Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“ der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht. Den ersten Aufschlag machte Jasmini Siri mit ihrem Beitrag „Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation“. Ihr folgte Mario Candeias mit „Linksparteien – multiple Persönlichkeiten oder lebendige Organismen?“ und Joachim Bischoff und Björn Radke mit Parteien links der Sozialdemokratie.
Im aktuellen Beitrag reagiert Horst Karhs, Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, auf die fortlaufende Diskussion.
1.) Unterbestimmung des politischen »Existenzrechts« von linken Parteien
Die angebliche »Zwitterrolle« von Parteien links der Sozialdemokratie - machtpolitisch den linken Flügel besetzen, als Protestpartei gesellschaftlichen Unmut bündeln und wirkungsvoll artikulieren – legt gleich zu Beginn eine Fährte, der ich schwerlich folgen kann. Nicht, weil ich sie für falsch hielte, sondern weil ich darin eine Unterbestimmung des politischen »Existenzrechts« von linken Parteien sehe. Denn Parteien links von der Sozialdemokratie, die sich auf die Alternative »Regieren und Renitenz« beschränken, werden auf Dauer für linke Politik überflüssig und hinderlich. »Protest« ist bekanntlich ein wankelmütiger Zeitgenosse. Linke Parteien beziehen ihre Substanz immer noch aus der Fähigkeit, die herrschenden Verhältnisse mit den unterdrückten besseren Möglichkeiten zu konfrontieren. Die Produktivkräfte sind derart entwickelt, dass kein Mensch auf der Welt hungern müsste, eine Grundversorgung mit Wasser und Energie garantiert werden könnte, zudem Bildung für jedes Kind. Wenn die Produktivkräfte sich (mit allen negativen Konsequenzen) von Zufälligkeiten der Natur emanzipiert haben, so ist z.B. Hunger eben kein Naturereignis, dem die Menschheit schutzlos ausgeliefert ist, sondern von Menschenhand gemacht. Linke Politik lebte und lebt immer davon, den bestehenden Verhältnissen das Andere, Bessere, was sie als Potential in sich tragen, entgegenzusetzen, in der technologischen, sozialen Entwicklung die emanzipatorischen Potentiale zu identifizieren und stark zu machen, die Widersprüche offenzulegen, in Bewegung zu setzen und – ja, darüber müssen wir reden: zivilisatorischen Fortschritt zu erreichen. Jeder Mensch hat die gleichen Rechte, sozial, politisch-rechtlich, ökologisch, Demokratie und Gleichheit – eine wohlverstandene Mischung aus Werten und Analysen macht die Stärke linker Parteien aus. Sozialdemokratische Parteien haben die gleiche Quelle, sind im historischen Verlauf aber zu der Einsicht gelangt, dass »der Kapitalismus« nicht zu besiegen und abzuschaffen sei und es deshalb der erfolgversprechendere Weg sei, einen möglichst großen Anteil seiner Produktivitätsgewinne in den gesellschaftliche, lohnpolitische und wohlfahrtsstaatliche Verteilung umzulenken. Dafür waren und sind sie bereit, die Maschine der Kapitalverwertung zu ölen; mit dem Keynesianismus rückte die Frage der Realisierung des produzierten Mehrwerts in den Mittelpunkt. Parteien links von der Sozialdemokratie haben sich diesem Weg nie verschlossen, aber immer darauf bestanden, dass es eine Welt jenseits der Kapitalverwertung geben muss, dass Reformen dann festen Grund haben, wenn die Option der Empörung, der Revolte und der Revolution nicht a priori ausgeschlossen wird. Die Dialektik von Reform und Revolution lässt sich nicht auf eine Dialektik von Renitenz und Regierung zusammenstauchen.
2.) Wie ist das Verhältnis von »roten Haltelinien« zu machtpolitischen Herausforderungen?
Eine linke Reformpolitik, die eine Alternative zum Neoliberalismus auf den Weg bringt, heißt es, sei vom Nationalstaat aus im gegenwärtigen Kapitalismus kaum möglich und im übrigen seit Jahren regelmäßig und grandios gescheitert. Verwiesen wird auf die aktuellen französischen Erfahrungen; andere Verweise wären möglich und gegen die Feststellung ist nichts sagen. Aber warum ist das so, was ließe sich mal anders machen? Was heißt es, eine »Alternative zum Neoliberalismus« auf den Weg zu bringen? Im reformistischen wie revolutionären Sinne kann es nur bedeuten, die Risse in den dominanten politischen und gesellschaftlichen Kräftebündnissen, die Linke gerne mit dem Stichwort „Neoliberalismus“ homogenisieren und kleinreden, im Nationalstaat und darüber hinaus in Bewegung zu setzen. Auf die Schwächen des Gegners schauen bringt mehr als nur auf seine Stärken zu schauen. Nehmen wir zum Beispiel Syriza. Griechenland ist das schwächste Glied in der Kette, sagen unsere linken Analysen zur EU-Politik. Wenn es bricht, dann geht den Hauptquartieren entgegen... Syriza will die Kette brechen – und wie verhält sich die deutsche, die europäische Linke bei einer Regierungsübernahme durch Syriza? Ist die Linke darauf vorbereitet, spätestens dann die Große Koalition ablösen zu wollen? Oder erschöpft sich die Solidarität in guten Worten? In welchem Verhältnis stehen die »roten Haltelinien« zu diesen machtpolitischen Herausforderungen? So betrachtet, würde die Gegenthese lauten: Die Gegenwart des Reformismus ist europäisch. Die Linke im Krisengewinnler-Land Deutschland, wo gerade ein paar sozialdemokratische Reformen mit diesen Krisengewinnen, nicht zuletzt den 40 Mrd. Euro ersparten Schuldzinsen, finanziert werden, scheut diesen Schritt ins unsichere Gelände und begibt sich stattdessen in politischen Widerspruch zu den eigenen politökonomischen Analysen. Die Linke, so wäre das Ausgangsproblem zu spezifizieren, denkt und handelt eben nicht mit europäischer Perspektive. Welche Gefahren und Chancen hier liegen, offenbarte der Widerhall, den Bernd Riexinger erfuhr, als er in Athen im Oktober 2012 an einer Demonstration gegen unsere Kanzlerin teilnahm.
3.) Die Schwäche von Reformismus und Protest liegt in der anhaltenden Unfähigkeit angemessene positive Selbstdeutungen zu formulieren.
Die im Zusammenhang der Widerstände, auf die eine linke Reformpolitik treffen würde, ebenfalls angesprochene Macht der Sparer und der Rating-Agenturen basiert auf der Hegemonie ihres Klassenstandpunktes, des Standpunktes der arbeitslosen, mühelosen Aneignung von Mehrwert und der Spekulation auf deren Zukunft. Zu den größten Erfolgen der neoliberalen strategischen Kommunikation zählte das öffentliche Framing von »Steuern« als »Last« und die Vertreibung der »Arbeit« aus den öffentlichen Diskursen der Wirtschaft. In keynesianischen Hochzeiten produzierten »Arbeit und Kapital« den gesellschaftlichen Reichtum, mittlerweile hindern zu hohe Kosten der Arbeit das Kapital an seinem segensreichen Wirken für die Gesellschaft. Wenn mit der »linkspopulistischen Option« die Leerstelle strategischer linker Kommunikationslinien gemeint ist, dann wäre ich einverstanden. Ginge es dann doch um die Frage der Deutungen und Frames. Marx war ein genialer strategischer Kommunikator: die vor aller Augen entfesselten Produktivkräfte ermöglichen ein Reich der Freiheit, der freien Assoziation, der Demokratie und Gleichheit; die Arbeiterklasse als neue Klasse produziert nicht nur diesen Reichtum, sondern wird den Laden auch mal übernehmen können. Hat sie dann aber nicht gemacht, die Arbeiterklasse. Und: Der Stolz, ein Arbeiter zu sein, ist perdu. Seitdem verfügt die Linke über kein Subjekt ihrer Politik mehr. Die »Einkommensschwachen«, die »Bildungsschwachen«, die »Ärmsten der Armen« sind an seine Stelle gerückt worden. Mit diesen eher christlich konnotierten Begriffen bezeichnet sich selbst niemand, macht sich auch kaum jemand zugehörig oder fühlt sich angesprochen. Es sind Begriffe, in denen Politik und Medien untereinander über die Gesellschaft kommunizieren. Die Schwäche von Reformismus und Protest liegt in der anhaltenden Unfähigkeit von linker Politik und Wissenschaft, angemessene positive Selbstdeutungen der eigenen Lage aus sozialen Schichten der Gesellschaft aufzunehmen und als Deutungsangebote für Zugehörigkeiten zurückzuspiegeln. Oder irdischer formuliert: Die Not des Protestes spiegelt sich in der weitgehend kritiklosen Existenz der gebührenfinanzierten Werbesendung für das Spielcasino, der »Börse vor acht«, in der Aufmerksamkeit für den »ifo-index« und anderem mehr einerseits, und dem völligen Fehlen entsprechender Aufmerksamkeit und Indikatoren für »Arbeit«, sieht man von den Mühen des »Index Gute Arbeit« ab, andererseits.
4.) Die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie verstellen den Zugang zu Fragen strategischer Kommunikation
Mit der linkspopulistischen Option ist, fürchte ich, indes das Spiel des politisch-medialen Komplexes mit »Stimmungen« gemeint. Die kleine Konjunktur des Adjektivs »popular« statt »populär« oder »populistisch« deutet auf eine entsprechende Anpassungsleistung hin. Die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie verstellen allzu leicht den Zugang zu Fragen strategischer Kommunikation und alternativer Deutungen, die letztlich zu einem konfrontativen, konfliktfähigen Standpunkt werden können, durch den viele auf die Gesellschaft blicken und ihre eigene Lage interpretieren. Aufmerksamkeitsökonomie im Zeitalter der modernen, digitalisierten Massenkommunikation ist Echtzeit-Journalismus, also immer auch politische Intervention. Wo Medien als Gatekeeper zur Öffentlichkeit fungieren, wird der Gebrauch ihrer Spielregeln zu einer vermeintlichen politischen Überlebensfrage. Politik und Medien gehen eine Symbiose zum wechselseitigen Nutzen ein, die authentische Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft bleibt auf der Strecke. Die medial vermittelte Welt der Politik, die das politische Feld als ein von der Gesellschaft abgetrenntes exklusives Feld darstellt, hat an vielen Stellen den Kontakt zu Alltagswelten und Alltagsbewusstsein verloren. Politik existiert als Welt mit der eigener Sprache und eigenen Regeln, die man am besten den professionellen Experten überlässt. So soll es, zumindest aus Sicht der meisten selbsternannten Experten und Medienvertreter, zumindest sein. Auf diesen Mechanismen basiert wiederum das beliebte Politikerbashing. Doch es gibt auch eine andere Welt, die Welt der lokalen und regionalen Zeitungen und Kanäle, einer Welt von an Alltagswelten angeschmiegten Aufmerksamkeitsrhythmen, eine »soziale Nahwelt«, in der, so fand jüngst Allensbach heraus, das Ansehen der dort präsenten Politiker_innen umgekehrt proportional zu demjenigen der nur über Medien bekannten ist.
5.) Das politische Eigenleben der lokalen Parteiorganisation entwickeln.
Vor diesem Hintergrund ist die These von der »Priorität des Parteiaufbaus«, von »Stabilisierung« und »Substanzgewinn« nur zu verständlich, notwendig und richtig und die Frage, »wie eine linke (!) Linkspartei im 21. Jahrhundert aussehen soll«, zentral. Theoretisch kämen die Option »Wahlpartei«, »Medienpartei« und »Mitgliederpartei« als normative Orientierungen in Frage. Unter »Mitgliederpartei« in einem normativen Sinn wäre zu verstehen eine Partei, die primär über ihre Mitglieder mit der Gesellschaft kommuniziert. Mitglieder, die in verschiedenen sozialen Nahwelten (Betrieb, Familie, Kiez, Verein, ...) präsent sind und die vielfältigen sozialen Erfahrungen, Argumentationen, Sprachbilder in die Parteidiskussion tragen, wo sie zu möglichst gemeinsamen politischen Anliegen verdichtet und in das politische Feld mit seinen institutionellen Ebenen transportiert wird und wo es auch den umgekehrten Weg gibt: Mitglieder also als »gatekeeper« zur sozialen Wirklichkeit, dem Alltagswelten der Menschen, die die Partei repräsentieren will, die durch sie repräsentiert werden wollen; Zentralität der Partei vor Ort, ihres Eigenlebens, ihrer lokalen Politik. Zweifellos wird diese Norm immer wieder durch die große Politik, medial vermittelte Machtspielchen usw. hintertrieben. Gleichwohl zeigt sich in der Geschichte, dass Parteien, die sich eine Milieuverankerung erarbeitet haben, eine deutlich kritischere Distanz (und eben nicht: Abschottung mit Tendenzen zum Sektierertum) zur medialen Aufmerksamkeitsökonomie entwickeln konnten. Nun ist ein solcher Weg nicht zu haben ohne das eine »kritische Masse« an sozial verankerten Mitgliedern in der Partei vorhanden ist und in Parteiorganisationen, in der »Partei als sozialen Organismus« mittun will. Vielerorts ist das nicht der Fall. Eine entsprechende Bestandsaufnahme hätte herauszufinden, wo ein solches Parteimodell erfolgversprechend zu verfolgen wäre, und wo neue Formen der Organisation, mit Hilfe moderner Technologien, überhaupt erst wieder Parteileben hervorbringen müssten (»Parteimapping«). Denn es könnte dafür bereits zu spät sein. Man sagt zwar gerne, dass der Fisch vom Kopf her zu stinken beginnt, aber dennoch stände eine Veränderung der Parteitagskultur erst am Ende eines solchen Prozesses (es sei denn, die Parteielite veränderte ihr Auftreten freiwillig selbst). Viel wichtiger erscheint es mir, dass im Parteileben selbst Raum geschaffen und gelassen wird, damit die Mitglieder ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Unsicherheiten solidarisch miteinander diskutieren und politisch verdichten können. Die Entwicklung des politischen Eigenlebens der lokalen Parteiorganisation – selbstverständlich im Rahmen des Grundsatzprogramms – stände in Fragen des Parteiaufbaus vor zentralen Aktivierungs- und Kampagnenprojekten. Aber auch dieser Grundsatz wird, angesichts des heterogenen Zustandes der Parteiorganisationen und daraus entspringender Ansatzpunkte für Mitgliedergewinnung und Parteiaufbau nicht geradlinig durchzuhalten sein.
Horst Kahrs, geb. 1956, Sozialwissenschaftler, Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS mit den Themenschwerpunkten Wahl- und Klassenanalyse, Demokratie und Gleichheit. Der Kommentar gibt seine persönliche Auffassung wieder. www.horstkahrs.de