14.11.2012
Gähn.
Linke Flügel in bürgerlichen Parteien
Tim Tiger
Es ist zum gähnen. Man hört es überall. Ob rechts, ob links. Ob FAZ oder Neues Deutschland: Die Grünen seien mit ihrer neuen Doppelspitze nun wirklich bürgerlich geworden. Das ist den Platz nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Erstens waren die Grünen schon immer eine Partei, deren Wähler- und Mitgliedschaft aus „bürgerlichen“ Hintergründen stammt. Das ist wirklich nichts Neues. Und im Übrigen macht sie dieser Umstand als Partner für die Durchsetzung politischer Projekte sehr attraktiv. Das haben Teile der CDU viel hellsichtiger erkannt als manch Freund der Klassenanalyse vom Küchentisch her. Zweitens sagt das Etikett „bürgerlich“ noch nichts über die Inhalte aus: Wie halten es die Grünen nun mit einer sanktionsfreien Grundsicherung, mit der Abschaffung der Gymnasien oder mit der friedlichen Außenpolitik? Da gilt es nachzubohren. Das Bürgerlichkeits-Argument lenkt von den Angriffsflächen der Neu-Grünen-Allgemeinwohlprosa ab. Und drittens schließlich macht man es dem linken Flügel der Grünen mit dem Gejammer über die Bürgerlichkeit auch zu einfach. Die linken Grünen können darauf verweisen, dass das Image der Grünen vielleicht etwas in Richtung Mitte gerückt ist, im Gegenzug aber viele linke Beschlüsse gefällt worden sind.
Hic rhodus, hic salta! Das kommt uns doch bekannt vor. In der Vergangenheit waren es zumeist SPD-Linke, die ihren historischen Auftrag darin gesehen haben möglichst „linke“ Beschlusslagen auf Parteitagen herbeizuführen, um damit die Partei nach links zu verändern. Kein Gespräch mit linken Sozialdemokraten, das nicht voller Hoffnungen auf den nächsten Parteitag, auf die nächste Sitzung der Programmkommission xy, auf die Vorlage für die Fraktionssitzung am x.x. wäre, um DANN ENDLICH das zu machen, was eigentlich geboten wäre. Nebenbei bleiben Rechtspopulisten wie Sarrazin und Buschkowsky in der Partei und dürfen den rechten Rand des politischen Spektrums in der BRD bedienen. Und man muss die funktionalen Äquivalente zu Alfred Dregger und Manfred Kanther akzeptieren – alles andere würde ja die überaus wichtige Durchsetzung der inhaltlichen Sache, um der es bei Politik eigentlich geht, gefährden. Und natürlich das nächste Wahlergebnis, das so wichtig ist, um DANN ENDLICH loszulegen usw.
Wie die Entwicklung der SPD zeigt ist es genau jenes Herangehen, das komplett falsch liegt. Es geht bei der Parteipolitik im politischen System der BRD eben nicht um Parteitagsbeschlüsse, sondern um Personen, Aufmerksamkeitsmanagement und diskursive Ordnung. Wenn die linken Grünen meinen, man könnte durch Beschlusslagen alleine irgendwas verändern, ohne an der politischen Eintracht der abgehalfterten Führungsriege um Roth, Trittin und Co. zu rütteln, ist ihnen entschieden zu widersprechen. Ohne Konflikte um die Frage, was im grünen Milieu repräsentiert wird, was Anteil hat und was nicht, wird es nicht gehen. Parteitagsbeschlüsse können bedeutend sein, wenn sie einen Konflikt oder eines realen Dissenses zum Ausdruck bringen. In der Regel sind sie ziemlich unwichtig und binden das Handeln der Partei, zumal in Regierungsverantwortung, kaum. Ich sehe es schon vor mir, wie Katrin Göring-Eckhardt gemeinsam mit Peer-Steinbrück vor die Presse tritt und die Sanktionen bei Hartz-IV per Eilverordnung aussetzt. Eher ist doch das Gegenteil wahrscheinlich: Beide werden die Sanktionen verschärfen. Die SPD schimpft auf die Schmarotzer, die Grünen werden versuchen irgendwie die europäische Solidarität mit den armen Griechen dafür in Anschlag zu bringen. Und Claudia Roth wird dann – als Vertreterin des linken Parteiflügels vor die Presse treten – und erklären, dass das nicht der Beschlusslage der Grünen entspricht und das nochmal auf dem nächsten Parteitag in einer Resolution bekräftigt wird! Das kennen Sozis von ihren eigenen Linken und Merkel vom marginalisierten rechtskonservativen Häufchen in ihrem Laden. Sie werden richtig froh sein: Verändern tut das glücklicherweise nichts. In der Regierung wird schließlich Politik fürs ganze Volk und nicht für die Partikularinteressen des Parteitags gemacht.
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