Mut zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung
Fünf Jahre nach Ausbruch der Euro-Krise sind die Probleme der Währungsunion immer noch nicht überwunden: Zwar sind massenhaft Reformen umgesetzt worden, von schärferen Regeln zur Defizitbegrenzung bis hin zur Einführung der europäischen Bankenunion. Doch die Wirtschaft in weiten Teilen des Kontinents stagniert weiter mit Rekordarbeitslosigkeit. Italien steht weiter am Rande einer Bankenkrise.
Experten sind sich weitgehend einig, dass die Euro-Zone eine weitere Zentralisierung bestimmter Bereiche der Wirtschaftspolitik braucht. Ein Punkt wird dabei immer wieder genannt: Die so genannte „Fiskalkapazität“. Fachleute verstehen unter dem Begriff Instrumente, mit denen die EU über Transfers und Staatsausgaben den Konjunkturzyklus in den Mitgliedsländern stabilisieren kann. Idealerweise würden Länder mit einer boomenden Wirtschaft mehr in dieses System einzahlen und das Geld würde in Ländern mit kriselnder Wirtschaft ausgegeben, um dort das Wachstum zu stützen.
Einer der Vorschläge für eine solche Fiskalkapazität ist die „europäische Arbeitslosenversicherung“. Bei dieser Idee würde eine europäische Basis-Absicherung eingeführt, die im Falle von Arbeitslosigkeit den betroffenen für einen bestimmten Zeitraum (etwa 12 Monate) einen Teil des verlorenen Gehalts (etwa 50 Prozent) erstattet. Voraussetzung für die Leistungen wäre wie in der deutschen Arbeitslosenversicherung eine bestimmte Beitragszeit vor der Arbeitslosigkeit (möglicherweise 24 Monate). Finanziert würde eine solche Versicherung – wie schon heute die nationalen Versicherungen in den meisten Euro-Staaten – durch Beiträge, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen werden.
Da die Arbeitslosigkeit üblicherweise in der Krise steigt und im Boom sinkt, würden per Saldo Mittel aus dem System in Länder mit kriselnder Wirtschaft fließen und aus Ländern im Boom abgezogen. Dies würde die Konjunkturzyklen stabilisieren und angleichen.
Die Konzepte zur europäischen Arbeitslosigkeit sehen vor, dass die Basisabsicherung von Nationalstaaten weiter aufgestockt werden kann. Es wäre also problemlos möglich, dass Länder mit dem Wunsch nach einer besseren Absicherung diese über nationale Mittel umsetzen. Tatsächlich gehen die Vorschläge davon aus, dass die Nationalstaaten auf eine Einführung einer Basisabsicherung genau in diesem Sinne reagieren würden: Sie würden über das nationale System das bisherige Absicherungsniveau aufrechterhalten, während das europäische System die Kosten für die Basisabsicherung übernehmen würde. Aus Sicht den bisher über nationale Systeme abgesicherte ArbeitnehmerInnen würde sich so nichts an der Absicherung ändern.
In den vergangenen Jahren hat die Idee der europäischen Arbeitslosenversicherung zunehmend an Zuspruch gewonnen. In den letzten zwei Jahren hat es im Brüsseler Umfeld eine Reihe von Konferenzen und Tagungen zu dem Thema gegeben. Gerade vor der Sommerpause hat ein Konsortium unter Leitung des Brüsseler Think Tanks CEPS eine großangelegte Studie zur Machbarkeit der europäischen Arbeitslosenversicherung im Auftrag der EU Kommission vorgelegt. Der Konsens ist zunehmend, dass eine solche Versicherung sinnvoll und umsetzbar wäre.
Allerdings sind auch die Vorbehalte gegen eine solche Versicherung noch groß. Während konservative Ökonomen ebenso wie das deutsche Finanzministerium sich oft aus ideologischen Gründen grundsätzlich gegen europäische Transfers stemmen oder befürchten, eine europäische Arbeitslosenversicherung würde Ländern den Anreiz zu Reformen nehmen, sind die Befürchtungen auf der Linken vor allem, dass eine Europäisierung auch nur eines Teils der Arbeitslosenversicherung zum Sozialabbau genutzt wird. Drei Argumente werden dabei zumeist vorgebracht: Erstens wird befürchtet, dass die Einführung einer europäischen Basisabsicherung für Arbeitslose zu einem Wettlauf nach unten führt und sich alle Systeme auf diesem Mindestniveau angleichen. Zweitens wird moniert, dass – anders als in nationalen Systemen – beim europäischen System die Sozialpartner kein Mitspracherecht mehr hätten. Und drittens wird angemerkt, dass die Konjunkturstabilisierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, die man nicht mit den Geldern der ArbeitnehmerInnen finanzieren dürfe.
Bei genauerer Betrachtung sind allerdings diese drei Argumente wenig überzeugend.
Es gibt keinen ökonomischen Grund, warum die Einführung einer europäischen Mindestabsicherung zu einem Wettlauf nach unten führen sollte. Es gibt auch keinen Grund, warum Länder, die heute ein höheres Absicherungsniveau garantieren, nach Übernahme eines Teils der Kosten durch die EU plötzlich ein niedrigeres Absicherungsniveau anstreben sollten. Im Gegenteil: Eine europäische Basisabsicherung verhindert sogar, dass Länder mit Finanzproblemen die nationale Absicherung unter das Basisniveau senken.
Auch hat es einen Abwärtstrend nicht in anderen Bereichen gegeben, in denen die EU soziale Mindeststandards eingezogen hat. So verabschiedete die EU 1993 die Arbeitszeitrichtlinie, die die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden begrenzte und eine Mindestzahl von Urlaubstagen (vier Wochen) einführte. Nach der Logik des Wettbewerbs nach unten hätte man danach erwarten müssen, dass die gesetzliche Arbeitszeit in den europäischen Ländern mit vormals sozialeren Arbeitszeiten Richtung 48 Stunden verlängert wird. Dies ist nicht geschehen – im Gegenteil. Die durchschnittliche Arbeitszeit in den EU-Staaten sank – auch von schon niedrigerem Niveau - weiter und die Franzosen führten sogar 2000 die 35-Stunden-Woche ein. Die Zahl der Urlaubstage stieg auch in den Ländern, in denen ein Jahresurlaub von mehr als vier Wochen üblich war.
Auch das Argument der fehlenden Mitbestimmung der Sozialpartner ist wenig überzeugend. Einer Mitbestimmung auf europäischer Ebene steht nichts im Wege, sie müsste einfach nur beim Design der europäischen Arbeitslosenversicherung mit verabschiedet werden. Tatsächlich könnte durch eine solche konkrete Mitbestimmungsaufgabe sogar die europäische Gewerkschaftsbewegung gestärkt werden.
Und das Ausnutzen von Sozialversicherungsausgaben zur Konjunkturstabilisierung hat lange Tradition. In allen europäischen Nationalstaaten leistet die Arbeitslosenversicherung bereits heute eine solche Art der Stabilisierung. Über die Umverteilung von der arbeitenden Bevölkerung und den Unternehmen hin zu den Arbeitslosen wird der gesamtwirtschaftliche Konsum stabilisiert.
Daran ist auch absolut nichts Verwerfliches: Das Nutzen von Geldern der Sozialversicherungen in einer Art und Weise, die nebenbei noch die Konjunktur stabilisiert, begrenzt ja in keiner Weise den sozialen Nutzen dieser Ausgabe. Wie die Kraft-Wärme-Kopplung bei der Energieerzeugung wird hier einzig ein Zusatznutzen generiert, der sonst verloren gegangen wäre.
Angesichts der Komplexität der Arbeitsmarktgesetzgebung in den einzelnen Mitgliedsstaaten ist eine europäische Arbeitslosenversicherung sicher kein einfaches Projekt. Sie ist auch sicher kein Allheilmittel für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Europa. Viel deutet aber darauf hin, dass sie ein sinnvolles Element für eine besser funktionierende Währungsunion sein kann. Progressive PolitikerInnen sollten sie deshalb besser nicht mit halbseidenen Argumenten abkanzeln.
Sebastian Dullien ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations.
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