Was sich seit April des vergangenen Jahres angedeutet hat, wird jetzt vollständig sichtbar. Die unterschiedlichen Ratings für Deutschland und Frankreich waren ein Frühindikator für aufkommende politische Differenzen im deutsch-französischen Motor. Mit der Wahl des Sozialisten François Hollande hat sich die politische Zusammenarbeit unmittelbar nach seiner Wahl zunächst verändert. Er setzte einige Wahlversprechen um und setzte sich auf dem EU-Gipfel im Sommer mit Spanien und Italien gegen den Kurs der Bundeskanzlerin durch. Dies stieß im Kanzlerinnenamt auf Unwillen. Im Vorfeld des Dezember-Gipfels, auf dem weitere Reformen der EU beschlossen werden sollen, werden tiefe Spannungen im deutsch-französischen Motor prognostiziert. Die Kanzlerin hat wiederholt ein Szenario in ihren Reden bemüht: Ohne Einigung wird sich die Euro-Krise verschärfen, ohne Einigung fallen der Euro und die EU.
Auf der anderen Seite ratifizierte François Hollande mit seiner Mehrheit auch den Fiskalpakt, den er im Wahlkampf abgelehnt und entschieden bekämpft hat. Ein Großteil seines Wahlsiegs resultiert aus dieser Position, die er nach der Wahl rasch aufgegeben hat. Dennoch bleiben Streitigkeiten zwischen Hollande und Merkel, zum Beispiel in der Frage europäischer Durchgriffsrechte auf die nationalen Haushalte, die der Franzose seinerseits hartnäckig ablehnt. Verständlich, Hollande müsste beständig das Einreisen der Troika und die Bevormundung durch einen europäischen Sparkommissar befürchten. In der Reaktion wirft er der Bundeskanzlerin weitergehend vor, sie strebe nach deutscher Vorherrschaft in Europa. Zugleich setzt er sich in ein Boot mit Wolfgang Schäuble, der seit den 1990er Jahren ein Europa der zwei Geschwindigkeiten favorisiert. Scheinbar widersprüchliche Aussagen, die darauf zielen, die Differenzen zwischen Merkel und Schäuble zu verstärken und einen Keil in die Bundesregierung zu treiben.
Macchiavellistische Politik ist auch auf der deutschen Seite zu beobachten. Gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion ja. Exportvorteil der deutschen Wirtschaft durch den Euro ja. Gemeinsame politische Verantwortung und Haftung nein. Beim Geld hört schließlich die Freundschaft auf. Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit, also Konkurrenz der Mitgliedsstaaten des Euro-Währungsgebiets untereinander, soll die Stabilität der gemeinsamen Währung wieder herstellen. So wird über die Ökonomie auf Frankreich politischer Druck ausgeübt. Das Domino der Ratingagenturen der Jahre 2010 und 2011 wird wieder aufgenommen. Neu ist lediglich, diesmal geht die Gefahr des Scheiterns der Euro-Zone nicht nur von Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder Italien aus, sondern auch von Frankreich, der zweitgrößten Volkswirtschaft in der Euro-Zone und der EU. Da Frankreich auch im Verbund mit Italien und Spanien gegen Deutschland weder Euro-Bonds noch den von ihm vorgeschlagenen Altschuldentilgungsfond durchsetzen kann, wird es auf den Pfad der Austerität gezwungen.
Der Internationale Währungsfonds mahnt zu raschem Handeln und sieht Frankreich ohne weitgehende Reformen den Anschluss an seine Nachbarn verlieren. Laut IWF lag der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung nach 18 Prozent im Jahr 2000 im Jahr 2011 nur noch bei 12,5 Prozent, hinter Deutschland und Italien. Wenn Frankreichs Präsident nicht in absehbarer Zeit umfangreiche Reformen zur Steigerung der französischen Wettbewerbsfähigkeit beschließen lässt und die Staatsfinanzen saniert, wird angedroht, Frankreich in den Fokus der Finanzmärkte zu ziehen. Die Zinsschraube wird nach oben gedreht, die finanziellen Belastungen des Staates erhöht. Resultat war bisher eine weitere Herabstufung durch die Rating-Agenturen. Die Zinsen steigen, der Ausblick wird auf „negativ“ gesetzt, die Abwärtsspirale ist in Gang gesetzt, die Troika beginnt ihre Koffer zu packen.
Angesichts dieser Drohung erscheint der Widerstand des neuen Präsidenten als Beruhigungstropfen für die eigene Klientel. Er unterstreicht die Machtgrenzen selbst großer europäischer Staaten in den Zeiten der Globalisierung. Faktisch bewegt sich Frankreich zurück in die politische Linie von Sarkozy, weil es keine ökonomischen Spielräume hat. Für den französischen Ministerpräsident ist Frankreich der „kranke Mann“ in Europa. Eine Wortwahl, die unmittelbar an die neoliberale Agenda 2010-Offensive der Schröder-Regierung erinnert. Damals wurde Deutschland als der „kranke Mann“ in Europa dargestellt. Die Lohnnebenkosten wurden als zu hoch ausgewiesen. Die Sozialbudgets als nicht mehr tragbar. Das Rentenalter als zu niedrig. Die Produktivität als zu gering. Der Rest ist bekannte Geschichte. Der VW-Mann Peter Hartz wurde beauftragt, Lösungsvorschläge zu erarbeiten, die er am 16. August 2002 präsentierte. Deren Umsetzung in den Hartz-Gesetzen führte zur Abwahl von Schröder im Jahr 2005. Zum 23% Ergebnis für die SPD im Jahre 2009. Zu den Bilanzungleichgewichten in der Euro-Zone durch immense Exportüberschüsse für die Bundesrepublik.
Am 3. November 2012 hat der frühere EADS- und Bahnchef Louis Gallois der Regierung 22 Maßnahmen für eine „Schocktherapie“ vorgelegt, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Ein „Wettbewerbsschock“ sei nötig, um die Industriebasis wieder aufzubauen. Über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren sollen Arbeitgeber um 20 Mrd. Euro entlastet werden. Das französische „Agenda-2020“ Programm soll über indirekt gesenkte Arbeitskosten Hunderttausende von neuen Jobs schaffen. In Deutschland hat die Agenda 2010 zur massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt, die Wirtschaft wird über Lohnaufstockerei subventioniert. Zur Finanzierung sollen im französischen Haushalt in den Jahren 2014 und 2015 insgesamt zehn Milliarden Euro zusätzlich eingespart werden. Die Mehrwertsteuer von 19,6 % auf 20 % erhöht werden. Der z.B. für die Gastronomie geltende Satz soll von 7 % auf 10 % steigen. Der Ministerpräsident appellierte wie einst Roman Herzog, durch Frankreich müsse ein RUCK gehen! Appellen an die Nation folgen in der Regel Zumutungen und Belastungen für die Bevölkerung, derweil sich andere die Taschen vollstopfen.
Mit dem „Agenda-Konzept“ werde eine „entscheidende Etappe“ im Kampf gegen den Niedergang der französischen Industrie eingeleitet, so der Ministerpräsident weiter. Auch dies zeigt, François Hollande leitet keinen Politikwechsel in Frankreich ein. Er ist die Fortsetzung der Sparpolitik mit einem anderen Namen. Das Aufmuskeln gegen Merkel ist Rhetorik an die eigene Wählerschaft. Das linke politische Lager, das François Hollande unterstützt und gewählt hat, gerät in eine starke innere Belastungsprobe. Wenn es zerbricht, stehen gesellschaftspolitische Folgen auf der Tagesordnung, wie in Deutschland nach der Verabschiedung der Hartz-Gesetze. Sie waren der austeritätspolitische Startschuss, aus dem DIE LINKE hervorgegangen ist und der ihr in der Bundestagswahl 2009 zu 11,9% verholfen hat. Jedoch darf ein Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich nicht vergessen werden. In Deutschland wird vor dem Protest eine Bahnsteigkarte gekauft, in Frankreich schmettert der gallische Hahn. Nicht die Regierungen, sondern die gesellschaftlichen Reaktionen auf ihre Politik sind der Testfall für die deutsch-französische Einigung. Hieraus resultiert eine besondere Verantwortung für die parlamentarische und außerparlamentarische Zusammenarbeit der französischen und der deutschen Linken.