1. Strömungen haben einen eigentümlichen Doppelcharakter: Einerseits sind sie Zusammenschlüsse zur Durchsetzung von politischem Führungspersonal, andererseits sind sie ideologisch an bestimmte Ansätze linker Politik gebunden, die (im Unterschied zu Arbeitsgemeinschaften oder Ein-Punkt-Bewegungen) aufs Ganze der Partei abzielen. Durch die Formierung als Strömungen sind die Beteiligten gezwungen, ihre Personalvorschläge weiterhin in breitere ideologische Begründungsmuster einzufügen – die Beteiligten müssen sich vor dem Hintergrund einer bestimmten Grundauffassung linker Politik für ihr Handeln rechtfertigen oder begründen, wieso dies für alle in der Partei besonders wichtig ist. Strömungen müssen aber auch auch innerhalb der bestehenden Parteistrukturen und dem gesellschaftlichen Umfeld so wirken, dass sie auch auf die Auswahl des politischen Führungspersonals Einfluss nehmen – und deshalb können sie sich eigentlich nicht in bloßer Programm- oder Begriffsarbeit isolieren, wenn sie noch als Strömung gezählt werden wollen. Beides hat Kehrseiten: Entweder die Anpassung der „Ideologie“ an die bloße Personaldurchsetzung, also ihre Instrumentalisierung, oder die Verselbstständigung von Strömungen zu Programmwerkstätten oder interner politischer Polizei ohne Gestaltungsanspruch.
2. Wenn Strömungen also über ihre Auflösung nachdenken, kann das a) den Grund haben, dass die grundsätzliche Ideologie der Strömung so sehr Allgemeingut geworden ist, dass es einer spezifischen Organisierung nicht mehr braucht, b) dass man andere Organisationsformen wählt, um den Anliegen zur Geltung zu verhelfen, also eine Umformung der Strömung c) dass man sich einer der beiden Seiten der Existenz als Strömung entledigen will, man also nicht mehr an Begründungen der eigenen Politik gebunden sein und nur noch ein Verein voluntaristischer Personaldurchsetzung (Kanalarbeitermodell) sein will oder man eigentlich nicht mehr auf die Machtstrukturen der Partei Einfluss nehmen möchte und sich mit Programmarbeit begüngt.
3. Im Hinblick auf die Strömung des besonders reformerischen Flügels der sowieso reformerischen Partei Die LINKE scheinen folgende Aspekte besonders wichtig zu sein:
(a) Reformerpositionen sind zunehmend Gemeingut: Die grundlegenden Anliegen des Flügels sind zwischenzeitlich zu Gemeingut der Partei geworden– und dies seit dem Göttinger Parteitag nicht mit breiter Unterstützung der sog. „Reformer“ selbst, sondern maßgeblich gegen einige ihrer Wortführer_innen (ausdrücklich: nicht gegen alle). Ausdruck dieser Konstellation ist der Umstand, dass man sich eigentlich nur noch auf Manöver- und Stilkritik beschränkt, nicht aber ernsthafte inhaltliche Differenzen zur gegenwärtigen Politik der Partei insgesamt formulieren kann. Mit dem Göttinger Parteitag wurde die Ära Lafontaine überwunden:
- - Die soziale Frage wird zunehmend mit anderen linken Politikfeldern (Ökologie, Bürgerrechte usw..) verknüpft.
- - Das SED-Image ist weitestgehend und glaubwürdig weg. In der Parteizentrale wird den Opfern des Stalinismus nun endlich offiziell gedacht.
- -Die Diskussionskultur ist zumindest vom Anspruch her stärker intellektualisiert, rationalisiert und ent-autoritarisiert worden. Das „Durchstellen“ von Entscheidungen der Parteiführung ist einer offeneren Diskussionskultur gewichen – was nicht bedeutet, dass es keine Entscheidungen mehr gibt und die Parteiführung nicht handelt. Nur werden diese Entscheidungen immer durch Gremien demokratisch beschlossen und nicht durch die Macht des Führungspersonals ultimativ erpresst.
- - Die Partei hat ein offensives Verhältnis zur Übernahme von Regierungsmacht in Land und Bund (selbst in Ländern wie Hessen oder NRW). Es bestehen hier einige Differenzen zur Frage, was für Bedingungen erfüllt sein müssen, um in einer Regierung auch durchsetzungsfähig zu sein (bisher nur an EINER Stelle systematisch diskutiert, nämlich bei Hoff/Kipping in Hoff: Die Linke. Partei neuen Typs, Hamburg 2014).
- - Die Politik der Partei konzentriert sich nicht nur auf Erwerbslose und die bedrohte Arbeitnehmermitte, es wird versucht an einer „neuen sozialen Idee“ zu arbeiten.
- - Die Partei hat eine eindeutig proeuropäische Position.
- - Einzig in der Friedensfrage scheint ein Alleinstellungsmerkmal der Reformer vorzuliegen, wobei auch hier die Haltung der Strömung als Ganzes u.W.n. nicht klar ist. Im Übrigen deuten wohl auch innerhalb der Strömung „Sozialistische Linke“ einzelne Mitglieder die strikte Ablehnung internationaler Militäreinsätze anders aus als die derzeitige vermutliche Mehrheit der Partei.
Es gehört zu den Treppenwitzen der Geschichte, dass genau diese zwischenzeitlichen irreversiblen Veränderungen nicht immer, aber doch oft gegen Widerstand von Teilen der Reformer durchgesetzt werden mussten. Dem entspricht auch der Umstand, dass die offizielle Strömung FDS seit dem Göttinger Parteitag ihre zentrale Rolle verloren hat und zunehmend neue Gesprächs- und Politikzusammenhänge entstanden sind – sei es im Hinblick auf eine konstruktive Perspektive einer nun nicht mehr nur auf dem Papier absehbaren „neuen Linken“ oder – sozusagen spiegelbildlich – der Versuch durch „Hufeisenkoalitionen“ von Teilen der reformorientierten Linken bzw. Teilen des FDS mit Teilen eher linksdogmatischer Kreise in der Partei die Entwicklung wieder in die Zeit vor Göttingen zurück zu katapultieren, um sich durch Unregierbarkeit einer zunehmend eigenständigen Willensbildung der Partei in Sach- und Personalfragen zu schützen.
(b) Todestrieb: Die Probleme bei der Durchsetzung von Personal des FDS sind nicht so sehr seiner strukturellen Minderheits-, Ausschluss oder gar Opferrolle zuzuschreiben, sondern schlicht von Fehlern im politischen Handwerk oder im vorauseilenden Verzicht auf eine Politik, die versucht, reformerische Positionen in der Partei strukturell mehrheitsfähig zu machen (das Papier Liebich/Neuhaus spricht in seinem erratischen Argumentationsstil Bände). Dazu zählt insbesondere die Orientierung an unterschiedlichen Spielarten von Obstruktionspolitik, also einer Politik, die eher darauf zielt, Mehrheitsentscheidungen zu verhindern oder zu sabotieren, schlecht zu machen, sich der politischen Diskussion und Rechtfertigung entzieht und im Grunde schon von Beginn an davon ausgeht, in der Rolle einer diskriminierten Minderheit zu sein. Dies stellt natürlich für eine Strömung, deren ausdrücklicher Anspruch es ist, gesellschaftliche Mehrheiten zu erreichen, in der Gesellschaft dialogfähig und auch in Regierungskonstellationen gegen den geballten Apparat anderer Parteien durchsetzungsfähig zu sein, ein ernsthaftes Taktikdefizit und Glaubwürdigkeitsproblem dar. Mit einer Politik, die nicht in Kräfteverhältnissen und längerfristigen Veränderungsprozessen denkt, sondern sich stets an kurzfristigen Skandalisierungen von Detailfragen verliert, dazu geradezu obsessiv Entscheidungssituationen herbeiruft, die schon von Beginn an darauf ausgelegt sind, dass man sie verliert, kann man nur mit Freuds Todestrieb erklären. Oder kurz: Eine positive Strategie der Hegemoniegewinnung über Einzelfragen hinaus wird nicht verfolgt, sondern identitäre Minderheitenkultur gepflegt.
4. Wenn man sich vor Augen führt, dass es einfach einen größeren Kreis an Leuten in der Partei gibt, die sich selbst in besonderem Maße als reformerisch beschreiben - und zwar unabhängig davon, ob es das FDS als formale Organisation gibt – scheint es doch folgende Optionen zu geben:
a) Man wertet die Entwicklung der Partei seit Göttingen so aus, dass die eigenen Positionen innerhalb der Mehrheitsposition der Partei grosso modo aufgehoben sind und Differenzen nur in Nuancen bestehen. Das muss nicht bedeuten sich als formale Organisation aufzulösen.
b) Die Auflösung des FDS in ein Personennetzwerk wäre die Aristokratischste aller Möglichkeiten. Sie ist aus Sicht der Aristokrat_innen am Bequemsten, weil man sich so allen Problemen inhaltlicher Rechtfertigung entziehen kann. Vielleicht ist es auch ehrlich: So wird wenigstens offen ausgesprochen, dass in Zukunft die Absicht besteht, Politik vor allem als Mechanismus der Personaldurchsetzung und Abkanzelung vom Stammtisch her zu verstehen.