der eigentliche Krisengrund, sondern nur noch dazu gekommen und diene der Politik jetzt als Ausrede für ihr eigentliches Verschulden, im Aufschwung keine nachfrageorientierte Politik betrieben zu haben.
Der Vorwurf richtet sich an Arbeitgeber (Dumping in der Tarifpolitik) und Staat. Beleg ist die viel zitierte Grafik, in der die Kurve des privaten Konsums notorisch unterhalb der BIP-Kurve verläuft.
Natürlich ist es Ziel von Gewerkschaften, die Beschäftigten-Einkommen über Politik und Tarifpolitik zu verbessern. Dieses Ziel verfolgen Gewerkschaften nicht um einer volkswirtschaftlichen Lehre willen, sondern als Ausdruck der Lebensinteressen der Lohnabhängigen. Wenn sich plausibilisieren lässt, dass dies auch in einem fiktiven gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt, dann mag das als Hilfsargument nützlich sein. Gewerkschaften dürfen sich aber nicht davon abhängig machen, ob Arbeitgeber oder Regierungen, sich dieser Auffassung anschließen und eine Politik der Nachfragesteigerung als im gesamtgesellschaftlichen, also auch in ihrem Interesse liegend akzeptieren – und wenn sie das nicht tun, nur anzuklagen statt Gegenmacht zu organisieren.
Wie viel Nachfragestärkung bzw. Verbesserung bei Löhnen und Arbeitszeit möglich ist, hängt zuletzt immer von der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit in der Tarifpolitik mit der ultima ratio des Streiks ab. Auch die Durchsetzung politischer Forderungen wie Mindestlohn oder Konjunkturprogramm hängt zwar mittelbar, aber letztlich unausweichlich davon ab. Die genannte Graphik ist daher nicht nur als zutreffende Kritik der Politik zu lesen, sondern als Lernfrage an die eigene Adresse: Warum haben wir es selbst im Aufschwung nicht geschafft, eine Reallohnsicherung durchzusetzen, warum wurde die Arbeitszeit verlängert statt sie zu verkürzen, warum konnten wir die Agenda-Politik von Rot-Grün ff nicht verhindern? Die Nicht-Beantwortung dieser Fragen ist eine schwere Hypothek für das was jetzt kommt.
Von unterschiedlichen Einschätzungen der bei den Gewerkschaften vorherrschenden nationalkeynesianischen Argumentation bräuchte kein Aufhebens gemacht zu werden, wenn sie nur ein, wenn schon nicht überzeugendes, so doch nützliches Hilfsargument wäre. Indem sie aber das Problem der Gewerkschaften vor allem auf der Ebene ihrer wirtschaftspolitischen Überzeugungsfähigkeit festmacht, behindert sie die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Gründen der gewerkschaftlichen Schwäche. Der Lösungshorizont des Nationalkeynesianismus ist im Grunde: die Beschäftigteninteressen bleiben auf der Strecke, weil die Gegenseite sich weigert, den volkswirtschaftlichen und damit letztlich auch ihren eigenen Nutzen in einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik zu sehen.
Zu befürchten ist allerdings, dass die Gegenseite aus ihrer Interessenlage bisher gute Gründe hatte, das nicht einzusehen. Denn Tarifdumping und Agenda-Politik haben zum einen die Wettbewerbsbedingungen des von Deutschland aus operierenden Kapitals enorm verbessert (und auch die Chance verbessert, als Gewinner zulasten anderer Wettbewerbsräume aus dieser Krise hervorzugehen) und zum anderen eine Umverteilungsorgie von unten nach oben möglich gemacht.
Das alles hätte die Gegenseite nicht gehabt, wenn sie sich von den Gewerkschaften eine nachfrageorientierte Politik hätte aufdrängen lassen. Denn Nachfragepolitik wäre nicht etwas Zusätzliches zu einem von selbst stattfindenden Aufschwung gewesen[4], sondern sie ist das Gegenmodell zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Keine Agenda, kein Sozialabbau, kein Tarifdumping hätte auch bedeutet: keine Aufholjagd in der globalen Konkurrenz, keine Durchsetzung auf den verschiedenen Märkten und keine Umverteilung von unten nach oben. Ein schlechtes Geschäft für die Gegenseite!
Unter den Bedingungen einer Ökonomie im Sturzflug, bei der es auf der Kapitalseite oft ums Eingemachte geht, kann deren Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis kommen. Wo die wegbrechende Nachfrage ernsthaft die Verwertungsbedingungen besonders der bisher florierenden exportorientierten Branchen gefährdet, werden nachfrageorientierte Programme auch für die Gegenseite interessant, ja sie können geradezu zu einem Standortvorteil in der Krise werden. Da ist das Kaptal ganz pragmatisch und auf einmal gar nicht mehr ideologisch.
Es wird jetzt mitten in der Krise also weniger um das Ob als um das Wie von Konjunkturprogrammen gehen, d.h. um die Frage wer zahlt und wer profitiert. Das Kapital macht sich nicht die gewerkschaftlichen Nachfrageforderungen zu eigen, es setzt gerade in der Krise auf angebotsorientierte Strategien, greift nur partiell, befristet und möglichst zu seinen Konditionen auf nachfrageorientierte Staatsinterventionen zurück.
So wie im Aufschwung das Ob von Nachfrageprogrammen weniger eine Frage guter Argumente als eine Frage gewerkschaftlicher Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit war, so gilt dies auch für das Wie der jetzt anstehenden Konjunkturprogramme. Wem sie wie sehr nutzen und wer sie kurz- und langfristig bezahlt, ist eine Verteilungsfrage, die auch jetzt von der gewerkschaftlicher Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit abhängt.
Wenn nun in der Krise ein keynesianischer Ansatz eine bessere Chance und einen Sinn hat, dann als allgemeiner Ansatz, der nicht in einem Wirtschaftsraum praktiziert wird und in einem anderen nicht. Ein allgemeines Konjunkturprogramm, in Deutschland aufgelegt, würde und sollte die Arbeitgeber hierzulande belasten, ihre Konkurrenten in Frankreich oder anderswo wären zunächst nicht belastet, es sei denn es werden andernorts zeitgleich ähnliche Programme angesetzt. Den Nutzen in Form stärkeren Konsums hätte aber nicht nur das hiesige Kapital, sondern auch seine in Deutschland verkaufenden Konkurrenten. Mindestens müssten die Forderung nach Konjunkturprogrammen zum Bestandteil des europäischen und globalen Krisenmanagements gemacht werden.
Der nationalkeynesianische Ansatz ist der Versuch, eine linke Wirtschaftpolitik aus den Zeiten des rheinischen Kapitalismus unter radikal geänderten Bedingungen fortzuschreiben. Er ignoriert die Realitäten und Erpressungspotentiale des neuen globalisierten Kapitalismus[5]. Er ignoriert, dass sich inzwischen supranationale Strukturen und Regulationen entwickelt haben, die neue Machtzentren bilden. Das aktuellste atemberaubende Beispiel ist, wie sich binnen Wochen globale Handlungsstrukturen der Regierungen und Finanzzentren entwickeln, wo es um die Domestizierung der Selbstdestruktionskräfte des Kapitalismus geht. Es kristallisiert sich, von der EU-Präsidentschaft angetrieben, eine institutionalisierte, europäische Wirtschafts- und Industriepolitik heraus, der IWF soll weiterentwickelt werde im Sinne eines Weltfinanzministeriums, es wird über globale Steuern und Steuerregeln nachgedacht und gut möglich, dass Keynes alte Idee einer Weltzentralbank, die er 1944 in Bretton Woods nicht durchsetzen konnte, jetzt Realität wird –solche Reaktionszeiten auf geänderte Rahmenbedingungen würde man sich auch von den Gewerkschaften wünschen!
Es entstehen neue Machtkonstellationen, die – ohne Gegendruck – dazu führen werden, dass die Folgen dieser Krise bei den Lohnabhängigen im weitesten Sinne abgeladen werden. Eine Restrukturierung der Gewerkschaften, die dieser Dominanz wieder etwas entgegensetzen kann, wird sich in ihrem Selbstverständnis und ihren Politikmustern, z.B. der nationalkeynesianischen Wirtschaftspolitik, aus ihrem Retro-Bezug zum Rheinischen Kapitalismus ablösen müssen, um den Weg frei zu machen für eine Analyse der Gewerkschaftskrise und eine Neuaufstellung der Gewerkschaften in der neuen kapitalistischen Formation.
Strategische Schlussfolgerungen
1. Um den bevorstehenden Herausforderungen gerecht zu werden, reicht es nicht, mitzudiskutieren in den öffentlichen Debatten um Finanz- und Wirtschaftpolitik- und auf Gehör zu hoffen. Wie stark die Krise die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften selbst treffen wird, ist eine Frage von Macht und Gegenwehr. Erforderlich sind breite gewerkschaftliche Diskussionen, deren Ziel mobilisierungs- und durchsetzungsfähige Forderungen und Handlungsansätze sein müssen[6]. Gewerkschaftliche Anliegen müssen mit Druck auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt werden.
2. Die Folgen der Krise werden uns via Politik, via Tarifpolitik in Firmenkrisen und –zusammenbrüchen erreichen und sie werden viele andere wie RentnerInnen, Kranke, Arme, Mittelstand genauso treffen. In der Defensive werden wir überall sein und überall werden wir versuchen müssen gegenzuhalten. Das bedeutet einerseits Bündnisse gegen die Abwälzung der Krisenlasten zusammenzubringen und andererseits die sukzessive Zurückeroberung des politischen Streikrechts.
3. Für politische, überbetriebliche Ziele zu streiken, dürfte unter den kommenden Bedingungen leichter sein (geringere Entsolidarisierungsmechanismen) als für tarifpolitische Ziele zu streiken. Denn hier ist, unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Sturzflugs, die entsolidarisierende Gefahr des Arbeitsplatzverlust besonders hoch, weil sie sich einzelnen Beschäftigten, Beschäftigtengruppen und Belegschaften sehr konkret und existentiell stellt. Die sträflich versäumte Entwicklung branchenorientierter Tarifstrukturen (im Sinne von Flächentarifverträgen) wird kurzfristig nicht nachzuholen sein. Die einzige Chance, sich aus Passivität und Defensive herauszuwinden, besteht in der Politisierung der Tarifauseinandersetzungen, in der Einbeziehung anderer Gewerkschaften und gesellschaftlicher Gruppen, in der Herstellung einer Verbindung zur Dramatik der Wirtschaftskrise, in der Darstellung der volkswirtschaftlichen Absurdität von Lohnzugeständnissen angesichts des ohnehin gefährlichen Rückgangs der privaten Konsums. Kleinreden der Krisenrealität und Vorab-Konzessionen dagegen sind geradezu Einladungen, die Krisenfolgen auf dem Rücken Beschäftigten abzuladen.
4. Der Neoliberalismus ist die Ideologie des finanzmarktgetriebenen globalen Kapitalismus. Die Auseinandersetzung wird (noch) nicht um die Frage Sozialismus oder Kapitalismus gehen, sondern darum, ob die jetzt in der Krise steckende Regulation mit ein paar Korrekturen gegen ihre selbstzerstörerischen Mechanismen fortgesetzt wird, oder ob dem Kapitalismus wirksame soziale Fesseln angelegt werden können.
4.1. Diese Auseinandersetzung wird materiell um die Frage gehen, wie die jetzt nötigen neuen Regulationen aussehen sollen, und zwar nicht nur die der Finanzmärkte (wo die Gewerkschaften mit vielen anderen das Nötige gefordert haben[7]), sondern auch bei Sozialstaatsforderungen wie Mindestlöhnen, Höchstarbeitszeiten, sozialer Sicherung, Arbeits- und Tarifrecht, Wirtschaftsdemokratie, umverteilender Steuerpolitik.
4.2. Und damit zusammenhängend muss der ideologische Streit ausgetragen werden. Derzeit sind rhetorische Distanzierungen vom Neoliberalismus und seinen „Auswüchsen“ mainstream - eine wendehälsische Anpassungsreaktion an die Wut des Publikums! Die Frage, ob der Neoliberalismus wirklich fällt, oder nur ein bisschen abfedert, wird sich symbolisch an der Frage entscheiden, ob seine entscheidenden Protagonisten in Amt und Würden bleiben oder nicht. Ähnlich wie die Eliten des Realsozialismus, müssen die Verantwortlichen für dieses Desaster zur Rechenschaft gezogen werden. Die Hauptprotagonisten der Agenda-Politik zum neuen Führungsduo der SPD zu machen, ist kein Zeichen von Umkehr oder Einsicht. Es ist ein Skandal, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute, die großen Lehrstühle an den Unis personell und inhaltlich neoliberal ausgerichtet bleiben, dass Bahn-Privatisierer Mehdorn einfach weiter machen kann, dass die Kommentatoren, die uns jahrelang mit neoliberalem Trommelfeuer belegt haben, weiter die Zeitungsseiten und Bildschirme bevölkern. Dies ist keine Frage der Abrechnung, sondern symbolischer Ausdruck dafür, ob der Neoliberalismus überwunden ist oder nicht.
5. Diese Krise ist die erneute und späte Chance der Gewerkschaften, sich mit der Gründen ihrer Schwäche auseinander zusetzen, indem sie ihre im Rheinischen Kapitalismus wurzelnden Strukturen und Politikansätze überwinden und sich den geänderten immer globaler funktionierenden Marktstrukturen und –prozessen entsprechend neu sortieren und organisieren. Der Widerstand gegen die Folgen dieser Weltwirtschaftskrise kann nur grenzüberschreitend organisiert werden. Die Forderungen, die es durchzusetzen gilt, müssen von vornherein gemeinsam entwickelt werden. Weil gemeinsame Betroffenheit gemeinsame Lernprozesse ermöglicht, muss in der Krise eine gewerkschaftliche Globalisierung von unten stattfinden – zu unterstützen von allen bisher (zu gering) entwickelten Strukturen wie Dachverbänden, Eurobetriebsräten, Koordinationsstrukturen, gewerkschaftlichen Netzwerke in der Sozialforumsbewegung etc. Gemeinsame Forderungen, gemeinsame, zumindest gleichzeitige Demos und politische Streiks – europaweit und –zumindest symbolisch- weltweit! [8]
In der Krise steht auch die Demokratie auf dem Spiel. Es ist in Analogie zu 1929 mit einer gesellschaftlichen Radikalisierung zu rechnen. Ob es in dieser Radikalisierung einen emanzipatorischen Ausweg (wie nach 1929 in den USA) oder eine nationalistischen, xenophoben Weg in die Sackgasse (Deutschland) gibt, hängt sehr von den Gewerkschaften ab und davon, ob sie einen Weg raus aus Standortkonkurrenz und nationaler Befangenheit hin zu breiter und globaler Solidarität finden.
[1] „..eine Diskussion der politisch-inhaltlichen Ziele .. kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden“ Chance 2011 – Zur Weiterentwicklung von ver.di in den nächsten Jahren, S.1
[2] Neuerdings wird im Bankenbereich und vom DGB die Forderung nach Arbeitsplatzsicherung als Bedingung für Krisenstützung aufgestellt
[3] U. Borsdorf, Geschichte der dt. Gewerkschaften, 1987, S. 394 ff, Peter Jahn, Die Gewerkschaften in der Endphase der Republik 1930 -1933, Bund-Verlag, S. 17 ff
[4] „Der Ende 2004 einsetzende Aufschwung war keineswegs eine Folge der Anfang 2003 vom damaligen Kanzler Schröder verkündeten „Agenda 2010“, es handelte sich vielmehr um einen normalen (!) Konjunkturaufschwung. Ausgelöst wurde er von einem Anstieg der Ausrüstungsinvestitionen, vor allem um verschlissene Maschinen und Geräte zu erneuern. Hinzu kam (!?) ein noch einmal deutlich gestiegener Exportüberschuss“
[5] Dass unter der Bedingung offener Märkte eine innenpolitisch angelegte nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik nicht funktioniert, hat schon Keynes selbst so gesehen: es gebe hier nur geringe Handlungsspielräume „unless they are applied internationally“ (nach Thorsten Schulten, Solidarische Lohnpolitik in Europa, VSA 2004
[6] Erste Ansätze dazu gibt es im ver.di LBZ Baden-Württemberg, Mitgliederrundbrief der Landesleiterin, Diskussionsveranstaltungen in allen Bezirken, Plakatserien, Demo des Bezirks Stuttgart vor Banken,s. www.bawue.verdi.de
[7] Absturz der Finanzmärkte, Sofortprogramm von ver.di, Abt. WiPo, Oktober 2008, S.9f, Finanzmarktkrise: Erste Hilfe und langfristige Prävention, IMK Policy Brief 22.10.2008
[8] Im labour and globalization network der Weltsozialforumsbewegung wird derzeit eine Initiative „Globalize now“ diskutiert – ein Appell von GewerkschafterInnen sich stärker grenzüberschreitend aufzustellen.