Der GAU im fernen Japan hat auch die deutsche politische Landschaft einigermaßen durcheinander gebracht. Der zeitliche Zusammenfall dieser Katastrophe mit den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ließ eine ungeahnte politische Dynamik entstehen. Die allgemeine Stimmungslage hat den GRÜNEN einen überraschenden Wahlzulauf beschert, während sich die Regierungsparteien gezwungen sahen, ihren noch im letzten Herbst als alternativlos beschworenen Atomkurs zumindest verbal zur Disposition zu stellen. Genützt hat ihnen dieser populistische Schwenk allerdings nichts mehr.
Fast könnte man also annehmen, dass Wahlen doch etwas bewirken. Das wird sich indessen noch zeigen, wenn sich die neuen Kräfteverhältnisse im Regierungshandeln ausdrücken, Hoffnungen und Wünsche zum Machbaren kleingearbeitet werden und sich die Aufregung wieder etwas gelegt hat. Es ist aber deutlich geworden, dass die Ereignisse eine Entwicklung vorangetrieben haben, die sich schon länger abzeichnet, nämlich die Durchsetzung eines neuen hegemonialen Projekts, d.h. einer breiter akzeptierten Vorstellung von einer vernünftigen Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Hegemonieprojekt fokussiert sich vor allem in der grünen Partei.
CDU/CSU, SPD und FDP sind programmatisch wie personell ausgeblutet. Nennenswerte intellektuelle Kapazitäten sind bei ihnen kaum noch zu finden. Beschränkt auf die Verwaltung des gesellschaftlichen Status Quo reduziert sich ihre Politik auf schlichte Machterhaltungsversuche. Bei der Linkspartei sieht das keineswegs besser aus. Das vor allem begründet das bei Wahlen und Meinungsumfragen zum Ausdruck kommende massive Legitimationsdefizit dieser Parteien. Die Frage ist allerdings, ob der Erfolg der GRÜNEN nur einer durch Fukushima verursachten vorübergehenden Konjunktur zuzuschreiben ist oder ob sich hier grundlegende Veränderungen im politischen System abzeichnen. Einiges spricht dafür, dass letzteres der Fall ist.
Die GRÜNEN und ihr politisches Umfeld haben es geschafft, so etwas wie ein alternatives Konzept für die Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft vorzustellen, ein hegemoniales Projekt also, das zunehmend breitere Zustimmung findet. Inhaltlich geht es um eine ökologische Modernisierung des Kapitalismus, mit der dieses Gesellschaftssystem neuen Bedingungen angepasst werden soll. Es ist keine Frage, dass eine „Energiewende“ angesichts der drohenden Klimakatastrophe und eines absehbaren Endes des Ölzeitalters unabweisbar ist. Die GRÜNEN haben sie zu einem zentralen Programmpunkt gemacht und versprechen damit, das Land „zukunftsfähig“ zu machen, wie es so schön heißt. Das überzeugt immer mehr und legitimiert auch die Opfer, die der Bevölkerung für die industriellen Umstellungen abverlangt werden, wenn die Profite der dabei maßgeblichen Unternehmen nicht geschmälert werden sollen. Dazu gehört die Förderung der Elektromobilität ebenso wie eine Reform des Bildungssystems, die die inzwischen auch ökonomisch verheerende dreigliedrige Selektivität wenigstens abmildert. Es gibt auch ein paar Versuche, der massiven Erosion der liberalen Demokratie entgegenzuwirken, z.B. indem die Bevölkerung besser in die Planung infrastruktureller Umbauprojekte eingebunden werden soll, die ansonsten an deren Widerstand scheitern würden. Das Regierungsprogramm der neuen grün-roten Koalition in Baden-Württemberg lässt diese Konturen deutlich erkennen und der künftige Ministerpräsident Kretschmann verkörpert paradigmatisch, was die neue grüne Politik ausmacht: konservative Modernisierung, aber schrittweise, mit Augenmaß und nach Möglichkeit in Abstimmung mit den ökonomisch Mächtigen. Denen gilt es, ihre längerfristigen Interessen deutlich zu machen. Der „Grüne New Deal“ zielt auf einen Modernisierungskonsens, der den Kapitalismus für das 21. Jahrhundert fit machen soll, für die Zeit nach dem Öl, nach dem ungehinderten Raubbau an Naturressourcen und mit einer Bevölkerung, die nicht mehr alles hinzunehmen bereit ist, was von oben verordnet wird. Und er richtet sich darauf, die Selbstzerstörungskräfte eines entfesselten und sich allen politischen und sozialen Kontrollen entziehenden Kapitalismus durch etwas mehr Regulierung einzudämmen.
Die GRÜNEN präsentieren damit nicht nur ein wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Programm, das künftigen Herausforderungen gerecht zu werden verspricht und damit hegemoniale Qualität hat. Sie stützen sich dabei auch auf eine soziale Basis, die zunehmend an Gewicht gewinnt. Sie sind zu der Partei der modernen Besserverdienenden geworden, einer Schicht, die durch den Wandel zur sogenannten High-Tech- und „Wissensgesellschaft“ nicht nur zahlenmäßig an Bedeutung gewinnt, sondern immer wichtigere gesellschaftliche Positionen einnimmt. Der Erfolg der GRÜNEN beruht nicht zuletzt darauf, dass es ihnen gelungen ist, zwischen dieser modernisierten Klein- (oder auch, wie Herrl sagt: Bionade-) Bourgeoisie und konservativen wie alternativen ökologischen Strömungen zu vermitteln. Die ökologische dominiert die soziale Frage in den Medien wie auch im öfffentlichen Bewusstsein deutlich. Insofern ist es folgerichtig, dass Sozialpolitik im grünen Programm eine eher untergeordnete Rolle spielt, wenn auch keinesfalls marktliberale Glaubensbekenntnisse das politische Handeln bestimmen sollen. Sozialpolitik bleibt auch da insofern bedeutungsvoll, als es darum geht, größere soziale Spaltungen und Ausgrenzungen zumindest abzufangen, den inzwischen deutlich bedrohten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. Regulierte Ungleichheit also, oder auch Neoliberalismus light. Genau genommen folgt die grüne Politik den Prinzipien eines aufgeklärten Konservatismus, nämlich dass sich ziemlich viel verändern muss, wenn das Alte – die kapitalistische Gesellschaft – erhalten werden soll.
Und natürlich geht es auch darum, den modernisierten Kapitalismus des „Standorts Deutschland“ im verschärften internationalen Konkurrenzkampf abzusichern. Eine ökologische Modernisierungspolitik, die industrielle Innovationen antreibt und damit internationale Wettbewerbsfähigkeit gewährleistet, dient dem zweifellos besser als marktradikale Deregulierung. Es gehört dazu aber auch die Bereitschaft, die eigene Wohlstandsinsel, die Verfügbarkeit von Ressourcen und die Öffnung von Märkten notfalls militärisch abzusichern. Kaum einer Partei wie den GRÜNEN ist es so gut gelungen, wohlstandschauvinistischen Interventionismus menschenrechtlich zu legitimieren und dafür Akzeptanz zu beschaffen.
Wenn man so will, präsentieren die GRÜNEN ein modernisiertes „Modell“ Deutschland, nachdem das alte, sozialdemokratisch-fordistische der neoliberalen Politik zum Opfer gefallen war. Deren Scheitern wird immer offenkundiger, was heißt, dass weder ein Zurück zum Fordismus der Nachkriegszeit noch ein neoliberales Weiter so besonders erfolgversprechend erscheinen. Was damit angezielt wird, ist ein kapitalistisches Vergesellschaftungsmodell nach dem Neoliberalismus. Verglichen mit den anderen kapitalistischen Metropolen wird damit so etwas wie ein deutscher Sonderweg anvisiert, der allerdings den Vorteil hat, nicht reaktionär-rückwärtsgewandt, sondern durchaus fortschrittlich zu sein, der also tatsächlich wieder Modellcharakter erhalten könnte. Gegenüber dieser Kraft sehen die „alten“ Parteien, und dazu gehört ihrer Struktur und ihrem Personal nach auch die Linkspartei, ziemlich schlecht aus. Sie müssen damit rechnen, dass der Platz einer Modernisierungspartei, die verspricht, das Land in eine bessere Zukunft zu führen, bereits besetzt ist. Wenn es gelingt, diese Politik über konjunkturelle Situationen hinaus im allgemeinen Bewusstsein fester zu verankern, haben die GRÜNEN das Potential eines neuen Typus der Volkspartei. Dazu gehört auch, dass die durch sie veränderte Kräftekonstellation dazu führen könnte, den Staat nicht mehr nur als Beute einzelner Kapitalgruppen und als Dienstleister einiger Parteiklientele erscheinen zu lassen, ihm also das Maß an „relativer Autonomie“ zurückzugeben, die für die Gewährleistung einer längerfristigen Bestandsfähigkeit des Kapitalismus unabdingbar ist. Wenn die anderen Parteien nicht zunehmend an den Rand gedrückt werden wollen, wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, als sich dem neuen hegemonialen Projekt zu unterwerfen. Auch insofern ist der Fall Baden-Württemberg exemplarisch.
Es ist allerdings nicht sicher, dass diese Entwicklung tatsächlich eintreten wird. Die Möglichkeit, dass auch die GRÜNEN an den etablierten ökonomischen Machtpositionen auflaufen und als Regierungspartei ihre Wählerschaft enttäuschen müssen, also das Schicksal erleiden, das vor allem die SPD, zunehmend aber auch CDU/CSU trifft, während die FDP, wichtige sozialstrukturelle und politische Veränderungen verkennend, ohnehin kaum mehr eine Zukunft hat. Zwar dient die grüne Politik den längerfristigen Interessen des Kapitals. Es ist allerdings fraglich, ob dieses, auf den Horizont von Shareholder Value und Vierteljahresbilanzen reduziert, dies auch zu erkennen vermag. Dass sich die deutsche Parteienlandschaft grundlegend verändern wird, ist sicher. Wie diese Veränderungen aussehen werden, wird heftig umkämpft sein.
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