Nun bist Du 80 Jahre, lieber Helmut. Deine erste Wahl zum
Bundeskanzler (niemand kann dieses Wort so lustig aussprechen wie Du!)
war die erste politische Fernsehsendung, die ich mir bewusst ansah. Am
1.10.1982 war ich krank und musste nicht zur Schule. Damals gab es nur
drei Fernsehprogramme und vormittags um 10 Uhr wurde eigentlich noch
Testbild ausgestrahlt - es sei denn, im Bundestag geschah etwas wirklich
Wichtiges. Das mit dem Fernsehprogramm hast Du dann schnell geändert
und so erfreute ich mich während meiner Pubertät an Tutti-Frutti und
anderen Highlights der privaten Fernsehsender.
Anfangs fand ich
Dich toll, weil mein Vater sicher war, dass nun der wirtschaftliche
Aufschwung käme und die Arbeitslosigkeit verschwinde. So kam es
natürlich nicht. Während meiner Pubertät emanzipierte ich mich auch noch
von meinem katholisch-konservativen Elternhaus; mein Blick auf Dich
wurde immer kritischer.
Aber trotzdem bliebst Du ein Bollwerk,
wie ich heute weiß. Obwohl Du mit Graf Lambsdoff regiertest, steuertest
Du Dein Land nicht so neoliberal um, wie Reagan oder Thatcher es taten.
Dabei warst du gar kein katholischer Sozialromantiker oder
Herz-Jesu-Sozialist. Dein Antikommunismus war ein Antitotalitarismus,
denn Du wusstest du um den Zusammenhang von sozialer Sicherung, fairen
Löhnen und einer stabilen demokratischen Ordnung. Und so blieb während
Deiner Regentschaft der Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer bei über
50%, die Mehrwertsteuer erhöhtest Du nur moderat und
"Die-Renten-sind-Sicher"-Blüm blieb bis zum Schluss Dein Sozialminister.
Auch
wenn ich Dir heute zum Geburtstag gratuliere, darf ein kritisches Wort
nicht fehlen: Du hast 1985 in Bitburg Waffen-SS-Schergen in eine
versöhnliche Geste einbezogen, das war einfach ekelhaft. Du hast die
Gewerkschaften mit der Änderung des §116 Arbeitsförderungsgesetztes 1986
nachhaltig geschwächt, was heute zu miserablen Löhnen führt. Du hast
das Asylrecht faktisch abgeschafft. Und Du hast die Kosten der deutschen
Einheit über die Sozialversicherungssysteme vor allen den abhängig
Beschäftigten aufgedrückt.
Dennoch war in einem Punkt immer auf
Dich Verlass: Du kanntest die besondere Rolle Deutschlands, warst oft
besonnen gegenüber den europäischen Nachbarstaaten - auch wenn du mit
der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze unnötig lange gezögert hast. Diese
historische Weitsicht ist leider zusammen mit Dir aus dem Kanzleramt
verschwunden. Vor allem Dein großkotziger Nachfolger kannte keine
Zurückhaltung. Gewählt habe ich ihn selbstverständlich nicht,
schließlich - und da bin ich ganz bei Dir - würden wir beide niemals
Sozialdemokraten wählen!
Lieber Helmut, trotz der genannten
Kritikpunkte vermisse ich Dich doch ein wenig. Über viele Jahre gab es
nur Dich als Bundeskanzler. Als du weg warst, wurde der Sozialstaat von
Deinem sozialdemokratischen Nachfolger eingerissen, Deutschland führte
Krieg in der Welt und in der europäischen Union wurden mit Arroganz
deutsche Interessen vertreten. Dir wurde oft - auch von linken Kritikern
- nachgesagt, du seist einfalls- und ziellos. Das stimmt nun wirklich
nicht. Du wusstest, wie wichtig die europäische Integration war, sie war
Dein zentrales Anliegen (die Deutsche Einheit war ja nur ein Geschenk
der "Gechichte" an Dich). Im Kontext der Einführung des Euros nanntest
Du die europäische Vereinigung einmal eine Frage von "Krieg und
Frieden". Ich will dir hier ausdrücklich zustimmen. Trotzdem finde ich,
Du hättest Dich stärker für eine europäische Sozialpolitik einsetzen
sollen, um die Akzeptanz der EU in Europa zu sichern. Als Historiker
wusstest Du doch um den Zusammenhang zwischen einer stabilen sozialen
Ordnung und Akzeptanz der politischen Ordnung. In der nationalen Politik
hattest du darauf ja noch Rücksicht genommen.
Gewählt habe ich
Dich übrigens nie, das hast Du bestimmt auch nicht erwartet. Aber heute
würde ich es mir glatt noch einmal überlegen, wenn Du nochmals gegen die
Schröders, Steinmeiers, Stoibers oder Merkels antreten würdest, die mir
seit Deiner Abwahl zur Auswahl angeboten wurden. In diesem Sinne: Von
Herzen alles Gute, Helmut!