Die „Thesen zur Dialektik von Renitenz und Regierung“ der Ausgabe #18 wurden im Netz heiß diskutiert. Verschiedene Autor_innen haben begonnen die Thesen mal kritisch, mal zustimmend zu kommentieren. Die entstandenen Texte werden hier in loser Folge veröffentlicht. Den ersten Aufschlag machte Jasmini Siri mit ihrem Beitrag „Die (Un-)Möglichkeit kritischer Organisation“. Ihr folgte Mario Candeias mit „Linksparteien – multiple Persönlichkeiten oder lebendige Organismen?“
Wenige Wochen vor dem 4. Parteitag der Linkspartei im Mai, in dessen Mittelpunkt Diskussionen über Modelle eines emanzipatorischen Grundeinkommens und die Wahl des Parteivorstandes stehen, bescheinigen die letzten Umfragen der LINKEN einen stabilen Bundeswert zwischen 9 und 10%, also eine leichte Steigerung gegenüber dem Ergebnis der Bundestagswahlen vom September 2013. Im Vorfeld des kommenden Parteitages steht die Diskussion nach der Strategie einer Partei links von der Sozialdemokratie im Raum, wie sie u.a. schon im November 2013 von den Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger[1] eröffnet und nun im »prager frühling« aufgenommen wurde.[2]
Die Redaktion des »prager frühling« geht von einer wenig optimistischen Entwicklungsperspektive aus: Bei der Debatte über die Funktion von Linksparteien sollten wir uns »nicht über das gerne ausgeblendete grundsätzliche Problem hinwegtäuschen, dass linke Reformpolitik, die eine Alternative zum Neoliberalismus auf den Weg bringt, vom Nationalstaat aus im gegenwärtigen Kapitalismus kaum möglich ist und im Übrigen seit Jahren regelmäßig und grandios scheitert.«
Zum regelmäßigen Scheitern komme hinzu: »Gesellschaftliches Protestpotential ist nicht immer schon links. Die Piraten und die AfD sind ein Ausdruck davon, dass sich Protest durchaus auch rechts und sozialliberal-mittig artikulieren kann. Eine zeitgemäße Variante der Protestpartei wird an der Aktualisierung einer explizit ›linkspopulistischen‹ Option arbeiten müssen. Sie unterscheidet sich von ›rechtspopulistischen‹ und ›mittig-populistischen‹ dadurch, dass sie grundsätzliche andere Thematisierungen und Forderungen wählt: Weder führt sie die aktuelle Krise des Euro-Kapitalismus auf schmarotzende Südeuropäer zurück und betont die nationale Abgrenzung (AfD) noch kritisiert sie einzig mangelnde Transparenz politischer Verfahrensweisen und Techniken (Piraten). Sie entwickelt ›populare‹ Thematisierungen, Forderungen und Kampagnen, die an gesellschaftlichen Realwidersprüchen und emanzipatorischen Standards orientiert sind.«
Der Versuch einer Verständigung über die aktuellen Aufgaben und Widersprüche einer Partei links von der Sozialdemokratie muss aus unserer Sicht die Ausgangslage genauer eingrenzen. Die Sozialdemokratie ist in Deutschland an der Regierung beteiligt. Noch krasser sehen die Redakteure des »prager frühling« den Fall Frankreich und die Alleinregierung der Sozialisten: »Es ist eine offene Frage, wie damit umzugehen ist, dass linke Reformpolitik nicht nur auf Widerstände von Lobby-Gruppen stoßen wird, sondern auch vor dem Tribunal von Rating-Agenturen steht (siehe auch hier die Entwicklung in Frankreich), die allein schon mit der Androhung einer Abstufung der Bonitätsbewertung für die BRD jede linke Reformpolitik zu Fall bringen können«. Welche Aufgaben hat eine Linkspartei, wenn sie linke Reformpolitik gegen parteiinterne Widerstände in den sozialdemokratisch/sozialistischen Regierungsparteien und gegen die bestehenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf den Weg bringen will?
Der sozialdemokratische Abwärtstrend
Nicht übersehen werden darf die Entwicklung der politischen Linken und der Sozialdemokratie bzw. Sozialistischen Parteien außerhalb Deutschlands, nicht nur in den Krisenregionen des Südens. Die SPD erzielte 2013 bei der Bundestagswahl ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik, die britische Labour-Party 2010 das zweitschlechteste Ergebnis der letzten 70 Jahre. Und selbst in Schweden, Musterland der Linken, kamen die Sozialisten zuletzt auf eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer Parteigeschichte. Der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie ist als Trend unbestreitbar. Von dem Verlust an gesellschaftlicher Akzeptanz des gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Milieus erwächst keine Stärkung einer Linken jenseits der Trümmer der überlieferten Parteien der Arbeit.
In Frankreich profitieren von der rapide sinkenden Popularität der sozialistischen Regierung von Präsident Hollande die Konservativen (UMP) und der rechtsextreme Front National (FN). Die Sozialdemokraten sind bei den Kommunalwahlen landesweit mit 37,7% hinter die Konservativen (46,5%) zurückgefallen. Die Ergebnisse des Front National haben sich gegenüber den letzten Kommunalwahlen 2008 verfünffacht. Die linke Linke ist in Frankreich ebenso zerstritten wie in Italien. Die Sozialisten der Parti de Gauche um Jean-Luc Mélenchon und die Kommunisten (PCF) erzielten in Amiens, wo um die Schließung der Goodyear-Reifenwerke erbitterte Arbeitskämpfe geführt wurden, enttäuschende Ergebnisse (UMP 46%, PS/PCF 24,5%, FN 15%, Front de Gauche 9%).
Allerdings gibt es auch eine Ausnahme: In Griechenland führt das Linksbündnis SYRIZA die Umfragen als stärkste Partei an. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Public Issue vom Januar 2014 käme das Bündnis auf 31,5% der Wählerstimmen. Es folgt die konservative ND mit 28%. Dritte Partei ist nach wie vor die faschistische Chryssi Avgi (10%). Die sozialdemokratische PASOK ist auf 6,5% abgestürzt und gleichauf mit der kommunistischen KKE. Bei der Frage, wer die beste Arbeit als Oppositionspartei leistet, liegt SYRIZA mit 27% an der Spitze.
Es gibt viele länderspezifische Gründe für den Abwärtstrend der Sozialdemokratie, aber in einem Punkt hat sich die europäische Sozialdemokratie den Vorstellungen der deutschen Brüder und Schwestern angeschlossen: Das angestrebte nachhaltige Wohlstandsmodell entsteht in der Fortführung von Deregulierung und Flexibilisierung. Es gelte, die durch die Staatsinterventionen (Umschuldung, Bankenrettung) gewonnene Zeit zu nutzen und die angestiegene öffentliche Schuldenlast zurückzuführen, auch um den Preis, dass sich die soziale Spaltung in der Gesellschaft vertieft.
Der Abwärtstrend der Sozialdemokratie hat sich seit über einem Jahrzehnt in kleineren Schwankungen kontinuierlich fortgesetzt. Zum einen sind Sozialdemokraten sowohl in der Regierung als auch in der Opposition kräftig abgestraft worden, und das, obwohl der neoliberale Glaube an das Laisser-faire als Richtlinie für die Organisation der Märkte zusammengebrochen war. Zum anderen – und das ist noch wichtiger: Der Niedergang kommt nicht aus heiterem Himmel. Seit Jahren gelingt es keiner sozialdemokratischen Partei mehr, überzeugend Wahlen zu gewinnen. Dass Europas Mitte-Links-Parteien tief in der Krise stecken, ist also nicht zu leugnen. Jedoch wird über die Gründe, die Reichweite und die Ernsthaftigkeit dieser ideologischen Krise viel zu wenig debattiert. Fest steht jedoch: Das linke Spektrum jenseits der Sozialdemokratie profitiert nicht vom Niedergang der großen Reformpartei.
Modell Deutschland?
Deutschland hat die Große Krise seit 2007 gerade im Unterschied zu den andern westeuropäischen Metropolen Frankreich und Italien und erst recht zu den südeuropäischen Ländern ohne größere ökonomische Verwerfungen oder gar Einbrüche bewältigt. Das Land wirkt wie eine Insel in einem Meer von Unsicherheit und ökonomischen Verwerfungen. Deutschland war mit der Agenda-Politik Vorreiter auf dem Weg zur »Stabilitätsinsel« und hat in kurzer Zeit seinen Arbeitsmarkt und das Normalarbeitsverhältnis dereguliert, seinen Niedriglohnsektor expandiert, fiskalische Austerität festgeschrieben und damit seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber seinen europäischen Nachbarn und Handelspartnern gestärkt.
Es ist politisch ehrlich, wenn die Sozialdemokratie ihr aktuelles Regierungsprojekt in die zeithistorische Verlängerung der Agenda 2010 einordnet. Durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme (vor allem Alterssicherung und Gesundheit) sowie die Entfesselung des Kapitalmarktes und des Finanzsektors konnte die Deutschland AG mit ihren Regularien der organisierten Lohnarbeit und korporatistisch geprägten Machtverhältnissen für den Turbokapitalismus geöffnet werden. Es ist damit auch dokumentiert, dass das sozialdemokratische »Flüstern« von einer erneuten, zweiten Bändigung des entfesselten Kapitalismus bloßes Sonntagsgerede ist. Eine wirksame arbeits- und sozialpolitische Korrektur der Agenda 2010 war nicht das Projekt der oppositionellen Sozialdemokratie.
Nicht etwa die Einkommens- und Vermögensunterschiede sowie die Finanzialisierung der Akkumulation werden für die Widersprüche des Raubtierkapitalismus verantwortlich gemacht, sondern die Fehlentwicklung der öffentlichen Finanzen. Fakt ist: Selbst bei optimaler Umsetzung des Regierungsprogramms der Großen Koalition wird für die kleinen Leute wenig rüberkommen.
Viele der »kleinen Leute« haben sich bei den zurückliegenden Wahlen von der SPD abgewandt, von der Politik überhaupt. Die »Verlierer« fühlen sich nicht mehr vertreten – und sie werden auch nicht vertreten. 17,6 Millionen Deutsche schlugen ihr Wahlrecht aus. Diese neue soziale Spaltung der Demokratie belegt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: Untersucht wird zum einen das Wahlverhalten in 28 deutschen Großstädten und zum anderen eine genaue Betrachtung der Abstimmung in 640 Stimmbezirken, die repräsentativ sind und auch für die Prognosen am Wahltag genutzt wurden. Es wurden faktisch die Nichtwähler genauer betrachtet. Ergebnis: Je prekärer die soziale Situation in einem Stadtviertel, desto niedriger die Wahlbeteiligung. Und je niedriger der Status, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wähler zu Hause bleibt. Die Autoren der Studie sprechen von einer »sozial prekären« Wahl.
Gleichwohl läuft das politische Geschäft oberflächlich wie gehabt. Mit reichlich Klientelismus, etlichen Haushaltstricks, Umverteilung und Symbolaktionen ist eine Regierungsmehrheit zusammengebastelt worden, die selbst im eigenen Lager keinen Enthusiasmus, keine Aufbruchstimmung zu erzeugen vermag. Dabei steht nicht nur die Bewältigung einer ökonomischen Jahrhundertkrise an. Denn über die Parteien selbst ist ein politischer Tsunami hinweggegangen: Die neue Bundesregierung repräsentiert nur noch ein Drittel der Wahlbevölkerung. Die beiden großen Parteien, die die politische Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland bestimmt haben, bringen es heute nicht einmal annäherungsweise zu einer einfachen Mehrheit.
Ein Blick zurück nach vorn …
Allerdings ist die Zurückdrängung oder gar Überwindung des neoliberal umgebauten Kapitalismus ohne ein breites gesellschaftlich-politisches Bündnis – unter Beteiligung der europäischen Sozialdemokratie – nicht zu haben. Aber tief im kollektiven Gedächtnis sitzt auch die Erinnerung an das europaweite Scheitern vermeintlich »dritter Wege«. Blair, Schröder, Zapatero, Papandreou, Socrates, aber auch Jospin, D'Alema und Bersani akzeptierten und beförderten den Übergang zum finanzgetriebenen Kapitalismus. Hat die Sozialdemokratie eingesehen, dass sie eine Mitverantwortung an der Entfesselung des Kapitalismus trägt? Die Zweifel an einer selbstkritischen Korrektur der europäischen Sozialdemokratie sitzen tief. Denn: 1973 begann die Welt der alten Sozialdemokratie unterzugehen. Es versiegte der Nachkriegsboom mit seinen historisch einzigartigen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Und diese Tendenz hält bis heute an.
Die Differenz liegt mithin auf dem Terrain der Gestaltung von Kapitalakkumulation und der gesellschaftlichen Ökonomie. Die herkömmliche Sozialdemokratie stemmt sich gegen Maßnahmen der »aktiven Wohlfahrt«, weil sie durch die Absenkung eine weitere Destabilisierung der Kapitalakkumulation und keine Freisetzung von Kreativität und Initiative erwarten. Die Leistungen des Sozialsektors haben in der Tat einen komplementären Charakter: Sie sind zunächst vom kapitalistischen Reproduktionssektor abhängig, weil sie durch Abzüge vom Arbeitseinkommen und Beiträge seitens der Unternehmen finanziert werden; sie tragen andererseits zur konjunkturellen Stabilität und Verstetigung der Kapitalakkumulation bei.
Das Scheitern der »Neuen Mitte«
Auf die spannende Frage, wie denn die Akkumulations- und Wachstumsschwäche des entwickelten Kapitalismus überwunden werden kann, verkünden die Vertreter der alten Sozialdemokratie die bekannte Botschaft einer neokeynesiansichen Regulierung (Ausweitung der Masseneinkommen, öffentliche Investitionen, Ausbau human-kultureller Dienstleistungen). Unbeantwortet bleibt, wie eine solche Konzeption in der Sozialdemokratie und letztlich auch in der aktiven Wahlbevölkerung mehrheitsfähig werden kann.
Eine Einbeziehung der Kapital- und Vermögenseinkommen wird von den Modernisierern der Sozialdemokratie als politisch nicht durchsetzbar und ökonomisch kontraproduktiv abgelehnt. Gleichermaßen lehnen sie eine Demokratisierung der Unternehmensverfassungen, wie den Ausbau eines Sektors zwischen Kapitalverwertung und Staat (Dritter Sektor, Nonprofit- Organisationen), ab. Die Logik jedoch, durch Reduktion von Sozialleistungen und Sozialabgaben eine Revitalisierung der Kapitalakkumulation erzwingen zu wollen, muss scheitern.
Die Politiker der »neuen Mitte« haben damals akzeptiert, dass aktive Wohlfahrt nicht nur mehr soziale Ungleichheit bedeutet, sondern – entgegen der eigenen Programmatik – die Vertiefung sozialer Spaltung und Ausweitung von Ausgrenzung hingenommen. Ein Durchbruch zu höheren Akkumulationsraten war mit der Einschränkung des sozialen Ausgleichs gleichfalls nicht verbunden. Sicherlich gab es auch weiterhin soziale Ausgleichsmaßnahmen, aber die Auffächerung der Gesellschaft war programmiert. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist die soziale Zerklüftung der europäischen Gesellschaften bei anhaltender Wachstumsschwäche Realität geworden. Heute stellt sich also die Frage: Kann diese Entwicklung unter Beteiligung der Sozialdemokratie rückgängig gemacht werden?
Linke Alternative stärken – aber wie?
Die vereinigte Linke war 2005 mit dem den Anspruch angetreten, den BürgerInnen jenseits des neoliberalen Einheitsbreis eine sozial-ökologische und friedenspolitische Alternative anzubieten. Von diesen Ansprüchen, mit der DIE LINKE sich in den nachfolgenden Jahren in sieben westdeutsche Parlamente hinein gekämpft hat, ist wenig übrig geblieben. DIE LINKE ist dabei, parlamentarisch die Erweiterung in die alten Bundesländer zu verlieren. Dieser Abwärtstrend setzte mit den Bundestagswahlen 2009 ein. Auch die Mitgliederverluste der Vergangenheit sprechen eine eindeutige Sprache.
Wie kann DIE LINKE ihre systemkritische Sicht auf die anhaltende Große Krise des Kapitalismus in einen größeren politischen Einfluss umsetzen? Die erste Voraussetzung dafür ist, dass die anstehenden Herausforderungen sowohl in der Gesellschaft wie im Bundestag aufgegriffen und dafür – auch in Kontroversen – Antworten entwickelt werden.
Dabei geht es u.a. um Alternativen zum europäischen Fiskalpakt, der den Staaten Europas unter Führung der schwarz-gelben Bundesregierung die »griechische Rosskur« verschreibt, und eine massive Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltung (prekäre Beschäftigung, Armut und Einkommenspolarisierung) billigend in Kauf nimmt Wir brauchen ein breites Bündnis gesellschaftlicher Kräfte für einen Politikwechsel. SPD und Grüne fordern für ihre Zustimmung Wachstumsprogramme und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Beide betonen, mit einem Fiskalpakt allein komme Europa nicht aus der Krise. Aber die konkreten Schritte bleiben offen und das Ziel einer solchen »Ergänzung« unbestimmt. Hier hat die politische Linke jenseits der europäischen Sozialdemokratie ein klares Aktionsfeld, das sie allerdings mit mehr als bloßem »Post-Wachstum« oder »No-Growth« bespielen müsste.
Die Formierung der Linkspartei erfolgte vor dem Hintergrund einer beispiellosen Neujustierung aller sozialen Sicherungssysteme und einer durch die rot-grüne Regierungspolitik tief verunsicherten sozialdemokratischen Partei. Dies ist heute anders. Die Sozialdemokratie hat in der Opposition politisches Terrain und damit auch Teile der früher kritischen BürgerInnen zurückerobert. Mindestlohn und Kampf gegen Altersarmut sind keine allein bei der Linkspartei angebundenen Mobilisierungsthemen mehr. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht, dem angekündigten Abzug von NATO und Bundeswehr aus Afghanistan sowie dem Ausstieg aus der Kernenergie sind auch in anderen lange Zeit strittigen Bereichen erhebliche politische Änderungen eingeleitet worden.
Veränderte Rahmenbedingungen aufgreifen
Für DIE LINKE kann das nur heißen: Wir müssen diese Veränderungen aufgreifen. Da der Sozialdemokratie europaweit strategische Konzepte zu einem Ausweg aus der Großen Krise fehlen, sollte die Linkspartei dieses Strukturdefizit in den Mittelpunkt der Politik rücken. Positiv geht es um ein Europa, das Prekarisierung, Armut und soziale Spaltungen überwindet, neue gesellschaftliche Entwicklungshorizonte eröffnet und neue politische Handlungsfelder erschließt.
Die Alternative zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist also nicht einfach nur die Verstaatlichung etwa des Banken- oder Finanzsystems, sondern unterstellt einen weitreichenden Prozess gesellschaftlicher Reformen. Die Linke muss dieses thematisieren und zugleich Vorschläge zur Lösung der angesprochenen Probleme und zur Reorganisation sozialer Sicherheit sowie eines Übergangs zur Überflussgesellschaft entwickeln. Dies kann dazu beitragen, die Grünen und die Sozialdemokratie zu stellen, der Forderung nach einem Politikwechsel eine Kontur zu geben und den BürgerInnen die Notwendigkeit eines Korrektivs von Seiten der Partei DIE LINKE plausibel zu machen.
»Viele Wähler immunisieren sich gegen die Krisengefahr, indem sie sich mehr und mehr in ihren Alltag zurückziehen, ihre privaten Interessen pflegen und sich von der undurchschaubar gewordenen Welt der Politik abkapseln«, so die Diagnose der Studie des rheingold instituts kurz vor der Bundestagswahl 2013. Dies impliziert im Übrigen auch: Sie erwarten von Parteien und ihren Abgeordneten eine professionelle Herangehensweise und Arbeit, weil neben dem stressigen Alltag auch die Zivilgesellschaft einen hohen zeitlichen Tribut von vielen BürgerInnen abfordert, so dass für ein politisches Engagement höhere Hürden aufzulösen sind.
Um einen Politikwechsel in der Gegenwart und für die Zukunft glaubwürdig vertreten zu können, muss eine moderne sozialistische Partei – zumal in Deutschland – die Niederlagen im 20. Jahrhundert und insbesondere den gescheiterten Sozialismus-Versuch als politisches Erbe annehmen und im kollektiven Gedächtnis wach halten. Die Parteimitglieder müssen die zentralen Konstruktionsfehler des staatssozialistischen Entwicklungsweges im 20. Jahrhundert verstehen und deuten können, um eine seriöse und verantwortliche Diskussion um einen Sozialismus im 21. Jahrhundert führen zu können. Ohne eine derart selbstkritische Haltung wäre ein Plädoyer für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung nicht überzeugend und das Ausblenden der »kommunistischen Hypothek« würde den aktuellen Kampf um andere Hegemoniekonstellationen immer wieder gefährden oder gar konterkarieren.
Heute führt das europäische Projekt einer krisengeschüttelten und tief sozial gespaltenen Währungsunion – wenn sie nicht durch das Projekt einer demokratisch legitimierten Wirtschaftsregierung, geschweige denn das einer Sozialunion ergänzt wird – zu einer fortschreitenden Zerstörung und in Südeuropa direkt zur Aushöhlung von nationalstaatlich schon einmal erreichten Befestigungen demokratischer und sozialer Bürgerrechte. Soziale Sicherheit und Teilhabe aller sind Voraussetzungen ihrer aktiven politischen Beteiligung. Sie werden faktisch mehr und mehr ausgesetzt. Schon einmal erkämpfte Formen sozialen Ausgleichs werden beiseite geräumt. Eine tiefe Krise der sozialen Bürgerschaft und eine Schwächung der parlamentarischen Demokratie sind die Folge. Aus dieser Einschätzung ergeben sich zwei zentrale Probleme auch für die deutsche LINKE.
Erstens: Ökonomisch produziert der Finanzmarktkapitalismus – erst recht bei seiner Krisenbewältigung durch Austerität – systembedingt Prekarität und damit vielfältige Formen sozialer Exklusion, die nur noch wenig mit früheren Formen konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit oder »industrieller Reservearmee« zu tun haben. Dies wiederum belastet dauerhaft durch Abgaben und Umverteilung die ebenfalls unter Druck geratenen Einkommens- und Vermögenspositionen der gesellschaftlichen »Mitte«, um deren Stabilisierung als bevorzugtes Wählerklientel sich derzeit sowohl SPD wie Grüne vorrangig bemühen. Dies wirft ein krasses Licht auf das zweite Problem.
Zweitens: Die ökonomisch bedingte Exklusion produziert eine Erosion politischer Willensbildung und Repräsentation und führt trotz gelegentlicher Schwankungen zu einem hohen und sozial verfestigten Nichtwählerniveau gerade bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen, vornehmlich in sozial gespaltenen Wohngebieten. Die Wahlbeteiligung im September 2013 betrug 70%. Bei den prekären Bevölkerungsschichten – hohe Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen, hoher Anteil von Sozialtransfers, Bildungsferne u.a. – war sie extrem niedrig: »Hinter der zunehmenden Ungleichheit der Wahlbeteiligung verbirgt sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft. Deutschland ist längst zu einer sozial gespaltenen Demokratie der oberen zwei Drittel unserer Gesellschaft geworden.« (Armin Schäfer/Robert Vehrkamp/Jérémie Felix Gagné: Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2013)
Beide Aspekte erhielten in dem Strategiepapier der beiden LINKEN-Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger »Verankern, verbreiten, verbinden« vom November 2013 nicht die unserer Auffassung nach erforderliche Aufmerksamkeit. Unter Berücksichtigung der genannten Probleme ist ihnen aber zuzustimmen, wenn sie schreiben: »Die Verweigerung von SPD und Grünen gegen einen tatsächlichen Politikwechsel war auch möglich, weil es keinen gesellschaftlichen Druck gab, der eine Zusammenarbeit mit der LINKEN hätte erzwingen können. Aus dieser Konstellation ergeben sich für die nächsten Jahre verschiedene Aufgaben, um die strategische Sackgasse aufzulösen und die Möglichkeiten für linke, gegenhegemoniale Politik zu verbessern: vor allem die Formierung eines gesellschaftlichen gegenhegemonialen Projekts oder Blocks; die Notwendigkeit, an einer Plattform zu arbeiten, die Druck für einen Politikwechsel entfalten kann, so dass parlamentarische Spielräume genutzt werden (müssen).«
Oder um die Schlussbemerkung der Redaktion des »prager frühling« aufzugreifen: Wenn schon (konkrete) Utopie, dann muss sie aber auch genügend konkret werden, um die benannten Probleme bei der Ausarbeitung einer gesellschaftlichen Alternative und der (Wieder)Gewinnung der Ausgegrenzten anzugehen.
[1] Vgl. dazu:http://www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden/
[2] https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1121.protest-ist-kein-taschenmesser.html